Es war schwer für die deutschen Verlage und die Autor*innen, die in diesem Frühjahrsprogramm ihre Werke vorgelegt haben. Dennoch gilt es jetzt wertzuschätzen, was vor und während dieser Zeit entstanden ist und jetzt immer noch für uns vorhanden ist: ein wunderbares Frühjahrsprogramm, das bis in den Hochsommer reicht.
Hier also meine Tipps für den Sommer 2020 aus dem Frühjahrsprogramm 2020.
Liv Strömqvist – Ich fühl’s nicht
Passend zum Sommer, weil? Der Sommer schafft trotz aller Andersartigkeit romantische Assoziationen. Dieses Buch eignet sich zum ertappt werden, lachen, kritisch hinterfragen. Als würde man ein aufgeheiztes Gespräch mit einem kühlen Getränk pausieren.
Optimaler Lesegenuss: Am Vorabend
Details: Die schwedische Comic-Autorin hat nach ihrem Erfolg, einem Graphic Manifest der jüngeren feministischen Literatur, erneut einen eindrucksvollen Blickwinkel gezeichnet.
Genau diese schraffierten Blicke Liv Strömquists sind in ihrer Direktheit so wichtig für die Gegenwartsliteratur. Gesellschaftspop. Und wenn die Geschichte dann mit einem lethargischen Leonardo Di Caprio beginnt, ist das zusätzlich amüsant. Ich fühl’s nicht: ein derart treffend gesellschaftlich populärer Satz, der begeistert und genau deswegen so viele Adjektive verdient.
Wieso hüpfen manche Menschen von einer Liebeswolke zur anderen? Wieso ähneln sich viele verliebte Verhaltensweise gerade in der westlichen Welt? Und was haben Kapitalismus, Zwänge und Konsumgesellschaft damit zu tun? Liv Strömquist geht diesen Fragen im Comic auf den Grund. Ein eindrucksvolles Werk!
Liv Strömquist – Ich fühl’s nicht | Übersetzt aus dem Schwedischen von Katharina Erben
Avant-Verlag, Berlin, 2020
Softcover, 176 Seiten, 20,00 €
ISBN: 978-3-96445-028-9
Cover links: Avant-Verlag, Cover rechts: S. Fischer Verlag
Thorsten Nagelschmidt – Arbeit
Passend zum Sommer, weil? Ich wollte gerade statt Sommer „Sog“ schreiben – ich glaube, das erklärt es ziemlich gut.
Optimaler Lesegenuss: In einer Bar
Details: Thorsten Nagelschmidt sieht für uns in seinem neuen Roman hinter die Vorhänge der nächtlichen Großstadt. Wo die sind? Unter Theken, über den Straßen und in den Drogen – und Arbeitszimmern. Solche, die die Unterhaltungsmaschine antreiben.
Der Autor und Musiker lässt die Protagonist*innen in diesem Großstadtroman aufschreien, ohne dass sie sich beklagen. Wir hören gespannt zu, während wir sonst vor lauter Rausch, Musik und Hektik damit beschäftigt sind, sicher durch die Nacht zu kommen.
Eine präzise, schnelle und einnehmende Collage.
Thorsten Nagelschmidt – Arbeit
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2020
Hardcover, 336 Seiten, 22,00 €
ISBN: 978-3103974119
Olivia Wenzel – 1000 Serpentinen Angst
Passend zum Sommer, weil? Das Buch ist im Frühsommer 2020, der besetzt ist von Rassismus und Polizeigewalt, eine reflektierende Auseinandersetzung mit Rassismus im Alltag und schafft zeitgleich Aufmerksamkeit. Außerdem erzählt es von Aufbruch und Ferne.
