„Beruhige dich wieder, Alice Schwarzer!“, wird mir an den Kopf geworfen und ich verdrehe die Augen. Ja, ich vertrete feministische Ansichten, doch bei weitem nicht auf so radikale und extreme Weise wie die Frau, mit der ich verglichen werde. Und außerdem lasse ich mich sicher nicht mundtot machen von einem Mann, der kurz zuvor eine meiner Freundinnen dafür verurteilte, dass sie sich als Single auslebt und ausprobiert.
Daraufhin fuhr ich kurz aus meiner Haut und erklärte ihm, was anstatt an ihrem an seinem Verhalten so verwerflich war. Schließlich ist sie meine Freundin und ich habe schon lange keine Geduld mehr mit einem solchen Verhalten. Aber ein weiterer Grund ist, dass ich selbst ähnlich handle wie sie.
‚Beruhige dich wieder, Alice Schwarzer!‘, wird mir an den Kopf geworfen und ich verdrehe die Augen.
Ich lebe meine Sexualität, kenne und erfülle gerne meine Bedürfnisse und probiere mich aus. Ich schlafe mit so vielen Männern, wie ich möchte, gehe Affären und One Night Stands ein und finde dabei heraus, worauf ich stehe und worauf nicht. Ich zelebriere meine Freiheit, alles und nichts tun und lassen zu können – ganz so, wie ich es will. Natürlich sollte man sowieso immer das tun können, was man will und was einem guttut, ob in einer Beziehung oder nicht.
Doch in meinen vergangenen Beziehungen konnte ich das eben nicht. Meine Bedürfnisse und ich hatten nicht immer Priorität in meinem Leben. Ich stellte die Bedürfnisse anderer über meine, ignorierte meine Intuition, warf die Selbstbestimmung über Bord. Deshalb beschloss ich, mich in meiner jetzigen Lebensphase so intensiv in Selbstliebe und Selbstbestimmung zu üben, wie es mir nur möglich ist. Und dazu gehört für mich auch ganz klar, mich sexuell frei auszuleben.
Was hat das mit Feminismus zu tun?
In manchen Köpfen kursiert das Bild von der Feministin als wütende Männer-Hasserin, die sexuell vollkommen unbefriedigt und nahezu verbittert ist. Dieses Bild ist voller Körperbehaarung – die natürlich absolut in Ordnung ist, aber nun einmal nicht von jeder Feministin so getragen wird –, wütender Parolen und Weiblichkeit, die jedes andere Geschlecht verdrängt. Und diese behaarten, wütenden Wesen, die sich über jedes andere Geschlecht erhaben fühlen, können nun einmal unmöglich ein erfülltes Sexleben führen.
Dass dieses Bild anmaßend, extrem und schlichtweg nichtzutreffend ist, sollte eigentlich einleuchten. Nicht zuletzt, weil der heutige Feminismus – also das Bestreben nach Gleichberechtigung – alle Geschlechter miteinbezieht. Die Feminist:innen, die es ernst meinen, sind weder alle wütend – weil sie verstanden haben, dass das Problem nicht allein im Mann ihnen gegenüber liegt – noch alle lesbisch, asexuell oder abstinent. Und deshalb liegt absolut kein Widerspruch darin, Feministin zu sein und sich sexuell auszuleben – im Gegenteil.
Die sexuelle Selbstbestimmung gehört für mich zum Feminismus dazu. Die Frau, die ihre Sexualität auslebt, ist für mich selbstbestimmt. Und wenn diese Frau davon überzeugt ist, dass alle Geschlechter so selbstbestimmt leben können sollten, ist sie eine Feministin. Selbstverständlich können auch alle anderen Geschlechter selbstbestimmte Feminist:innen sein. Doch den Vorwurf, als Feminist:in männerhassend oder sexuell verbittert und unbefriedigt zu sein, höre ich nun einmal besonders häufig Frauen gegenüber.
Entweder zu viel oder zu wenig Sex
Und damit zurück zum Vorwurf des Mannes an meine Freundin, als weiblicher Single ein zu reges Sexleben zu führen, und zu seinem Vorwurf mir gegenüber, mich wie Alice Schwarzer zu verhalten. In diesen Vorwürfen stecken gleich mehrere gesellschaftlich geprägte (mittelalterliche) Ansichten: Es schickt sich nicht für Frauen, sich sexuell frei und ungezügelt auszuleben. Frauen, die es tun, sind weniger wert.
Es schickt sich auch nicht für Frauen, wütend zu sein oder sich in der Öffentlichkeit aufzuregen. Frauen, die es tun, sind Furien, die es zu bändigen gilt. Frauen, die sich behaupten und feministische Argumente anbringen, sind radikale Feministinnen, die das weibliche Geschlecht über alle anderen stellen wollen. Und das muss natürlich verhindert werden.
Frauen werden gerade für ihre Sexualität gerne gesellschaftlich be- und verurteilt. Es scheint, als könnten sie von außen betrachtet entweder zu viel oder zu wenig Sex haben – und weder das eine noch das andere ist angebracht. Da ist es doch am besten, in der Menge zu verschwinden, einfach nicht aufzufallen und sich gar nicht erst zu äußern. Doch genau so werden die mittelalterlichen, tief in uns verwurzelten Ansichten von Generation zu Generation weitergegeben.
Ich will mich selbstbestimmt sexuell ausleben und dabei Feministin sein können, ohne weder für das eine noch das andere noch die Kombination verurteilt zu werden.
Und genau so werden Selbstbestimmung, gute Aufklärung und Empowerment verhindert. Abgesehen davon, dass das Be- und Verurteilen des Sexlebens anderer grundsätzlich unangebracht ist, ist also das Auflösen solcher Ansichten dringend notwendig.
Denn ich will mich selbstbestimmt sexuell ausleben und dabei Feministin sein können, ohne weder für das eine noch das andere noch die Kombination verurteilt zu werden. Ich will mich über mein Sexleben austauschen können, wenn ich es will und auch mit Männern, ohne dafür verurteilt zu werden. Ich will mich nicht mehr für Freundinnen einsetzen müssen, weil ihr Sexleben verurteilt wird. Aber ich will mich äußern, argumentieren und diskutieren können, ohne direkt mundtot gemacht zu werden.
Ich will eine Beurteilung meines Verhaltens nur noch dann, wenn ich sie einfordere. Und ich finde, das können wir alle einfordern und uns gleichzeitig dafür einsetzen.
Headerfoto: Wesley Tingey via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!