Die neue Sichtbarkeit von Vulven und anderen Geschlechtsteilen ist ein Schritt in die richtige Richtung, findet Sexualpädagogin Anna Dillinger. Allerdings reicht das nicht immer aus, um das eigene Körperbild hin zu mehr Selbst-Akzeptanz zu wandeln. Wir sollten auch dort anzusetzen, wo die eigene Beziehung zum Körper ihren Ursprung hat: im Spüren und Fühlen.
Sichtbarkeit schafft Relevanz
Wir sind eine sehr kognitive und visuelle Gesellschaft. Auch dieser Text ist da keine Ausnahme: Er will erklären und über den Kopf ein Verständnis schaffen. Daran ist ja auch gar nichts auszusetzen, denn so funktionieren Wissens- und Meinungsvermittlung nun einmal besonders gut. Nehmen wir dann Bilder oder Videos dazu, öffnet sich eine weitere Ebene, die wir alle sehr gut aus Social Media kennen, wo Content unter Einbeziehung und mit dem Ziel von „sichtbar werden“ produziert wird.
Etwas, jemanden oder sogar viele sichtbar zu machen, ist wichtig – und ein großer Vorteil von Instagram und Co. Denn wer in unserer Gesellschaft nicht existieren darf, wird in der Regel auch nicht gezeigt, hat keine Sichtbarkeit und wenig Reichweite. Die politische Relevanz des Zeigens und Raum-Gebens von Körpern in all ihrer Unterschiedlichkeit ist also unbestritten.
Fühlst du deinen Körper?
Dieses Konzept aber 1:1 auf die Idee der „Selbstliebe“ oder „Akzeptanz des eigenen Körpers“ zu übertragen, funktioniert nicht – auch wenn es auf Social Media oft als die Antwort propagiert wird. Die Idee dabei: Ich zeige Körperteile, z.B. Vulven in all ihrer Diversität und schaffe so die Möglichkeit, auch die eigene Vulva schön zu finden oder zumindest doch ein Stück weit mehr als Teil meines Körpers zu akzeptieren.
Versteht mich nicht falsch: Es ist definitiv ein wichtiger Schritt, Geschlechtsteile in all ihrer Individualität anzuerkennen und dafür auch sichtbar zu machen – um den Impuls zu geben: Es gibt kein „normal“, es gibt nur vielfältige Formen, Größen und Farben. Das ist ein kognitiver Zugang, der entlastend und empowernd sein kann, das erlebe ich auch bei meinen Klient:innen.
Es gibt kein „normal“, es gibt nur vielfältige Formen, Größen und Farben. Das ist ein kognitiver Zugang, der entlastend und empowernd sein kann.
Wenn – und jetzt kommt der Knackpunkt – schon eine gewisse Stabilität im eigenen Körperempfinden da ist. Ich spreche hier bewusst nicht vom Körper-Bild, also wie ich mich selbst sehe, sondern vom Körper-Gespür. Damit meine ich, wie ich mich mit meinem Körper fühle, mit ihm spüre und mich selbst wahrnehme und dabei ganz konkret auch als sexuellen Körper mit einer Vulva, Penis oder allem dazwischen. Fühlt sich das „integriert“ an? Das heißt nicht zwangsläufig „Wunderschön, love it!“, sondern kann auch völlig bewertungsfrei sein – wird sich aber ganz klar als Teil von mir anspüren und ohne Frage zu mir gehören.
Und genau dieses „Es gehört einfach zu mir“ kann man oft nicht mit der intellektuellen Erklärung erreichen, man solle doch bitte endlich verstehen, dass nun mal alles gleich schön sei – bitte schön, hier zeigen wir euch jede Menge Beispiele. Menschen, die eine negative Beziehung zu ihrem Geschlecht haben, können sich so auch unter Druck gesetzt fühlen, nach dem Motto: Jetzt mal los mit der Selbstliebe oder schaffst du das auch wieder nicht?
