Ganz nebenbei – Davon, wie wir sexuelle Übergriffe in Halbsätzen verstecken

Sexuelle Übergriffe passieren ständig und überall. Sie passieren Frauen, Männern, Kindern. Sie passieren in jedem Alter. Sie passieren auf die unterschiedlichsten Weisen – vom Packen an den Hintern bis hin zu Missbrauch und Vergewaltigung. Eigentlich reicht auch schon übergriffiges Catcalling. Diese Tatsachen an sich sind erschreckend genug.

Die Zahlen sprechen ebenso für sich: Laut Statistik wurden im Jahr 2019 in Deutschland rund 70.000 Straftaten im Bereich der Sexualdelikte begangen. Die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher geschätzt. Warum existiert diese Dunkelziffer überhaupt? Weil wir sexuelle Übergriffe als etwas Geringeres abtun, als sie sind. Weil es immer noch als Tabuthema gilt, über sie zu sprechen. Und weil es leider beschränkte Möglichkeiten gibt, sie zur Anzeige zu bringen und daher viele der Taten schlicht durchs Strafmaß fallen.

In einen Nebensatz schmuggeln wir unsere Erfahrung mit sexuellen Übergriffen …

Es ist schockierend, wie wir über sexuelle Übergriffe kommunizieren. Oft reden wir beiläufig darüber. In einem halbfertigen Nebensatz schmuggeln wir das Thema und unseren emotionalen Schmerz mit ein. Mit einem nervösen Lachen schütteln wir das unangenehme Thema ebenso schnell wieder ab – in der normalen, zwischenmenschlichen Kommunikation finden sexuelle Übergriffe keinen Einzug, oft auch selbst nicht zwischen Missbrauchsopfern. Immer muss erst ein spezieller Raum dafür geschaffen werden, oder aber man spricht über die Bedeutungskraft dieses Themas hinweg.

Kürzlich fiel uns, Carlotta und Jana, diese Beiläufigkeit auf, als wir uns fast schon scherzend über unsere Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch austauschten. Und dann wurde uns schlecht. Deswegen wollen wir in dem folgenden Artikel genau darüber schreiben: über die verschiedenen Dinge, die uns schon widerfahren sind, und die wir bislang immer klein geredet haben.

Age 12 (Jana)

Klar war mir bewusst, dass sexuelle Übergriffe passieren können. Meine Erfahrungen hierzu hatte ich zu dem Zeitpunkt bereits gesammelt. Eines Tages schlug mein Vater vor, gemeinsam am See joggen zu gehen. Ich wollte Zeit mit ihm verbringen und ging mit. Als ich so neben ihm her schnaufte, fing ich auf einmal den Blick eines Mannes ein, der mich beim Vorbeilaufen taxierte. Er war groß und drahtig, mit krausem, schwarzem Haar und einer Cap. Die Haare auf meinen Armen stellten sich zwar auf, aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Mein Vater war ja da.

Doch der lief auf einmal viel schneller – er wolle eine Runde ohne mich drehen. Ich sei ihm zu langsam. Zeit zu widersprechen, hatte ich nicht, denn er war schon weg. Wie lange ich noch gejoggt bin, weiß ich nicht. Aber ich weiß, irgendwann stand er in meinem Weg: der Mann, der mich zuvor so begafft hatte. Seine Sporthose hing in den Knien, seinen Penis hatte er in der Hand. Mit der anderen Hand gestikulierte er in meine Richtung. „Komm’, komm’ zu mir.“ Wie lange ich da stand, vollständig gelähmt, während er näherkam, kann ich nicht mehr sagen.

Seine Sporthose hing in den Knien, seinen Penis hatte er in der Hand. Mit der anderen Hand gestikulierte er in meine Richtung.

Die Zeit stand still, der Hintergrund war für mich verschwommen. Um uns herum war nur Gebüsch, sonst keine Person zu sehen. Dann legte sich in meinem Inneren ein Schalter um: Ich musste mich beschützen. Ich schüttelte den Kopf, wich zurück – dann rannte ich, wie ich in meinem ganzen Leben nie wieder gerannt bin. Ich schaute nicht zurück, er kam mir – zum Glück – nicht nach.

Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, traf ich auf meinen Vater. Ich stammelte, versuchte in Worte zu fassen, was gerade passiert war. Seine Reaktion: Mitleid solle ich haben mit diesem Mann, der bestimmt nur verstört war. Über Jahre konnte ich darüber mit niemandem sprechen. Danach versteckte ich die Begebenheit immer wieder zwischen den Sätzen, wollte darüber sprechen, aber habe mir nicht den Raum genommen, den dieses Erlebnis gebraucht hätte. Auch nicht meinem Vater gegenüber.

