Klimakrise, Rechtsruck, strukturelle Diskriminierungen, Krieg, Hunger, Naturkatastrophen, Krankheiten. Iran, Afghanistan, Somalia, Ukraine und zahlreiche vergessene Krisen. Auf Instagram könnte man meinen, die Welt bestehe aus nichts anderem mehr als Schmerz, zumindest wenn mensch hauptsächlich aktivistischen, politischen oder newslastigen Accounts folgt. So wie ich. Der Weltschmerz lässt mich aktuell wirklich selten los, insbesondere, wenn ich auf Social Media unterwegs bin.
Der Weltschmerz lässt mich aktuell wirklich selten los.
Ich „durchscrolle“ Instagram und diverse Nachrichten-Apps ständig nach neuen Meldungen, ganz egal, wie niederschmetternd sie sind – und das tut mir ab einem gewissen Punkt gar nicht gut. „Doomscrolling“ nennt man das schier endlose Konsumieren von schlechten Nachrichten auf verschiedenen Medienkanälen, was besonders von der Corona-Pandemie geprägt wurde.
„Negativity Bias“ – wenn das Schlechte überwiegt
Dass wir uns online häufiger mit negativen Schlagzeilen als mit positiven konfrontiert sehen, ist vor allem auf den „Negativity Bias“ zurückzuführen – eine verstärkte Wahrnehmung negativer Ereignisse. Unser Gehirn verarbeitet nämlich negative Informationen schneller und so, dass sie uns länger in Erinnerung bleiben. Die Fokussierung des Schlechten sorgt für ein Ungleichgewicht, das viele Medien weiter befeuern, indem sie mehr negative Beiträge veröffentlichen. Wir reagieren auf Negatives meist emotionaler und interagieren daher auch mehr mit Posts, die von schlechten Nachrichten berichten – was der Algorithmus erkennt, der uns solche Posts dann viel eher in die Timeline spült.
Wenn wir uns ständig schlimmen Nachrichten aussetzen, kann dies Folgen für unsere mentale Gesundheit haben.
Wenn wir uns ständig schlimmen Nachrichten aussetzen, kann dies Folgen für unsere mentale Gesundheit haben: Dauerstress, Schlafmangel, Erschöpfung und eine höhere Reizbarkeit. Die Reizüberflutung durch ständig wechselnde Themen kann für Frustration und Abgestumpftheit sorgen. Und diese Abgestumpftheit ersetzt die Emotionalität, die uns eigentlich antreibt, aktivistisch zu sein und uns gegen Unrecht auszusprechen.
(Wie) funktioniert Abgrenzung?
Jede Form von Aktivismus setzt auch emotionale und mentale Kapazitäten voraus. Immer wieder wird deshalb in aktivistischen Kreisen von Abgrenzung und radikaler Selbstfürsorge als Notwendigkeit gesprochen.
Aber wie funktioniert Abgrenzung? Meine „im gegenteil“-Kollegin Anni hat mich einmal gefragt: „Was sind leichte Themen, mit denen du dich beschäftigst, wenn du einfach mal abschalten willst?“ Diese Frage lässt mich seitdem nicht los. Lange dachte ich, mein abendliches „Doomscrolling“ vor dem Schlafengehen würde mich ablenken. Dann habe ich realisiert, dass das letztendlich nur eine Ablenkung vom Weltschmerz durch noch mehr Weltschmerz ist.
Ich habe realisiert, dass „Doomscrolling“ letztendlich nur eine Ablenkung vom Weltschmerz durch noch mehr Weltschmerz ist.
Darf ich mich überhaupt abgrenzen, frage ich mich manchmal. Menschen, die unmittelbar betroffen sind von aktuellen Geschehnissen, können sich diesen schließlich auch nicht einfach entziehen. Und wenn das Internet der einzige Raum ist, den sie nutzen können und müssen, um auf Missstände aufmerksam zu machen, klingt ein Social-Media-Detox auf sie wahrscheinlich eklig privilegiert und ignorant. An meinen bestehenden Privilegien kann ich nichts ändern, aber ich will nicht ignorant sein. Wie finde ich also einen guten Umgang damit?
