Ich bin ein (Samen-) Spenderkind: Wie es sich anfühlt, den genetischen Vater nicht zu kennen

Heute zoome ich mit Kerstin. Sie ist Mutter zweier Söhne, 39 Jahre alt, eine wahre Frohnatur, Kommunikationsberaterin und eins von etwa 100.000 Spenderkindern in Deutschland. Die Hälfte ihrer DNA stammt von einem anonymen Samenspender, den sie bis heute nicht kennt. Dass sie die Gene ihres sozialen Vaters nicht teilt, erfährt sie erst mit 34.

Kerstin wird in den 80ern durch heterologe Insemination gezeugt – die künstliche Befruchtung mit dem Samen eines fremden Mannes. Damals sind anonyme Spenden ohne Option auf Offenlegung der genetischen Abstammung üblich. Erst im Jahr 2017 wird das Gesetz zur Regelung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung beschlossen, das für alle ab 2018 gezeugten Spenderkinder gilt.

Die Hälfte ihrer DNA stammt von einem anonymen Samenspender, den sie bis heute nicht kennt. Dass sie die Gene ihres sozialen Vaters nicht teilt, erfährt sie erst mit 34.

Seither existiert das zentrale Samenspenderregister, das personenbezogene Daten für 110 Jahre speichert. Spenderkinder können ab dem Zeitpunkt ihrer Geburt Einsicht verlangen. Zu spät für Kerstin, deren relevante Akten nach Aussage des behandelnden Arztes vernichtet wurden, bevor sie von der Existenz einer unbekannten Variable in ihrer DNA erfährt.

Als Kerstin über die Umstände ihrer Zeugung informiert wird, packt sie die Neugier. Sie fängt an zu recherchieren, stößt auf den Verein Spenderkinder, speist ihre DNA in eine Datenbank und wirkt bei einer Dokumentation des Bayerischen Rundfunk zum Thema Kinderwunsch mit. Kerstin möchte für das Thema sensibilisieren und betroffenen Eltern zeigen, dass Spenderkinder durchaus auch positiv auf die Wahrheit reagieren können.

Gleichzeitig weiß sie, dass viele Spenderkinder mit der Realität ihrer Zeugung und der Suche nach dem fehlenden genetischen Puzzleteil schwer zu kämpfen haben.

Kerstin (oben) im Video-Interview mit Redakteurin Jenny.

Kerstin, du bist ein Spenderkind. Weißt du, wo die Samenvermittlung stattfand und unter welchen rechtlichen Voraussetzungen?

Kerstin: Ich weiß leider nicht viel darüber, denn meine Mama hat damals keinerlei Unterlagen erhalten und konnte deshalb nur ihre Erinnerungen mit mir teilen. Es fand aber alles offiziell in einer Praxis in München statt, der Arzt praktiziert heute nicht mehr. Ich habe Kontakt mit ihm aufgenommen und um meine Akten gebeten, nach seiner Aussage existieren aber angeblich keine.

Der Arzt hat meinen Eltern sehr eindringlich gesagt, sie sollten ihren Kindern auf keinen Fall von der Samenspende berichten.

Fest steht, dass der Arzt meinen Eltern damals versicherte, mein drei Jahre jüngerer Bruder und ich hätten denselben Spender.  Es stellte sich heraus, dass das eine Lüge war. Und was auch dubios war: Der Arzt hat meinen Eltern sehr eindringlich gesagt, sie sollten ihren Kindern auf keinen Fall von der Samenspende berichten.

Das heißt, euren genetischen Vätern wurde Anonymität zugesichert?

Kerstin: Davon gehe ich aus, ja. Der Spender hat sich auch bei keiner Gendatenbank registrieren lassen – oder zumindest nicht bei derjenigen, bei der ich meine Daten hochgeladen habe. Ich hätte über die Gendatenbank auch gern Halbgeschwister gefunden, die auch von ihrem Schicksal wissen und auf die Suche nach ihren Wurzeln gegangen sind. Leider habe ich keine gefunden. Das wäre schön gewesen.

Wann hast du davon erfahren, dass du ein Spenderkind bist?

Kerstin: Ich war schon 34, als ich es erfahren habe. Meine Mama hat über all die Jahre die Berichterstattung zu dem Thema verfolgt und geriet immer mehr in Konflikt mit ihrem eigenen Gewissen. Die Ansage des Arztes zur Geheimhaltung stand in krassem Gegensatz zu den Aussagen der Zeitungsartikel. Dort hieß es sehr deutlich, dass Eltern ihren Kindern die Wahrheit über ihre Identität nicht vorenthalten dürfen.

