Die folgende Auswahl an fiktiven Selbstmorden ist eine Liebeserklärung an die Literatur selbst, aber auch ein Versuch sich einem doch eher unliebsamen Thema zu nähern. Unumstritten verhandeln Autoren das Motiv seit jeher. Manchmal romantisch, oft skurril und fast immer als ein Akt der Selbstbefreiung. Die Bilder, das muss man ihnen zugestehen, begegnen dieser Auseinandersetzung künstlerisch, seien sie auch noch so grotesk anzusehen.
Selbstverständlich soll dies keine Anleitung sein, vielmehr zeigt sich über die Fiktion, wie dem Suizid gar etwas Verächtliches genommen wird. Bizarr? Nun, das soll es sein. Der erste deutschsprachige Erzähltext, der sich eingehend mit dem Ereignis des Suizids beschäftigt, ist natürlich Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers. Und eben dieser bildet den Auftakt.
Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers
Wer: Ur-Hipster Werther
Diagnose: manisch-depressiv
Motiv: Liebeskummer, Weltschmerz, Langzeitarbeitslosigkeit
Suizid durch: Kopfschuss
Klassisch dargestellt an einem Schreibtisch. Lotte hat sich für Albert entschieden. Man kennt diese vertrackte Dreiecksgeschichte aus dem Deutschunterricht. Ein äußerst empfindsamer Mensch, der samt seines berühmten blauen Fracks mit gebrochenem Herzen und einem Schuss untergeht. „Kein Geistlicher hat ihn begleitet.“ – Und doch eine Ikone bis heute.
Johann Wolfgang von Goethe „Die Leiden des jungen Werthers“, Insel Verlag 2011, 172 Seiten, 5,00 Euro.
David Foster Wallace: Unendlicher Spaß
Wer: Filmemacher James Orin Incandenza
Diagnose: Alkoholiker, schwere Kommunikationsprobleme
Motiv: kein besonderer Grund
Suizid durch: Kopf in die Mikrowelle
David Foster Wallace, der Kultautor, der sich 2008 das Leben nahm, machte den Suizid zu einem sehr zentralen und wiederkehrenden Leitthema. Oft töten sich bei Wallace jene mit besonderen intellektuellen Fähigkeiten, die an der Herausforderung, sich in die Gesellschaft einzuordnen, scheitern. Ein bestimmter Auslöser ist nicht immer ersichtlich. Interessant an dem Selbstmord des Vaters in Unendlicher Spaß ist die Tatsache, dass der Suizid so absurd in der Durchführung ist, dass es einen tagelang nicht mehr los lässt.
David Foster Wallace „Unendlicher Spaß“, Rowohlt Verlag 2011, 1552 Seiten, 17,99 Euro. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach.
Umberto Eco: Der Name der Rose
Wer: Bibliothekar Jorge von Burgos
Diagnose: paranoide Persönlichkeitsstörung
Motiv: will verhindern, dass das Buch des Aristoteles andere zum Lachen bringt
Suizid durch: löst sich auf durch Gift und Feuer
Der Mörder Burgos, der andere vergiftet, um sie vom Lachen abzuhalten. Denn: „Lachen tötet die Furcht und ohne Furcht kann es keinen Glauben geben. Wer keine Furcht mehr vor dem Teufel hat, braucht keinen Gott mehr […] dann können wir auch über Gott lachen.“ Er isst die vergifteten Seiten des Buches und zündet kurzerhand die ganz Bibliothek an. Ein sehr schräger Move, da er den eigenen Tod einfach als Konsequenz in Kauf nimmt.
Umberto Eco „Der Name der Rose“, Deutscher Taschenbuch Verlag 1982, 688 Seiten, 9,90 Euro. Übersetzt aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber.
William Shakespeare: Macbeth
Wer: Lady Macbeth
Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung
Motiv: Schuldgefühle wegen Beihilfe zum Mord
Suizid durch: unbekannt
These: Schnitt in die Pulsader
„Fort, verdammter Fleck, fort, sag ich!“ Dieser Selbstmord funktioniert nur in der Vorstellungskraft. Lady Macbeth leidet seit dem Mord an dem König unter akutem Schlafmangel. Zwar übt sie nur indirekt die Tat aus, wird aber für den Rest des Stückes von Halluzinationen und schlechtem Gewissen geplagt. Kurzum: Sie verfällt dem Wahnsinn. Ganz typisch für Shakespeare erfährt der Zuschauer nur über einen Dritten von ihrem Freitod.
