„Endlich Zeit für mich?“ – Quarantäne-Talk mit den Denker*innen Maya Pasdika und Sina Aaron Moslehi

Fast alle sind zuhause. Verbringen Zeit mit sich. Ich fühle mich, als wäre ich auf einem Spielabend, bei dem ich nicht aufgepasst habe, als die Regeln erklärt wurden. Auf einmal sind alle still, schauen in ihre Spielkarten und man selber ist Teil dieser Stille. Im selben Moment ist man aber dermaßen unruhig, weil man weiß, dass man, wenn diese Stille gleich vorbei sein wird, total aufgeschmissen sein wird – weil man das Spiel nicht versteht. Einfach mitmachen. Aber wie?

Gerade in jugendkulturellen Debatten werden in diesen Tagen Diskussionen laut, die das „gezeigte Produktive“ als Anmaßung und neoliberale Effekthascherei sehen. Andere sehen darin einen Beitrag zur Ermunterung ihrer Mitmenschen. Doch wirkt es schnell einmal verwirrend, wenn alles „ungefähr“ abzulaufen hat und sich grundlegende Tagesstrukturen neu zu erfinden haben. Dabei frage ich mich, wie junge Zeitchronist*innen gerade aktiv sind. Auf der einen Seite liefert das Umfeld  viel Stoff zur Analyse, gleichzeitig fällt der Austausch darüber momentan schwer.

Sina Aaron Moslehi (*1995) bekam mit 16 Jahren den Bertini Filmpreis für seinen Dokumentarfilm Zum Andenken, der über die Euthanasie in der NS-Zeit berichtet. Inzwischen ist der Jurist Chefredakteur der HAMBURGER RECHTSNOTIZEN und dreht weiter Dokumentarfilme.

Wenn Maya Pasdika (*1998), Philosophin aus Berlin, dauerhaft ausharrt, dann meistens als Protest, wie etwa bei Sitzblockaden im Hambacher Forst. Zeitgleich erfordert ihr Studium und ihre damit verbundene Arbeit ein hohes Maß an Introspektion.

Mich interessiert: Wie finden Menschen, die sich Beharrlichkeit und ja, auch Ungemütlichkeit als konstruktives Lebensmodell zur Aufgabe gemacht haben, Zeit allein? Und wie wird diese von ihnen empfunden? Wie gut es ist, mit beiden sprechen zu können.

Das „Zeit für sich nehmen“ wird im psychologischen Kontext immer bekannter. Der Begriff „Selbstfürsorge“ erlebt seit den letzten Jahren Konjunktur. Wie geht ihr damit um, wenn äußere Umstände, wie zum Beispiel die derzeitigen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, euch dazu bringen, so eine Pause zu vollziehen?

Sina: Ich habe alles, was ich erledigen muss, in das Home-Office verlegt. Ich habe also genug zu tun. Zwischendurch würde ich mir wünschen, den Spagat zwischen Arbeit und Freizeit – oder der Selbstfürsorge, die du ansprichst – besser hinzubekommen. Ich muss aber zugeben, dass die Pflicht, die ich erledige, sich ja auch gut anfühlt und ich dadurch etwas für mein Wohlbefinden tue.

Gerade in einer Metropole wie Berlin merke ich, wie sich die Langsamkeit, die gerade eintritt, weil alles irgendwie stillsteht, sich auch auf mein Inneres überträgt. Der Geist wird ruhiger.

Maya: Wenn wir der derzeitigen Corona-Krise irgendetwas Positives abgewinnen wollen, dann ist es glaube ich der Zustand des Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-werdens. Wir werden regelrecht dazu gezwungen, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Gerade in einer Metropole wie Berlin merke ich, wie sich die Langsamkeit, die gerade eintritt, weil alles irgendwie stillsteht, sich auch auf mein Inneres überträgt. Der Geist wird ruhiger. Anstatt auf die digitale Bespaßungsindustrie wie Netflix oder soziale Netzwerke auszuweichen, finde ich es wichtig, die Zeit zu nutzen, experimentell zu denken und neue Hobbys auszuprobieren. Häufig braucht der Verstand Langeweile, um seine schöpferische Kreativität zu entfalten.

Wie geht ihr mit eurem eigenen Selbstbild hinsichtlich Produktivität um? 