Age 15 (Carlotta)

Als Hamburgerin gibt es immer mindestens zwei erste Male. Naja, halt das erste Mal Sex und dann das erste Mal Kiez. Die Hamburger Reeperbahn ist weit über die Stadtgrenzen bekannt und schon in der 8. Klasse fangen die ersten Gerüchte darüber an, wer sich wohl am Wochenende verbotenerweise in einem Club rumgetrieben hat. Unter 16 ist bekannterweise kein Zugang zu irgendeinem Club erlaubt, ab 16 dann nur mit „Muttizettel“. Und so zieht es auch mich, mit fast 16 Jahren und dem Reisepass einer Freundin, die mir relativ ähnlich sieht, auf den Hamburger Kiez.

Erwachsen. Endlich kann ich feiern gehen. Wir sind mit einer Gruppe Jugendlicher unterwegs, von denen ich einige aus der Schule kenne, viele aber noch nie gesehen habe. Wir trinken Becks Lemon und irgendwer hat bestimmt auch eine Wodka-O-Mische dabei. Die Party kann losgehen. Schon um halb 11 sind wir im Club. Es ist laut, heiß und irgendwie hatte ich mir die ganze Kiste anders vorgestellt. Irgendein Typ kommt immer von hinten an und will mit mir „dancen“. Komisches Gefühl, aber so ist das wohl beim Feiern, denke ich mir.

Ich erzähle niemandem davon und versuche, die Erinnerungen an diesen Abend die nächsten Jahre meines Lebens möglichst weit hinten in meinem Kopf zu behalten.

Vereinbarte Zuhause-Zeit mit meiner Mutter ist 1 Uhr und so mache ich mich (weniger schweren Herzens als erwartet) um halb 1 auf den Weg nach Hause. Tschüss sage ich niemandem, alle sind irgendwie über den Club verteilt. Als ich die Stufen zur S-Bahn hinuntergehe, kommt mir ein Typ entgegen. Etwa ein paar Jahre älter, ich erinnere mich nicht mehr genau. Wir begegnen uns etwa auf der Hälfte der Treppe, als er mir ungewöhnlich nah kommt.

Und da ist es auch schon passiert. Seine Hand fährt zwischen meine Beine, er greift ordentlich zu und geht in der nächsten Sekunde weiter, als wäre nichts gewesen. Als wäre das, was er gerade gemacht hat, wie ein Schulterklopfen bei einem guten Freund gewesen. Sprachlos und steif vor Anspannung gehe ich weiter nach unten zur S-Bahn.

Ich erzähle niemandem davon und versuche, die Erinnerungen an diesen Abend die nächsten Jahre meines Lebens möglichst weit hinten in meinem Kopf zu behalten. Wenn ich heute an dieses Erlebnis erinnere, denke ich immer noch „Gott sei Dank ist nichts Schlimmeres passiert“. Dass das nur der Anfang der Geschichte meiner sexuellen Belästigung ist, konnte ich damals nur erahnen.

Age 18 (Carlotta)

18! Erwachsen! Abi in der Tasche! Und das erste Mal von Zuhause weg! Ich bin in Berlin und absolviere ein Praktikum im Bundestag. An den Wochenenden gehe ich mit den anderen Praktikant:innen feiern und genieße die unendlichen Möglichkeiten des Berliner Nachtlebens. Ich liebe mein Leben. An einem Freitag verabrede ich mich mit einer Freundin erstmal auf ein Bier, der Plan ist aber schon, danach noch weiterzuziehen.

Nach unserem Bierchen bekommen wir beide noch Appetit und teilen uns beim Imbiss um die Ecke eine Pizza. Das letzte Stück nehme ich mit auf die Hand. Los geht’s zur Sparkasse, denn Bargeld ist unverzichtbar bei einem nächtlichen Trip durch Berlin. Wir stehen an der Ampel und warten darauf, dass es grün wird. Auf der anderen Straßenseite steht ebenfalls wartend eine Gruppe von Männern, wir beachten sie nicht weiter, bemerken aber, dass sie relativ laut sind. Die Ampel springt auf Grün. Auf halber Strecke kreuzen sich unsere Wege mit der Männergruppe, es sind viele, bestimmt zehn.

Das, was jetzt passiert, geht enorm schnell. Einer der Männer hebt meine Freundin hoch und trägt sie ans andere Straßenende. Ich bin so perplex, dass ich in dem Moment gar nicht verstehe, dass auch ich hochgehoben werde. Der Typ, der mich hochhebt, schleppt mich aber nicht an das andere Straßenende, sondern legt mich auf ein an der Ampel haltendes Auto. Für etwa 10 Sekunden, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlen, tut er so, als, ob er in mich eindringen würde.

