Über meine erste Fremdverliebtheit und die mangelnde Liebe zu mir selbst

Meine erste Fremdverliebtheit hatte ich ungefähr 2002. Er hieß Alex und verkörperte alle Sehnsüchte, die ich zu jener Zeit, mit 17, besaß. Alex war mittelgroß und hatte dunkelbraune, fast schwarze halblange Haare, die sich ein bisschen wellten. Er trug damals – ganz selbstbewusst und selbstverständlich – Cord-Schlaghosen und interessierte sich ausgiebig für Indie-Musik.

Wir sprachen oft über Oasis, The Doors und Arcade Fire. Er steckte mich mit seiner Leidenschaft für Indie und Brit Pop an, hörte Schallplatten und trank mit mir Cuba Libre. In seiner eigenen Wohnung, die er bereits mit 18 mietete und in der es immer ein bisschen nach Räucherstäbchen roch, hingen wir oft ab und unterhielten uns stundenlang. Alles dort war übersät mit kleinen Erinnerungsstücken, als hätte seine Wohnung eine eigene Persönlichkeit besessen.

Ich stellte ihn auf ein Podest und wünschte mir, ein Teil von ihm würde auf mich übergehen, wenn ich nur so oft wie möglich mit ihm Zeit verbringe. Ein Trugschluss.

Alex war auffällig ordentlich und schon früh eigenständig, was mich faszinierte. Auch beeindruckte mich, dass er seinen Wunsch, später zur Marine zu gehen, so früh entwickelt hatte. Ich wusste zu der Zeit nicht mal ansatzweise, was ich später werden wollte und fürchtete mich davor, Neues auszuprobieren. Ich stellte ihn auf ein Podest und wünschte mir, ein Teil von ihm würde auf mich übergehen, wenn ich nur so oft wie möglich mit ihm Zeit verbringe. Ein Trugschluss.

Auch wenn ich mir nichts sehnlicher als leidenschaftliche Intimität wünschte, passierte nie etwas Sexuelles zwischen Alex und mir. Er hatte des Öfteren neue Frauengeschichten, die mich in tiefe Depressionen stürzten und mich schließlich an meiner eigenen Beziehung zweifeln ließen.

Zu dieser Zeit war ich gerade mit meinem ersten Freund, Christoph, zusammen. Ich fand Christoph cool, weil er einfach das tat, wonach ihm war. Ohne auf die Meinung seiner Mitmenschen zu hören, die ihn kritisch beäugten, ließ er seine Haare wachsen, hörte nicht-massentaugliche Musik und zog sich so an, wie er Lust hatte.

Er hatte langes blondes, zerzaustes Haar, seine Verpeiltheit, die nicht nur dem Rauchen von Marihuana geschuldet war, war sein größtes Markenzeichen. Er wirkte manchmal wie ein verrückter Professor in Schlaghosen und Dickies-Pullovern. Manchmal erinnerte er mich an eine crazy Verschmelzung aus Dr. Emmett Brown aus Zurück in die Zukunft und Kurt Cobain.

Die Beziehung zu Christoph hielt eineinhalb Jahre, wovon ich die Hälfte der Zeit für Alex schwärmte. Christoph erzählte mir nach wenigen Monaten von seiner ehemaligen Liebelei aus dem Ferienlager und dass er sie gern besuchen wollen würde. Er teilte mir unverblümt mit, dass er sich meiner Liebe zu mir unsicher ist. Ich blieb trotz dieser verbalen Tiefschläge bei ihm, verabscheute mich dafür und nahm das als gegeben hin.

Eine Beziehung, in der beide für jemand anderes schwärmen

So kam es, dass mein Tagebuch mein engster Vertrauter wurde, denn ich bildete mir ein, mit niemandem darüber reden zu dürfen. Ich dachte schlussendlich, es wäre meine Schuld gewesen, dass ich mich fremdverliebt hatte und schämte mich in Grund und Boden. Meine Gedanken gaukelten mir vor, dass ich mich nicht tugendhaft verhalten würde, obwohl Christoph derjenige war, der mich schlecht behandelte. Ich ließ es mit mir machen.

Christoph und ich trennten uns einvernehmlich. Er behandelte mich immer respektloser, indem er mir von anderen Frauen vorschwärmte und die Gefühle, die ich nicht in meine Beziehung, sondern in die Freundschaft zu Alex investierte, schufen einen immer größer werdenden Graben zwischen uns. Mir war damals noch nicht bewusst, dass mir Alex etwas spiegelte, dass ich mir bei Christoph so sehnlich gewünscht hatte. Er schenkte mir Aufmerksamkeit und behandelte mich wertschätzend.

Die Freundschaft zu Alex plätscherte fortan vor sich hin. Ich ging zum Studium in eine andere Stadt und er arbeitete als Zeitsoldat bei der Marine. Ab und zu schrieben wir uns ein paar Karten, es folgten einige wenige Treffen, bei denen dann auch mal was zwischen uns lief, wir hatten jedoch nie Sex miteinander. Es enttäuschte mich, dass die Intimität mit ihm in meiner Vorstellung anders gewesen ist als in Realität. Ich hatte ihn mir liebevoller und aufmerksamer ausgemalt. Eine Enttäuschung. Danach brach der Kontakt völlig ab.

Fremdverliebtheit – eine Illusion

Was ich damals nicht verstand, war, dass die Schwärmerei zu Alex erst nachließ, als ich von Christoph getrennt war. Vorher war ich nie in der Lage gewesen, auch seine unschönen Facetten zu sehen, wie zum Beispiel seine Divenhaftigkeit oder Zickigkeit. Ich projizierte meinen inneren Mangel in ihn hinein und wünschte mir so sehr, dass er mir das geben würde, was mir damals so sehr fehlte: Selbstliebe, Selbstbewusstsein und ein selbstbestimmtes Leben.

Fremdverliebtheit erscheint mir heute immer noch wie ein großes „Betreten Verboten“-Schild unserer Gesellschaft. Ich wurde für meine Fremdverliebtheit oft belächelt oder harsch kritisiert. Kein Wunder, dass ich mich jahrelang nicht traute, darüber zu reden. Wie gut, dass ich damals alles aufgeschrieben habe.

Heute weiß ich, Fremdverliebtheit ist nicht das Ende der Welt, eher im Gegenteil. Sie ist eine Botschaft, die uns mitteilen möchte, dass bei uns etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, das wir wieder geraderücken müssen. Ich bin froh, diese Erfahrung gemacht zu haben, denn heute weiß ich, damit umzugehen. Ich höre immer noch gern Oasis oder Arcade Fire und wenn ich heute ein Räucherstäbchen rieche, denke ich daran, dass die Vorstellung von etwas oft nichts mit der Realität gemeinsam hat.

Fremdverliebtheit ist die Projektion der eigenen innerlichen Vertrocknung – und zwar an einer Stelle, wo wir unsere zarte Pflanze der Selbstliebe lange nicht mehr gegossen haben.

Sina lebt in Hamburg und schreibt hobbymäßig. Seit der 7. Klasse führt sie ein Tagebuch, welches sie hauptsächlich mit Geschichten über Herzschmerz gefüllt hat. Diese Texte inspirieren sie heute, über das Glück, die Liebe und das Leben zu sinnieren und zu erkennen, wie sie zu dem Menschen geworden bin, der sie heute ist. Mehr von Sina findest du hier.
Dieser Artikel ist bereits hier erschienen.

Headerbild: Mohammed Hassan via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt und zugeschnitten.) Danke dafür!

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