Die Ansage des Arztes zur Geheimhaltung stand in krassem Gegensatz zu den Aussagen der Zeitungsartikel.

Der Druck nahm zu. Sie konnte sich aber lange kein Herz fassen. Irgendwann hat sie dann damit begonnen Andeutungen zu machen, sie müsse mit uns sprechen, allerdings ohne ihr Vorhaben tatsächlich in die Tat umzusetzen. Wir haben uns damals Sorgen gemacht, Mama könnte schwer krank sein. Als die Wahrheit dann ans Licht kam, waren wir schon fast erleichtert, dass es zwar einschneidend, aber nicht lebensbedrohlich oder anderweitig dramatisch war.

Der Beweggrund deiner Eltern, euch so lange nichts zu erzählen, war der Ratschlag des Arztes?

Kerstin: Ja, genau. Meine Eltern haben hier nach bestem Wissen und Gewissen die Anweisung des Mediziners befolgt. Und irgendwann war dann gewiss auch der Moment vorbei, in dem man so etwas unkompliziert mit den Kindern besprechen kann. Diese Lebenslüge hat unsere Mama über Jahrzehnte innerlich zerfressen. Und wir wussten von nichts. Tragisch!

Was hat es damals mit dir gemacht, das zu erfahren und auch erst relativ spät?

Kerstin: Viele der anderen Spenderkinder leiden enorm unter der jahrelangen Unehrlichkeit und fühlen sich von ihren Eltern hintergangen. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, fühle aber zum Glück anders und mein Bruder auch. Viel wichtiger ist für uns, dass unserer Mama endlich dieser Felsbrocken vom Herzen gefallen ist. Und mein sozialer Vater bleibt mein Papa. Insofern hat sich an unseren familiären Strukturen nichts geändert, weshalb die Offenbarung  auch im späten Alter nur Erleichterung und damit Positives mit sich gebracht hat.

Es hat also gar nichts im Verhältnis zu deinen Eltern oder zu deinem Bruder geändert?

Kerstin: Gar nicht. Es ist eher so, dass ich Geschehnisse der Vergangenheit besser einordnen kann. Situationen mit meinem Vater haben sich durch diese Information im Nachhinein klarer erschlossen. Was meinen Bruder und mich betrifft, haben wir erst im Zuge der Recherche erfahren, dass wir keine Vollgeschwister sind. Damit hätten wir im Leben nicht gerechnet. Zunächst hat mein Bruder gar keinen DNA-Test gemacht, weil wir natürlich davon ausgingen, dass meine Ergebnisse auch für ihn gelten.

Wir haben mehr als dreißig gemeinsame Jahre auf dem Buckel, daran kann auch diese Erkenntnis nichts ändern.

Er hat sich dann aber doch dazu entschlossen und so bekamen wir eines Tages von der Datenbank die Nachricht: „Sie haben einen Treffer. Halbgeschwister gefunden.“ Erst war die Freude groß, aber dann wurde klar: Mist, der Treffer bezieht sich auf uns beide. Mein eigener Bruder ist nur mein Halbbruder. Das war dann ein kurzer Downer. Aber abgehakt. Es hilft ja nichts. Das ist unsere Familiengeschichte. Wir haben mehr als dreißig gemeinsame Jahre auf dem Buckel, daran kann auch diese Erkenntnis nichts ändern. Mir ist bewusst, dass dieses Erleben ein großer Segen ist, denn andere Spenderkinder kämpfen schwer mit ihrem Schicksal.

Dein Bruder hat auch keine anderen Halbgeschwister gefunden?

Kerstin: Nein, bisher nicht. Wobei wir aber zugeben müssen, dass wir uns aus Zeitgründen nicht tiefer in das Thema eingearbeitet haben. Wir könnten zum Beispiel unsere DNA-Daten noch bei weiteren Datenbanken hochladen und auf Treffer hoffen. Bei uns war es eher die Neugier im ersten Moment und beim Googeln sind wir auf den grandiosen Verein Spenderkinder gestoßen. Hier geben sehr engagierte Betroffene eine erste Orientierung im Dschungel der vielen Fragezeichen  das ist ganz toll! Nachdem bei meiner Suche aber nichts rauskam, habe ich es erstmal abgehakt. Was zählt, ist meine Familie, mit der ich lebe und nicht die Suche nach potentiellen weiteren Familienmitgliedern.