Der Typ, der mich hochhebt, schleppt mich aber nicht an das andere Straßenende, sondern legt mich auf ein an der Ampel haltendes Auto. Für etwa 10 Sekunden, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlen, tut er so, als, ob er in mich eindringen würde.

Ich habe ein Kleid an, mein Unterkörper liegt also quasi frei. Die Gruppe von Männern steht nun bereits auf der anderen Straßenseite und jubelt ihm zu. Ich habe keine Kraft mich zu wehren, nur noch das Pizzastück in meiner rechten Hand. Mit voller Wucht klatsche ich ihm die Salamipizza ins Gesicht. Erst dann lässt er mich los, flucht noch einmal und verpisst sich.

Schnell laufe ich zu meiner Freundin. Wir beide sind geschockt und können nicht fassen, was da gerade passiert ist. Zwei Tage später bringe ich den Angriff zur Anzeige. Dass das nichts bringen wird, ist mir bewusst. Ich muss es trotzdem tun und zwar für mich. Der Tatbestand des Angriffs lautet „Beleidigung“. Thank you very much.

Age 20 (Jana)

Wir waren etwas trinken – noch eine Geschichte, die mit diesem Satz beginnt. Mit dabei war ein Kumpel von mir, der schon „etwas älter“ war, etwa 12 Jahre. Körperlich jedoch war er ungefähr zwei Köpfe kleiner als ich, daher hatte ich ihn nie „als Gefahr“ eingestuft. Wir zogen von Bar zu Bar zu Club, danach war’s Zeit fürs Bettchen. Vorher holten wir uns im kleinen Kreis noch Fritten am Bahnhof, danach zerstreuten sich alle. Da ich nicht weit vom Bahnhof entfernt wohnte und sehr alkoholisiert war, bot mein Kumpel an, mich nach Hause zu bringen.

Eine harmlose und nette Geste, wie ich dachte. Wir waren damals recht vertraut, weswegen ich mir keine Gedanken machte, als er noch mit hochkam. Zu dem Zeitpunkt war es fünf Uhr morgens und ich war einfach nur fertig. Mein Körper schrie nach Schlaf und Erholung. Ich legte mich auf mein Bett und döste weg. Dann wachte ich blitzartig wieder auf, weil ich merkte, wie jemand sich an meinem Oberteil zu schaffen machte.

Dann wachte ich blitzartig wieder auf, weil ich merkte, wie jemand sich an meinem Oberteil zu schaffen machte.

So betrunken wie ich war, hatte ich weder die Energie noch die Geistesgegenwart mich zu wehren. Mein Kumpel zog mir das Oberteil und den BH aus. Dann begann er, an meinen Brüsten zu saugen. Ich war starr vor Panik und konnte mich sekundenlang nicht wehren. Dann rauschte das Adrenalin durch meinen Körper und ich schaffte es irgendwie, mich aufzurichten und ihn wegzustoßen. Ich weiß nicht mehr wie, aber ich machte ihm klar, dass ich das nicht wollte (natürlich war’s da schon zu spät, weil das schon passiert war) und schmiss ihn aus der Wohnung.

Danach sank ich auf meinem Bett zusammen. Zur Anzeige brachte ich den Vorfall nie, den Kontakt zu dem Kumpel kappte ich. Und bis heute ist dieser Artikel der erste Raum, in dem ich mich dazu äußern konnte.

Age 21 (Carlotta)

Es sind die letzten Tage meines Studiums in Maastricht. Sommer, Sonne, Kaktus! Eine Freundin und ich picknicken im Park und lassen uns die Sonne auf den Pelz scheinen. Alles scheint gut zu werden, drei Jahre Stress liegen hinter uns. Jetzt kann das Leben beginnen! Wir lachen, schnacken und haben einfach eine gute Zeit. Nach ein paar Bierchen merken wir beide, dass wir auf die Toilette müssen. „Toilette“ ist in diesem Fall ein großer Busch in der hintersten Ecke des Parks.

Sie geht zuerst, ich nachdem sie wieder da ist. In diesem Busch bin ich das letzte Mal schon in ein paar Mädchen reingerannt, die sich ebenfalls erleichterten. Man versucht sich dann peinlich berührt und so gut es geht zu ignorieren. Als ich in den Busch trete, sehe ich einen Mann, etwa Mitte 30. Ich vermute, dass er gegen einen Baum pinkelt, schaue auch nicht weiter hin und gehe ein bisschen weiter ins Gebüsch.