Maya: Ich merke immer stärker, dass ich gerade und vor allem früher mein Selbstbild an meiner Produktivität im Sinne des Effizienzdenkens gemessen habe. Produktivität habe ich dabei nahezu ausschließlich an materialisierten Leistungen und Errungenschaften festgemacht. Jetzt, wo ich immer stärker merke, wie stark ich in diesen sozialisierten Paradigmen denke, versuche ich bewusst, aus ihnen auszubrechen. Mittlerweile kann ich in geistiger Kontemplation und purer Freude am Ist-Zustand den wahren „Mehrwert“ erkennen.

Sina: Ich lege sehr viel Wert darauf, produktiv zu sein und störe mich daran, wenn es mir mal nicht gelingt.

Ist es an euer Wohlbefinden bzw. euren Selbstwert gekoppelt?

Sina: Das würde ich bejahen. Ich rufe mir aber immer wieder vor Augen, dass Produktivität nicht alles ist – und eine Selbstoptimierung, die zum Wahn wird, auf Dauer nicht gesund sein kann. Ein schmaler Grat, finde ich.

Maya: Es passiert mir immer noch häufig, dass ich mich schlecht fühle und abwerte, wenn ich meine Zeit nicht mit etwas vermeintlich Sinnvollen verbringe. Wenn ich mich bei diesen Gedanken ertappe, steuere ich aktiv dagegen, indem ich mir bewusst mache, dass ich ein vollkommen verschrobenes Bild von „dem Sinnvollen“ habe.

Wieviel Zeit verbringt ihr sonst mit euch selbst? 

Maya: Ich weiß von mir, dass ich sehr introvertiert sowie sehr extrovertiert sein kann. Ich bin sozialkommunikativ, aber mache mich nicht von Kontakten nach außen abhängig, sodass ich häufig auch außerordentlich viel Zeit einfach mit mir selbst verbringe und mich manchmal eher bewusst dazu bringen muss, wichtige Kontakte zu pflegen.

Sina: Ich erledige Dinge oft alleine. Aber ob ich währenddessen wirklich Zeit mit mir selbst verbringe, ob ich mit den Gedanken ganz bei mir selbst bin? Das würde ich zumindest infrage stellen.

Seid ihr euch, wenn ihr Zeit mit euch verbringt, dessen bewusst, dass es gerade nur „Du und Du“ heißt?

Maya: Ja und das genieße ich sehr. Es bedeutet, achtsam mit sich zu sein, sich selbst besser kennen zu lernen und hat nichts mit dem Self-Care-Hype zu tun, der häufig selbstdarstellerisches Getue ist.

Ich erledige Dinge oft alleine. Aber ob ich währenddessen wirklich Zeit mit mir selbst verbringe, ob ich mit den Gedanken ganz bei mir selbst bin? Das würde ich zumindest infrage stellen.

Sina: Oftmals ja, sicherlich nicht immer. Manchmal laufe ich irgendwo die Straße entlang oder setze mich in ein Café und bin glücklich, dass ich ungestört bin.

Wie weit könnt ihr es mit euch selber aushalten ?

Sina: Sehr gut. Ich weiß aber auch, dass ich das wohl nur deshalb so empfinde, weil ich Familie und Freund*innen habe, von denen ich weiß, dass sie für mich da sind und dass ich mich fast jederzeit mit ihnen umgeben kann. Wenn man einsam ist und sich Gesellschaft wünscht, wird man das Alleinsein sicher nicht als Privileg begreifen. Sich gewissermaßen darüber freuen zu können, dass man Zeit für sich selbst hat, dass man ohne Begleitung durch die Gegend schlendern, schweigen und in Ruhe nachdenken kann – das sind keine Selbstverständlichkeiten.

Maya: Ich verbringe häufig so viel Zeit einfach mit mir selbst und muss mich manchmal eher bewusst dazu bringen, wichtige Kontakte zu pflegen.

Lebt ihr nach einer Struktur, die ihr auch als solche plant? Wie kriegt ihr das hin?

Maya: So was wie ein Morgenritual habe ich durchaus, wenn ich zuhause bin, bei dem ich mich auf kontemplative und kulinarische Art auf den Tag einstelle. Und ich merke auch, dass mir das auf gewisse Weise fehlt, wenn ich unterwegs bin. Dafür genieße ich dann aber eben andere Sachen. Ansonsten achte ich darauf, dass ich meinen Tag bewusst spontan gestalte, damit ich mich nicht auf einen Rhythmus fixiere, der das Ideal darstellt und von dem abzurücken Negativität/Bedenken bedeuten würde.