Menschen, die eine negative Beziehung zu ihrem Geschlecht haben, können sich so auch unter Druck gesetzt fühlen, nach dem Motto: Jetzt mal los mit der Selbstliebe oder schaffst du das auch wieder nicht?
Nicht selten höre ich bei mir in der Praxis: „Ich weiß es ja eh! Und will mich ja auch gut finden, aber es funktioniert einfach nicht.“ Das ist gar nicht so verwunderlich, denn eine Ansage an den Kopf kann nicht immer nachhaltig für anderes Spüren sorgen, und genau darum geht es: Ich kann nur das an mir ok, gut, sinnvoll und „normal“ finden, wenn ich damit auch etwas Angenehmes, vielleicht Lustvolles, Erregendes spüren kann.
Wir können unser Körper-Gespür verändern
Beschert mir meine Vulva, Vagina oder mein Penis schöne Gefühle? Genau darüber führt der Weg der Integration und Veränderung: Ich kann lernen, mein Geschlechtsteil außen und innen mit neuen Spür-Connections auszustatten. Ich kann über die Beobachtung meines Körpers und was ich bisher mit ihm (z.B. bei der Selbstbefriedigung oder beim Sex) mache, meine Wahrnehmung vertiefen und dann lernen, ihn auch auf neue Arten einzusetzen. So kann ich ein Stück weit mehr Einfluss nehmen und mein Körper-Gespür verändern: Und das hat wiederum Einfluss darauf, wie ich mich „sehe“ und bewerte.
Dieser Prozess ist kein schneller. Die eigenen Spür-Kompetenzen zu erweitern, geht nicht von Heute auf Morgen und leider gibt es keinen Quick-Fix, der das für uns erledigt. Da führt der Weg nur über das eigene Tun und das bedeutet: die eigene körperliche Wahrnehmung schulen; durch kleine Veränderungen in Atem, Bewegung, Geschwindigkeit und Körperspannung neue Spür-Erfahrungen machen. Das kann im schlausten Fall in den Alltag integriert werden (Wie fühlt es sich an, anders dazusitzen, zu stehen oder herumzugehen? Immer mal 5 Minuten einschleusen) und durch bewusstes Zeitnehmen für Körper-Übungen.
Die eigenen Spür-Kompetenzen zu erweitern, geht nicht von Heute auf Morgen und leider gibt es keinen Quick-Fix.
Dabei kann man sich bei Bedarf Unterstützung durch Beratung oder Therapie holen und daraus das eigene „Projekt“ machen, das genau am persönlichen Ausgangspunkt ansetzt. Denn das Ganze lässt sich gut in die Sexualität übertragen: Wie habe ich bisher meine „Körper-Tools“ eingesetzt, um etwas zu spüren beim Sex allein oder mit Gegenüber(n)? Welche Rolle spielt mein Geschlecht dabei, was spüre ich dort wo – und wie? Unser „inneres Bild“ sagt oft mehr über unsere Wahrnehmung aus als äußere Beschreibungen.
Und um auf diese innere Bild einwirken zu können und es in ein fürs Leben meistens hilfreicheres, da integriertes und akzeptiertes Bild zu verändern, braucht es auch die Veränderung im Spüren – und damit meine ich immer Erweiterung, denn alles was schon da ist, darf auch gern bleiben. (Absurderweise gibt immer noch Ansätze, die Veränderung in der Sexualität über „weniger Spüren“ erreichen wollen: Das ist das Prinzip von betäubenden Cremes bei vorzeitigem Samenerguss oder gegen Schmerzen bei Vaginismus.)
Dazulernen ist in jedem Alter möglich
Wir können nicht einfach eine Idee durch eine andere ersetzen, wenn es dabei um unsere seit der Geburt angelernten Spürkompetenzen geht, die bei manchen vielfältig und bei anderen eben noch nicht so breit gefächert sind. Dazulernen ist allerdings in jedem Alter möglich, und das dies vor allem über den Körper funktioniert – wenn es doch auch maßgeblich unseren Körper betrifft – gerät manchmal ein wenig aus dem Fokus.
