Egal, ob die Geschichte so beginnt:
Sie sind beide nur auf der Suche nach einer unverbindlichen Sache. Sie treffen sich auf einen Kaffee und verstehen sich auf Anhieb richtig gut. Obwohl sie angeregt diskutieren, sind sie die ganze Zeit so angetan von dem jeweils anderen und können den nächsten Schritt nicht erwarten. Sie beschließen also, den Abend bei ihr ausklingen zu lassen. Natürlich wird vorher einstimmig beschlossen, nur mit Kondom miteinander zu schlafen …
Oder so:
Sie sind schon länger zusammen und am Ende der rosaroten Phase angelangt. Es gibt mal Streit und es ist nicht immer alles einfach. Trotzdem lieben sie sich sehr. Weil ihr die Pille nun schon viele Jahre Probleme bereitet hatte, hat sie beschlossen, sie abzusetzen. Seitdem verhüteten sie mit Kondom …
… was jetzt passiert, ist strafbar!
Sie liegen im Bett, tasten sich langsam aneinander heran, genießen jede Berührung. Sie ziehen sich aus. Das Kondom wird mit ein paar Handgriffen gekonnt übergezogen und los geht’s. Dann kommt der erste Stellungswechsel – sie kann nicht erwarten, was er jetzt mit ihr vorhat. Sie ist voller Lust und ihre Gedanken sind leicht und unbeschwert.
Als er wieder in sie eindringt, stöhnt sie kurz auf und genießt die Wärme in sich. Er wird mit jedem Stoß schneller und sie merkt, wie er sich dem Höhepunkt nähert. Und dann kommt es zum Samenerguss … in ihr.
Er hatte das Kondom heimlich beim Stellungswechsel entfernt.
Stealthing fällt unter § 177 StGB
Dieses Geschehen ist schon aus menschlicher Sicht überhaupt nicht mit Anstand und Respekt zu vereinen. Nun erfüllt es aber auch den Tatbestand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB nach dem Beschluss des Kammergerichts Berlin (Beschluss vom 27.07.2020, 4. Strafsenat, Az. (4) 161 Ss, 48/20 (58/29)).
Nach § 177 StGB ist es unter anderem strafbar, wenn gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen werden. Nach dem Gericht meint das nicht nur die freie Entscheidung darüber, „ob Geschlechtsverkehr stattfinden soll, sondern auch unter welchen Voraussetzungen“.
Entscheidend für diese Auffassung ist einerseits, dass durch ein Kondom vor Krankheiten und ungewollter Schwangerschaft geschützt werden kann. Andererseits schützt § 177 StGB vielmehr auch die sexuelle Autonomie und möchte jegliche ungewollte Fremdeingriffe unter Strafe stellen, die für die betroffene Person mit „Demütigung oder Instrumentalisierung“ verbunden sind.
Die Strafbarkeit des sogenannten Stealthing basiert also im Wesentlichen auf dem Vorliegen dreier Komponenten:
Als Erstes muss es eine Absprache darüber gegeben haben, ob der Geschlechtsverkehr (nur) mit Kondom vollzogen werden soll. Wenn dazu nichts geäußert wird und wohlwissend der Geschlechtsakt ohne Kondom vollzogen wird, wird man nicht zu dem Ergebnis einer ungewollten sexuellen Handlung kommen können. Dies schließt jedoch nicht aus, währenddessen seinen Willen zu ändern und zu äußern. Wird auf diese Bitte hin kein Kondom benutzt und der Akt weiterhin vollzogen, kann man sogar in den Bereich der Vergewaltigung nach §177 Abs. 4 StGB gelangen.
Als Zweites die Heimlichkeit des Entfernens des Kondoms. Die Frau darf also nichts davon mitbekommen haben, dass das Kondom entfernt wurde. Falls sie doch Kenntnis erlangt hat und trotzdem nichts dazu sagt, insbesondere ihren Partner auffordert, ein neues Kondom zu benutzen oder die sexuellen Handlungen zu unterbinden, wird man den entgegenstehenden Willen der Frau verneinen müssen. Soweit ein entgegenstehender Wille besteht, muss dieser ausdrücklich und für den Täter erkennbar geäußert werden. An dieser Stelle sei auf die Kampagne „Nein heißt Nein“ verwiesen.
Drittens muss der Mann in der Frau ejakulieren. Jedenfalls in Anlehnung an die Entscheidung des Kammergerichts für das Vorliegen eines sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB. Es gilt also (noch) nicht als Straftat, wenn der Mann den Penis frühzeitig herauszieht, obwohl dies natürlich keinesfalls eine sichere Verhütungsmethode ist und gleichfalls gegen den Willen der Frau verstoßen dürfte.
Das Kammergericht Berlin hat sich jedoch nur zu der Fallkonstellation äußern müssen, in der es zum Samenerguss kam. Betrachtet man die Urteilsbegründung genauer, ist für die Annahme eines Deliktes nach § 177 Abs. 1 StGB die Herabwürdigung der sexuellen Selbstbestimmung der Frau ausschlaggebend.
Sollte ein ähnlicher Fall wie oben, nur eben ohne Ejakulation im Körper der Frau, zur Verhandlung kommen, stehen die Chancen gut, auch dies unter § 177 Abs. 1 StGB verurteilen zu können. Im Ergebnis ändert sich an dem starken Eingriff in die Selbstbestimmungsrechte der Frauen nichts, nur weil der Mann „flinke Hände“ hat.
Hinter den Kulissen steht eine Frau, die sich zur Polizei getraut hat
Zu dieser Entscheidung ist es nur gekommen, weil die Frau, der diese Sache passiert ist, ihre Freundin angerufen hat und diese mit ihr zur Polizei gegangen ist, um eine Anzeige aufzugeben.
Zu dieser Entscheidung ist es nur gekommen, weil die Frau zur Polizei gegangen ist, um eine Anzeige aufzugeben.
Falls ihr euch in diesem Artikel wiederfindet oder jemanden kennt, der so etwas schon einmal erlebt hat, zögert nicht, damit ebenfalls zur Polizei zu gehen. Spätestens seit Mitte Juli stehen solchen Handlungen unter Strafe und sind keine Taten, die mit einer Entschuldigungs-WhatsApp-Nachricht wieder gut zu machen sind oder gar komplett unter den Teppich gekehrt werden sollten.
Anm. d. Red.: Wenn dir selbst oder einer Person in deinem Umfeld sexualisierte Gewalt widerfährt, kannst du dich zum Beispiel an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ oder „Gewalt an Männern“ wenden, zur Polizei gehen oder die Polizei anrufen. Du bist nicht allein.
Mehr Infos zum Thema findest du in unserem Instagram-Story-Highlight.
Headerbild: Aliaksei via Unsplash. („Körperliches“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Den Weg zur Polizei kann man sich sparen. Ich spreche leider aus Erfahrung. Mir ist das im Sommer 2020 selbst passiert, dass der Kerl sich das Gummi heimlich abgestreift hat. Leider konnte ich es nicht beweisen – und es ist ja nichts Schlimmes passiert (also ich bin zum Glück weder schwanger geworden, noch habe ich mich mit irgendwas angesteckt), so die Worte bei der Polizei.