Sina: Ich versuche, soweit es geht, mir einen Überblick darüber zu verschaffen, was erledigt werden muss – und auch, was eilig und weniger eilig ist. Ich würde meine Aufgaben aber gerne etwas mehr nach Zeitplan erledigen. Gleichzeitig frage ich mich dann aber auch, ob ich vielleicht zu streng mit mir selbst bin und ob das zu dem Optimierungswahn gehört, den ich vorhin ansprach.

Wie geht ihr mit Ablenkung um? Lenkt ihr euch ab?

Maya: Für mich bedeutet sich ablenken zu lassen, von etwas das man eigentlich machen, tun oder denken möchte, abzurücken. Ich weiß, dass ich dazu tendiere und versuche dies aber tunlichst zu vermeiden, indem ich mir in jedem Moment des inneren Zwiespalts folgende Fragen stelle: Wer möchte ich in diesem Augenblick sein? Wie möchte ich mich verhalten? Worauf möchte ich mich konzentrieren?

Sina: Wenn ich an etwas arbeite, versuche ich, mich ganz darauf zu konzentrieren. Gelingt mir das, freue ich mich natürlich darüber, weil ich merke, dass ich vorankomme. Wenn ich aber partout nicht konzentriert arbeiten kann, mache ich erst mal eine Pause und beobachte, ob es danach besser funktioniert.

In welchen Situationen, vor allem mit euch selbst, braucht ihr Ablenkung? 

Sina: Dann, wenn ich zu viel nachdenke, etwas „zerdenke“.

Ich kann nicht vollständig im Jetzt sein, wenn mich im Hinterkopf Dinge beschäftigen. Also dränge ich mich dazu, diese Situationen entweder vollkommen zu akzeptieren oder zu verändern.

Maya: Immer dann, wenn ich weiß, dass ich dieses oder jenes tun muss, versuche ich meist zuerst, das selbst manipulativ zu umgehen. Ich merke allerdings schnell, dass ich nicht vollständig im Jetzt sein kann, wenn mich im Hinterkopf Dinge beschäftigen. Also dränge ich mich dazu, diese Situationen entweder vollkommen zu akzeptieren oder zu verändern. Für eine anstehende Klausur oder eine spannungsreiche Beziehung bedeutet dies, entweder mit Hingabe und Demut für sie zu lernen bzw. unangenehme Dinge anzusprechen oder aber für sie nicht zu lernen, dann aber alle Konsequenzen zu akzeptieren bzw. die Konfliktsituation vollkommen anzunehmen.

Danke Maya und Sina!

Anm. d. Red.: Wir finden es wichtig, einzelne Perspektiven von Betroffenen und die damit verbundenen Belastungen in der Corona-Pandemie zu zeigen. Wir sind alle auf unsere ganz persönliche Weise betroffen. Die meisten Maßnahmen sind aus unserer Sicht berechtigt und notwenig, um die Pandemie einzudämmen – auch wenn das Einhalten schwerfällt. Alle Artikel zum Thema Corona findest du hier.

In Zeiten der Corona-Pandemie sind viele Menschen dazu angehalten, zuhause zu bleiben. Das schließt eine gewisse Selbstbeschäftigung nicht aus. Aron Boks interessiert sich dafür, wie andere Menschen das hinkriegen, dieses Alleine-Sein.

In der Artikel-Reihe „Endlich zeit für mich?“ von Aron Boks sind bereits erschienen Interviews mit: Kathrin Weßling (Schriftstellerin und Social Media-Expertin)Karl Schaper (Schauspieler) und Richard Schmittstein (Hausmeister)den Autorinnen Paulina Czienkowski und Paula Irmschler, den Comedians Patti Basler und Till Reiners und dem Kabarettisten Florian Hacke.

Headerfoto: Maya Pasdika und Sina Aaron Moslehi: privat, Aron Broks fotografiert von Jens Passoth. Danke dafür!

ARON BOKS (*1997) ist Autor und Slam Poet aus Berlin. Sein Buch Luft nach Unten erschien 2019 und thematisiert Magersucht, vor allem bei Männern. Er macht den Podcast Topliteratur auf Spotify, ist Frontmann der Band „Das zappelnde Tanzorchester“ und Klopstock Förderpreisträger für Neue Literatur 2019.

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