Auf Instagram über Krisen sprechen
Instagram zu meiden ist für mich nicht die Lösung. Nicht in Zeiten wie diesen, in denen multiple Krisen unsere Aufmerksamkeit und unsere Stimmen erfordern, besonders auch die Stimmen nicht betroffener, privilegierter Menschen.
Ich habe dabei oft das Gefühl, keiner Krise richtig gerecht zu werden. Wegschauen ist keine Option, aber ich kann unmöglich allem die gleiche Aufmerksamkeit schenken, dazu fehlen mir Zeit, Kapazität und Ressourcen. Mich entscheiden zu müssen, zu priorisieren, worüber ich mich weiter informiere und wo ich es bleiben lasse, ist eine schmerzhafte Wahl für mich.
Woher nehme ich mein Recht, über die eine Krise zu sprechen und über die andere zu schweigen?
Denn woher nehme ich mein Recht, über die eine Krise zu sprechen und über die andere zu schweigen? Ist das überhaupt mein Recht und nicht viel mehr mein Privileg? Mein Privileg, wegschauen zu können, wenn ich nicht unmittelbar betroffen bin.
Ich hinterfrage meinen Instagram-Aktivismus regelmäßig und ich weiß, ich bin nicht allein damit. In Zeiten, in denen alles immer schneller wird, wird die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen immer kleiner. Wer liest überhaupt noch, was ich teile? Ist es okay, was ich teile? Gibt es Dinge, über die ich nicht sprechen sollte? Und Dinge, über die ich nicht schweigen sollte? Wo ist meine Stimme wichtig, wo nimmt sie anderen Stimmen Raum? Wann ist es wichtig, mich zu de-zentrieren und andere sprechen zu lassen?
Wann ist es wichtig, mich zu de-zentrieren und andere sprechen zu lassen?
Wie oft spreche ich über andere, anstatt mit ihnen? Wie oft spreche ich für andere, anstatt zuzuhören? Wie finde ich eine Sprache, die Menschen dort trifft, wo sie stehen, die sie abholt und mitnimmt, anstatt an ihnen vorbeizuziehen und sie in Unverständnis zurückzulassen?
Inmitten all dieser Fragen merke ich, wie ich zurückhaltender werde und meine Stimme leiser.
Gesunder (Instagram-)Aktivismus?
Wir müssen uns bewusst machen, dass Aktivismus, egal ob on- oder offline, nur möglich ist, wenn wir auf unsere eigenen Kapazitäten Acht geben. Auf uns und unsere Mitmenschen aufpassen. Wenigstens jeden Tag Momente der Abgrenzung finden, indem wir etwas tun, das uns gut tut.
Die Balance zwischen Selbstfürsorge und Achtung eigener Grenzen und dem Bewusstsein über die eigenen Privilegien und Verantwortungen wird immer schwierig zu halten sein, vielleicht ist das sogar eine lebenslange Übung. Es gibt Zeiten, in denen wir mehr Kapazität haben, uns zu positionieren und es gibt Zeiten, in denen unsere Stimmen leiser sind – und die anderer dann hoffentlich umso lauter. Und es gibt Zeiten, in denen müssen wir laut sein, damit andere einmal leise sein können.
Es gibt Zeiten, in denen müssen wir laut sein, damit andere einmal leise sein können.
Ich versuche aktuell auch auf Instagram einen kleinen Gegenpol zu all den schlechten Nachrichten zu finden. Ich folge jetzt aktiv auch Accounts, die jeden Tag positive Entwicklungen aufzeigen und damit verdeutlichen: Nicht alles wird immer schlimmer, auch wenn unser Blick meistens darauf liegt. Ich möchte euch einerseits ans Herz legen, diesen oder ähnliches Accounts zu folgen und abends auch mal das Handy wegzulegen. „Doomscrolling“ könnt ihr z.B. durch Timersetzung (z.B. max. 15 Minuten auf Instagram) im Handy Einhalt gebieten, insbesondere, wenn ihr gerade keine Kapazitäten für mehr Weltschmerz habt. Findet eure Balance, bleibt trotzdem aktiv und aktivistisch, wenn möglich. Die Balance sieht natürlich bei jedem Menschen anders aus und das ist vollkommen okay. Hört auf euch und euer Gefühl.
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