Was hat dir nach der Offenbarung geholfen, mit deiner neuen Realität umzugehen?

Kerstin: Ich persönlich fühle mich so gefestigt in meiner Familie, dass ich einfach nur dankbar bin. Meine Hauptbezugsperson war ohnehin immer meine Mama  und die bleibt. Die neue Realität hat also keinen großen Schmerz verursacht, weil für mich eher die gemeinsamen Jahre mit meinen Eltern zählen, nicht die Gene.

Dennoch: Der Verein Spenderkinder ist eine tolle Quelle der Information und hat mir eine Orientierung für die nächsten Schritte der Recherche vorgegeben. Die Menschen dahinter sind wahnsinnig lieb, antworten sehr schnell und fangen auf, wer mit seinem Schicksal hadert. Die Geschichten der Spenderkinder sind vielfältig und genauso vielfältig sind auch die Reaktionen auf die Wahrheit. Viele gehen unglaublich souverän damit um, obwohl es sie schmerzt, einige kämpfen sich durch gerichtliche Verhandlungen, andere sind politisch aktiv und sensibilisieren an geeigneten Stellen für dieses Thema. Das hat mich sehr beeindruckt und ist auch der Grund, warum wir jetzt miteinander sprechen.

Ich habe keine Zeit, mich politisch oder anderweitig zu engagieren, aber ich kann kurz meine Geschichte erzählen. Um zu zeigen, dass dies ein Familienmodell ist, das auch mit der Wahrheit funktionieren kann. Natürlich nur unter bestimmten Voraussetzungen. Aber wenn auch nur ein einziges betroffenes Elternteil dieses Interview liest und begreift, wie befreiend eine ehrliche Beziehung für beide Seiten sein kann und sich dann traut, den eigenen Kindern die Wahrheit zu sagen, dann ist schon ganz viel gewonnen.

Wie gehst du selbst in deinem familiären Umfeld mit dem Thema um?

Kerstin: Total offen. Meinem Mann und den Kindern habe ich es gleich erzählt. Familie ist bunt und ich finde es ganz wichtig, dass dies auch meinen Kids bewusst ist. Toleranz, Offenheit, Wohlwollen und eine gesunde Portion positiver Neugier für all die Dinge, die sie noch nicht kennen, würde ich ihnen gern mitgeben.

Wenn wir unseren Kinder beibringen, dass Vielfalt normal ist, geben sie genau denjenigen ein gutes Gefühl, die es oftmals nicht so leicht haben.

Wenn wir unseren Kinder beibringen, dass Vielfalt normal ist, geben sie diese Offenheit hoffentlich auch an andere Kids weiter und geben genau denjenigen ein gutes Gefühl, die es oftmals nicht so leicht haben. Ich denke da an BIPoC, Regenbogenfamilien, andere Religionen oder auch an Alleinerziehende mit ihren täglichen Herausforderungen. Wenn wir vorleben, dass auch bei uns in der Familie nicht alles super geradlinig ist, gelingt diese Wertevermittlung vielleicht noch leichter.

Wenn du ändern könntest, wie in deiner Familie mit dem Thema umgegangen wurde, was würdest du ändern?

Kerstin: Ich würde meiner Mama sagen: Erzähl es uns früher, damit du nicht so lange leidest. Ich glaube, für mich war es ein ganz guter Zeitpunkt. Ich war selber schon Mama, in mir gefestigt, sodass mich die Neuigkeit nicht aus der Bahn geworfen hat. Insofern würde ich gerne den Zeitpunkt ändern, an dem meine Eltern mit uns drüber gesprochen haben aber gar nicht so sehr aus egoistischer Sicht, sondern eigentlich für sie, damit sie nicht ewig Sorge haben müssen, dass das die Familie zerstören könnte.

Hättest du es auch gerne früher erfahren? Die Chancen wären eventuell höher gewesen, dass die Akten zu deiner Person noch vorhanden sind und du Einsicht bekommst.

Kerstin: Ja, das wäre natürlich cool gewesen. Aber ich habe nie tiefer recherchiert, welche rechtlichen Möglichkeiten ich eigentlich hätte, um eine Akteneinsicht zu erstreiten. Ein Vereinsmitglied, das in der gleichen Praxis entstanden ist wie ich, hat nach einem langen Rechtsstreit Akteneinsicht erhalten und am Ende tatsächlich den Spender gefunden, was ein großer Erfolg ist. Hier hätte auch ich vielleicht noch anknüpfen können, aber ich habe mir dafür keine Zeit genommen.