Für eine Zehntelsekunde denke ich, dass ich weder mein Pfefferspray noch mein Handy mithabe. Ich versuche mich zu besinnen und rede mir ein, dass ich mich nicht so anstellen soll, immerhin sind wir in Maastricht! Eine Kleinstadt in Holland – für mich ungefähr der sicherste Ort auf dieser Welt.

Als ich in den Busch trete, sehe ich einen Mann, etwa Mitte 30. Für eine Zehntelsekunde denke ich, dass ich weder mein Pfefferspray noch mein Handy mithabe.

Ich hocke mich also zehn Meter weiter hin und sehe im gleichen Moment, wie der Mann anfängt, auf mich zu zu joggen. „Was soll das?“, denke ich mir, denn das Gebüsch führt nirgendwo hin. Ich ziehe meine Unterhose also wieder hoch und warte, bis er vorbeigelaufen ist. Mir ist mulmig, aber zur gleichen Zeit muss ich jetzt wirklich pinkeln. Ich knie mich also wieder hin und versuche angestrengt, mir nichts dabei zu denken. Nach circa fünf Sekunden drehe ich mich verunsichert um, um zu checken, ob er weg ist.

Ist er nicht. Er steht circa fünf Meter hinter mir. Ob er ornaniert sehe ich nicht, nur eben, dass er mir beim Pinkeln zusieht. Wie von der Tarantel gestochen ziehe ich meine Unterhose hoch und sprinte aus dem Gebüsch. Ich fühle mich absolut widerlich. Meiner Freundin erzähle ich von dem Erlebnis, sie nimmt mich in den Arm und wieder mal ist unser Fazit „Wie gut, dass nicht mehr passiert ist“. Ohne Pfefferspray und Handy gehe ich jedoch in kein Gebüsch mehr.

Dies sind unsere Geschichten bis hierhin. All die oben beschriebenen Storys haben uns nachhaltig beeinflusst, verletzt und verändert. Sie haben uns Selbstbewusstsein genommen und Würde abgesprochen. Für uns beide hat es Wochen, Monate, wenn nicht sogar Jahre gebraucht, um über das Erlebte zu reden und es zu verarbeiten. Über manche Dinge können und wollen wir immer noch nicht sprechen, Vieles verstecken wir immer noch in Nebensätzen.

Und wie alle Frauen, leben wir mit der Gewissheit weiter, dass es wieder passieren wird. Sexuelle Übergriffe beginnen früh (bei uns im Vergleich noch relativ spät) und kennen kein Alter. Daher wollen wir ermutigen, LAUT zu werden. Das Erlebte nicht einfach versickern und zu einer weiteren Erfahrung auf unserer jetzt schon langen Liste von Belästigungen werden zu lassen.

Denn nur, wenn wir den Mut aufbringen, gemeinsam laut zu werden, können wir wirklich etwas verändern und dafür sorgen, dass irgendwann mal (wahrscheinlich nicht mehr zu unserer Lebzeit) kein weiterer Punkt auf dieser Liste folgen muss oder alles entsprechend aufgegriffen und als Straftat geahndet wird. Das ist bislang nämlich leider nicht der Fall.

Wenn du sexualisierte Gewalt erfahren hast oder jemanden kennst, kannst du dich an das Hilfetelefon “Gewalt gegen Frauen” wenden, Beratungsangebote in deiner Nähe auf www.gewalt-gegen-frauen.de oder bei der Polizei finden und dich hier über alle Gewaltformen im Netz informieren. Du bist nicht allein.

Über die Autorinnen: Jana und Carlotta schreiben zusammen den Literaturblog Boob Books, in dem sie Bücher von Autorinnen und feministische Themen in den Raum stellen. Generell gilt auf Boob Books: female empowerment all over the place! (Und gute Literatur natürlich, ganz ohne geht’s nicht.)

Lady Jane hat ihr Herz an drei Themen gehängt: Entrepreneurship, Literatur und Female Empowerment. Daher jongliert sie eine Dissertation über Posthumanismus mit einem Job als Business Developerin. Im Rest der Zeit zähmt sie Eichhörnchen und schreibt auf ihrem feministischen Literaturblog Boob Books mit ihrer Co-Bloggerin Carl über Frauen in der Literaturbranche und Bücher mit Female Empowerment-Gehalt. Mehr zu ihr findest du hier.

Carl studiert zwar, ist aber trotzdem total verplant. Sie liebt es zu reisen und sich mit Themen wie Feminismus und Politik zu beschäftigen. Sie verliebt sich ab und zu und ihre Freundinnen müssen sich dann den ganzen Mist anhören. Aber sie machen das gerne – sagen sie zumindest.

Headerfoto: JuanOrdonez via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt und zugeschnitten.) Danke dafür!

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