Self-Compassion: Wie ich gelernt habe, meine eigenen Bedürfnisse zu lieben

„Seid ihr jetzt eigentlich zusammen?“ Immer wieder diese Frage. Und der Wunsch nach Einordnung. Entweder ist man zusammen oder man ist es nicht. Schwarz oder weiß. Wie fasse ich in Worte, was in den Köpfen vieler anderer gar nicht existiert?

Was wir sind

Was ich weiß: Wir führen manchmal so philosophische Gespräche und kommen zu der Art von Erkenntnissen in der eigenen persönlichen Entwicklung, dass ich mir danach wünschte, sie aufgezeichnet zu haben. Wir sind zwei Wochen lang zusammen in Corona-Quarantäne und wundern uns, wie schnell die Zeit vergeht, weil wir einander genug sind. Wir können zusammen lachen, meditieren, Yoga machen, Spaghetti kochen und zahlreiche Weinflaschen leeren.

Wir zeigen uns unsere verletzlichsten und unsere stärksten Seiten. Wie Seelenverwandte, deren Begegnung und körperliche Anziehung auf einer höheren Ebene stattfindet. Theoretisch könnten wir ein Paar sein. Aber: Wir erkennen uns und wissen, so wie es in der Vergangenheit war, so soll es nicht mehr sein. Wir haben verstanden: Wir, das ist er und das bin ich.

Wir sind wie zwei Kometen, jeder auf seiner Umlaufbahn

Und wir haben das Glück, uns auf dieser Reise begegnet zu sein. Das Konstrukt einer klassischen Beziehung scheint dafür keinen passenden Rahmen zu bieten. Es ähnelt dem utopischen Versuch, aus einem dreidimensionalen Objekt ein zweidimensionales zu machen.

In der Vergangenheit haben wir – jede*r auf seine*ihre Weise schmerzhaft lernen dürfen, dass kein anderer uns die fehlende Liebe zu uns selbst geben kann. Dass weder die Ehe noch eine feste, jahrelange Beziehung die Sicherheit bringt, die wir eigentlich suchten. Dass der oder die Andere ein Spiegel unserer Wunden darstellte – und nicht gekommen war, um uns zu retten. Dass wir immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen werden.

Selbstliebe kann ein Arsch sein. Wenn wir es zulassen, dann zeigt sie uns, wo wir uns noch nicht (genug) lieben. Wo wir uns vom Gegenüber beweisen lassen wollen, dass wir ach so liebenswert sind. Und es passiert, was unaufhaltsam ist: Wir verletzten, werden verletzt und machen alle verantwortlich, außer uns selbst. Denn dann müssten wir erkennen, dass alles Glück bei uns selbst anfängt – allem voran die Liebe selbst.

Überall floss meine Begeisterung hin, wurden Gefühle investiert und Hoffnungen zerstört. Auch mit dem Leid kann man sich identifizieren und wohlig darin suhlen.

So viele Jahre habe ich mich intensiv darauf konzentriert, andere von mir zu überzeugen, mir ihre Aufmerksamkeit und Liebe zu erkämpfen. Keine Herausforderung war zu schwer, kein Werben zu aufwendig. Die Aussicht auf Erfolg gab mir genug Antrieb, um mich immer wieder in meinem Glaubenssatz „Ich muss mir alles hart erarbeiten“ zu bestärken. Männer, die nicht emotional bereit und offen, geschweige denn am Markt verfügbar waren, meine Spezialität. Ich hatte gut zu tun, schließlich gibt es genug „Material“ auf dem Markt der Begierde. Überall floss meine Begeisterung hin, wurden Gefühle investiert und Hoffnungen zerstört. Auch mit dem Leid kann man sich identifizieren und wohlig darin suhlen.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Immer weniger Bedeutung maß ich im Laufe der Jahre meinen Bedürfnissen bei. Ich war viel zu beschäftigt damit, die Bedürfnisses meines Gegenübers zu erahnen und interpretieren. Mir dämmerte eh, dass das, was ich mir wünschte, zu viel sei. Die Masse raunt „man kann nicht alles haben“ und ich wiederholte diese Binsenweisheit wie ein innerliches Mantra unzählige Male. Nur weil viele etwas sagen oder machen, ist es noch lange nicht richtig.