William Shakespeare „Macbeth“, Reclam Verlag 1986, 272 Seiten, 6,00 Euro. Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk.
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet
Wer: Bauunternehmer Jean-Pierre Martin
Diagnose: Darmkrebs
Motiv: Vermeidung unnötiger Schmerzen
Suizid durch: aktive Sterbehilfe
Ein One-Way-Ticket in die Schweiz, bitte! Der Medikamenten-Cocktail als letzte Willensentscheidung über den eigenen Körper. Spannend an diesem Selbstmord, wenn man ihn so einordnen möchte, ist die Tatsache, dass der Leser zusammen mit dem Sohn nur von der Sterbehilfe-Organisation erfährt, dass „die Prozedur ganz normal verlaufen“ sei.
Michel Houellebecq „Karte und Gebiet“, Dumont Buchverlag 2012, 416 Seiten, 9,99 Euro. Übersetzt aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Stephen King: 1408
Wer: Henry Storkin
Diagnose: Psychose
Motiv: verbringt eine Stunde in Zimmer 1408 des Dolphin Hotels
Suizid durch: Erhängen im Kleiderschrank
Ebenso wie bei Wallace begehen auch bei King eine Reihe von Charakteren Selbstmord. 1408 ist eine Kurzgeschichte aus Kings Im Kabinett des Todes. Die meisten werden vermutlich sofort an die Verfilmung denken, welche sich allerdings erheblich von der Literaturvorlage unterscheidet. Insgesamt tragen sich 12 Selbstmorde in diesem Zimmer zu. Henry Storkin, dem ebenso auch eine missglückte BDSM-Praktik unterstellt wird, flüchtet sich in den Kleiderschrank und erhängt sich dort.
Stephen King „Im Kabinett des Todes“, Heyne Verlag 2013, 592 Seiten, 9,99 Euro. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Joachim Körber und Wulf Bergner.
Carson McCullers: Das Herz ist ein einsamer Jäger
Wer: Graveur John Singer
Diagnose: prolongiertes Trauer-Syndrom
Motiv: Verlust seines Freundes
Suizid durch: Herzschuss
Ein sehr unvorhersehbarer Selbstmord. Es die Einsamkeit, die den rätselhaften und taubstummen Antihelden Singer in den Tod treibt. Sein Freund stirbt und so entschließt er sich, die Pistole an sein Herz zu legen und abzudrücken. Vor dem tödlichen Schuss trinkt er noch ein Glas eisgekühlten Kaffee und raucht eine letzte Zigarette. Tennessee Williams schrieb über die Autorin: „Carsons Herz war oft einsam, und es war ein unermüdlicher Jäger auf der Suche nach Menschen, denen sie es anbieten konnte; aber es war ein Herz, das mit einem Licht gesegnet war, das seine Schatten überstrahlte.“
Carson McCullers „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, Diogenes 2012, 600 Seiten, 11,90 Euro. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Susanna Brenner-Rademacher
Friedrich Schiller: Wilhelm Tell
Zugegeben, kein richtiger Selbstmord. Zählt aber zu dem wohl schrägsten Selbstmordversuch in der Geschichte der Literatur. Wilhelm Tells Sohn Walter, auf dessen Kopf der Apfel platziert ist, überlebt den gefährlichen Schuss. Die Ehefrau des amerikanischen Schriftstellers William S. Burroughs hatte dabei weniger Glück. Unter Einfluss von Alkohol stellten die beiden die Szene nach. Mit einer Waffe schoss er an dem Glas auf ihrem Kopf vorbei und traf sie stattdessen mitten ins Gesicht.
Friedrich Schiller „Wilhelm Tell“, Reclam Verlag 2013, 165 Seiten, 4,40 Euro.
Sollten euch eure Gefühle übermannen, eure Seele streiken, euch einfach alle zu viel sein, nehmt das bitte ernst und meldet euch hier! Das Leben ist das kostbarste Geschenk, was uns gegeben wurde. Auch, wenn es manchmal weh tut. Love yourself!
Der spektakulärste Selbstmord in der Literatur für mich: Edna Pontellier in Kate Chopins The Awakening – wunderbar dramatisch.