Der Glaube an die große Wirkmacht von Bildern überschätzt oft deren wirklichen Einfluss, den man nicht verallgemeinernd auf alle Menschen anwenden kann – es kommt nämlich immer darauf an, wer, in welcher Ausgangslage, was, in welcher Intensität und mit welcher Motivation ansieht. Das Gegenstück zum Idealisieren der körperbildverändernden Vulven sind die „bösen Pornos“. Hier wird oft angenommen, durch das Gesehene verändere sich die Sexualität ins Schlechte, gar Brutale, unrealistische Bilder prägten sich ein und hätten dann Einfluss auf die eigenen Empfindungen und Handlungen.
Das Gegenstück zum Idealisieren der körperbildverändernden Vulven sind die ‚bösen Pornos‘.
Mit diesem Thema kann man sich noch sehr viel differenzierter beschäftigen, so wie es z.B. die Kulturwissenschaftlerin Madita Oeming sehr spannend tut, was ich damit aber an dieser Stelle ausdrücken will:
So einfach ist es nicht. Kann ich mich gut spüren, bin halbwegs sicher verankert in meinem Körper und habe verschiedene Kompetenzen (= kann meine Körpertools einsetzen und variieren) im Bereich der Sexualität, dann wird Porno-Konsum eine weitere Variante darstellen, über Fantasien in die Erregung zu kommen. Und die meistens Menschen können sehr gut zwischen ebendieser Fantasie und Realität unterscheiden. Nutze ich Pornos hingen als einzige Möglichkeit, in hoher Regelmäßigkeit und vielleicht sogar mit einem Leidensdruck, einem Gefühl von Langeweile, Unbefriedigt-Sein oder Zwang verbunden, kann das sehr limitierend sein.
Es macht etwas mit uns, bestimmte Darstellungen von Körpern und Geschlechtsteilen entweder ständig vor Augen zu haben oder nie zu Gesicht zu bekommen.
Egal ob es nun um „negative“ oder „positive“ Bilder und deren Vorbildfunktion geht: Sicher macht es etwas mit jeder und jedem Einzelnen von uns, bestimmte Darstellungen von Körpern und Geschlechtsteilen entweder ständig vor Augen zu haben oder im Gegenteil nie zu Gesicht zu bekommen.
Es sagt etwas darüber aus, was momentan in unserer Gesellschaft „sein darf“ oder scheinbar „normal“ ist – mit der Konsequenz, dass Menschen ausgeschlossen werden, sich nicht identifizieren können oder das Gefühl von „Ich bin nicht gut genug“ entwickeln. Welchen Schaden das anrichtet, ist uns hoffentlich allen klar, dennoch macht es immer einen Unterschied, auf welchen „Boden“ diese Bilder fallen.
Vergessen wir das Spüren und Fühlen nicht
Also ja! Ändern wir die Bilder und erweitern wir die Seh-Angebote für alle – das passiert gerade, und ist ein toller Schritt. Danke an alle, die dafür so viel Arbeit leisten. Aber vergessen wir nicht, auch dort anzusetzen, wo die eigene Beziehung zum Körper ihren Ursprung hat: im Spüren und Fühlen. Es ist ein bisschen schwieriger zu vermitteln, dass es eben auch in diesem Bereich so viele Erweiterungsmöglichkeiten gibt – denn Sehen und Erklären sind nicht die primären Quellen dazu.
Aber es ist wahnsinnig hilfreich und nachhaltig: Denn wer für sich eine Spür-Diversity zur Verfügung hat, hat Auswahlmöglichkeiten im eigenen Handeln und Erleben. Mehr und differenzierter zu spüren – in der Sexualität und anderswo – bedeutet auch: angenehme und lustvolle Gefühle erweitern, den eigenen Körper als sinnvoll und „richtig“ wahrzunehmen und Grenzen gut zu spüren. Und das sind doch schöne Aussichten!
Headerfoto: cottonbro studio Kategorie-Button hinzugefügt. Danke dafür.