Was ist das für dich für ein Gefühl, dass du eventuell nie erfahren wirst, wer dein genetischer Vater ist?

Kerstin: Es ist schon schade. Ich fände es spannend zu erfahren, welche Charaktereigenschaften oder optischen Details von meinem genetischen Vater stammen. Lustigerweise habe ich vieles meinem sozialen Papa zugeschrieben und dann festgestellt, dass ich hier völlig falsch lag. Rein zeitlich wird es langsam immer enger den Spender zu finden, denn ich bin inzwischen fast 40 und auch er wird ja nicht jünger.

Zum Glück stürzt mich das aber in keine Krise. Ich werde immer mal wieder daran erinnert, wenn ich zum Beispiel Gesundheitsbögen mit der Rubrik „Vorerkrankungen der Eltern“ ausfüllen muss  da kann ich immer nur 50 Prozent beantworten, weil ich von dem Rest nichts weiß. Generell glaube ich, dass es eine Bereicherung sein kann, den genetischen Vater zu finden.

Der Verein Spenderkinder setzt sich unter anderem dafür ein, dass das Recht zu erfahren, wo die genetischen Wurzeln liegen, anerkannt wird. Siehst du das genauso?

Kerstin: Ich glaube, dass allein aufgrund der oft schmerzlichen Erfahrungen der bisher betroffenen Spenderkinder in Zukunft viel sensibler mit diesem Thema umgegangen werden muss. Viele geraten in Identitätskrisen, weil sie dieses Recht auf Abstammung für sich nicht in Anspruch nehmen können. Früher hat man sich meines Erachtens viel zu wenige Gedanken über die Folgen für die betroffenen Kinder gemacht. Hier leistet der Verein wertvolle Arbeit.

Ehrlichkeit ist wichtig. Und die Maßgabe, dass das Leben, das entsteht, nicht von vornherein belastet werden darf. Insofern: Ja. Jedes Kind hat das Recht auf Kenntnis seiner genetischen Herkunft. Und das sollte es einfach wahrnehmen können. Dazu ist es auch notwendig, dass es überhaupt erstmal von seiner Entstehungsweise erfährt.

Manche Spenderkinder berichten von einer Vorahnung oder einem Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt, hattest du sowas?

Kerstin: Es gab in unserer Familie durchaus immer mal wieder Momente, in denen meine Mama und wir beiden Kinder eine verschworene Dreierkombi waren, während mein Vater eher außen vor war. In der Rückschau erklärt das einiges. Wie tief da die Krisen meines Vaters waren, weiß ich nicht. Ich kann nur erahnen, dass es für ihn nicht leicht war damals. Es gab also eine Ahnung, die ich nicht einordnen konnte, aber konkret darüber nachgedacht habe ich erst, als meine Mama mit den Andeutungen anfing.

Gibt es irgendwas, was du potenziellen Eltern, die über künstliche Befruchtung mittels Samenvermittlung nachdenken, mitgeben würdest?

Kerstin: Auch hier würde ich eine Recherche über die Internetseite der Spenderkinder empfehlen. Aus der Erfahrung mit meinen Eltern und den Erzählungen anderer Spenderkinder, glaube ich, dass Ehrlichkeit gegenüber dem Kind die Grundlage für ein langfristig friedvolles und harmonisches Miteinander in der Familie ist. Denn: Ein Familiengeheimnis dieses Kalibers hat eine große Kraft der Zerstörung. Für mich ist Offenheit der Schlüssel.

Headerfoto: Interviewpartnerin Kerstin. („Kiezgeschichten“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

Jenny liebt Musik. In besseren Zeiten schlug sie sich die Nächte in Fernbussen um die Ohren, um Konzerte quer durch Europa zu besuchen und sich im Moshpit zu verausgaben. Seit das in der Form nicht mehr möglich ist, ist sie seltener verletzt und kann sich voll und ganz aufs Lesen und Schreiben konzentrieren. Das liebt sie mindestens genauso sehr und hat so ihren Weg ins traumhafte im-gegenteil-Team gefunden. In ihrer Freizeit hält sie sich stundenlang in Buchhandlungen auf, liebt Kino und ernährt sich ausschließlich von Nudeln. Besonders Udon!

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