Hätte ich wissen können, aber stattdessen versuchte ich daran zu glauben, drückte meine Bedürfnisse so lange klein, bis sie passend waren. Eins hatte ich über die Jahre bereits gelernt – meinte ich zumindest: Ich bin zu viel – ich möchte zu viel Sex, bin zu fordernd, zu gierig, zu unersättlich. Wie in der Schule: Wer immer wieder ermahnt wird, setzt sich entweder über Regeln und Erwartungen hinweg oder gibt irgendwann nach. Bedauerlicherweise passierte letzteres.

Wenn man die eigene Sehnsucht nur lange genug unterdrückt und dabei sehr energisch vorgeht, schafft man es irgendwann, sie zu vergessen.

Wach auf, Dornröschen

Bis sie mir eines Tages regelrecht um die Ohren flog. In Form eines neuen Arbeitskollegens, der auf meinen Körper wie pures Aphrodisiakum wirkte. Seine starken tätowierten Arme, sein männlicher Geruch, seine Augen, die mich förmlich auszogen – ich bekam augenblicklich Atemprobleme. Es war als wäre ich mit einem Hammerschlag aus dem Dornröschenschlaf aufgeweckt worden. Tage des Verzehrens, der Sehnsucht und unerwiderten Begierde folgten.

Und täglich die Frage: Wer war die Person, die die letzten 12 Monate in meinem Körper gewohnt hatte, deren Sexaktivität auf ein Minimaß reduziert wurde und die krampfhaft versucht hatte, das als Normalzustand („Das-geht-vielen-Paaren-so-man-kann-nicht-alles-haben-Mantren“) zu kultivieren.

Wieder war ich versucht, den Kampfmodus anzuschalten, mein Gegenüber zu erobern, komme was wolle; wohlwissentlich, dass das im äußersten Fall in einem Seitensprung enden würde. Wie es weiterging, ist nicht der Rede wert. Zumindest im Hinblick darauf, dass nichts über die Sehnsucht hinaus im Äußeren passierte.

Aber innerlich kam es zu einer Verschiebung der Wahrnehmung. Endlich verstand ich, was ich mir monatelang angetan hatte. Dass ich so damit beschäftigt gewesen war, mein Beziehungsgegenüber glücklich zu machen und zu halten, dass ich mich dabei völlig verloren hatte. Und je mehr ich hinsah, desto mehr wurde sichtbar: von mir, von meinen Wunden, von jungen und alten Enttäuschungen und vor allem von zahlreichen Verleugnungen meiner eigenen Bedürfnisse.

Mir selbst zu verzeihen. Denn ich war es, die all das zugelassen hatte. Die sich selbst nicht wichtig (genug) nahm.

Und wer diesen Prozess schon hinter sich hat, weiß, ab jetzt beginnt die eigentliche Arbeit. Mir selbst zu verzeihen. Denn ich war es, die all das zugelassen hatte. Die sich selbst nicht wichtig (genug) nahm. Die den anderen mehr liebte als sich selbst. Die immer wieder die Verantwortung beim Partner gesucht hat. Die ihren Wert von ihm abhängig machte – ganz selbstverständlich.

Viele Versuche, mit den neuen Erkenntnissen doch noch etwas zu retten, musste ich irgendwann als gescheitert ansehen. Denn als ich endlich ein echtes Gefühl dafür bekam, was es bedeutet, mich mit all meinen Bedürfnissen und Sehnsüchten anzunehmen und wertzuschätzen, gestand ich mir selbst unter Tränen ein: Ein Ja zu mir bedeutet ein Nein zu meiner langjährigen Beziehung. Begleitet von dankbaren und liebevollen Gefühlen, von unendlicher Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit und das Wachstum, was ich durch sie erfahren durfte. Loslassen aus Liebe.

Da saß ich nun also, 33 Jahre alt und endlich mit einem Zugang zu mir selbst und meinen Bedürfnissen. Traurig, ratlos und gleichzeitig so verbunden mit mir, wie noch nie zuvor.

Rahel van der Meer hat ihre Wahlheimat Berlin für unbestimmte Zeit hinter sich gelassen und erprobt nun das moderne Nomadenleben. Ihr Antrieb: Immer mehr der Mensch zu werden, der sie wirklich ist. Dabei widmet sie sich voller Mut und Neugier neuen Erlebnissen außerhalb der Komfortzone rund um die Themen Polyamorie, Persönlichkeitsentwicklung, Spiritualität und Selbstmitgefühl.

Headerbild: Ömer Faruk Tokluoğlu via Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

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