Optimaler Lesegenuss: Wartezimmer, Wartehalle, Allgemein: beim Warten (danach will man sich umso mehr bewegen)
Details: Wahrscheinlich einer der spannendsten Romane des Frühjahrs. Aber langsam:
Eine junge Frau besucht ein Theaterstück über die Wende und ist die einzige schwarze Zuschauerin im Publikum. Mit ihrem Freund sitzt sie an einem Badesee in Brandenburg und sieht vier Neonazis kommen. In New York erlebt sie den Wahlsieg Trumps in einem fremden Hotelzimmer. Wütend und leidenschaftlich schaut sie auf unsere sich rasant verändernde Zeit und erzählt dabei auch die Geschichte ihrer Familie: von ihrer Mutter, die Punkerin in der DDR war und nie die Freiheit hatte, von der sie geträumt hat. Von ihrer Großmutter, deren linientreues Leben ihr Wohlstand und Sicherheit brachte.
Olivia Wenzel (*1985) erzählt mit Wucht und fast schon psychedelischen Elementen die Lebensgeschichte der queeren afro-deutschen Protagonistin und die ihres Bruders und nimmt federleicht Bezug zum gesellschaftspolitischen Tagesgeschehen und dessen Dramatik. Ein aufregend, wichtiges Buch.
Olivia Wenzel – 1000 Serpentinen Angst
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2020
Hardcover, 352 Seiten, 21,00 €
ISBN: 978-3103974065
Cover links: S. Fischer Verlag, Cover rechts: Verbrecher Verlag
Alexandra Riedel – Sonne Mond Zinn
Passend zum Sommer, weil? Das Buch transportiert Neugier, die beim weiteren Lesen in Reiselust übergeht.
Optimaler Lesegenuss: Beim Sitzen auf einer Bank
Details: „Dinge passieren. Menschen auch.“ Alexandra Riedel (*1980) zeigt in ihrem Roman das Konstrukt Familie als Arena, als Theaterbühne voller Intrigen, Machtkämpfe und Geheimnisse.
Die Story: Gustav Zinn bekommt einen Anruf. Sein Großvater, ein angesehener Astronom, ist tot, und er – der Enkelsohn, der eigentlich gar nicht existieren dürfte, weil er aus einer unehelichen Affäre entstammt – ist zur Beerdigung eingeladen.
Im ständigen Dialog mit seiner Mutter berichtet der Erzähler vom argwöhnischen Beäugtwerden der Familie, steifen Gestalten, angetrunkenen Anekdoten, die in der Emotionalität überbordern.
Die Leser*innen werden dabei in die Fehl-am-Platz-Situation auf einer Party hineingeworfen, die trotzdem aus unerklärlichen intrinsischen Gründen nicht verlassen werden kann. Dieses Gefühl transportiert Alexandra Riedel aber so zauberhaft sanft, dass es mitschwingt und zum Treibstoff des Romans wird. Ein aufregendes Buch!
Alexandra Riedel – Sonne Mond Zinn
Verbrecher Verlag, Berlin, 2020
Hardcover, 124 Seiten, 19,00 €
ISBN: 978-3957324238
James Baldwin – Nach der Flut das Feuer „The Fire Next Time“
Passend zum Sommer, weil? In Zeiten des erstarkenden Rassismus müssen vor allem Protest und Widerstand erstarken. Dieses Buch liefert Inspiration und Mut.
Optimaler Lesegenuss: In den frischen Morgenstunden
Details: James Baldwins 1963 erschienener Essayband ist ein Grundlagentext zum Thema Rassismus. Der Verlag stellte es dieses Frühjahr kurz nach der Ermordung George Floyds für eine Woche als kostenloses e-Book zur Vefügung.
Im Buch, das in den 60er Jahren in den USA prompt nach Veröffentlichung zum Bestseller wurde, erzählt der afro-amerikanische Autor, wie er mit zehn Jahren zum ersten Mal Opfer von Polizeigewalt wurde und ruf dazu auf, dem rassistischen Alptraum, der die Weißen ebenso plage wie die Schwarzen, gemeinsam ein Ende zu machen.
Er ist damit erschreckend zeitaktuelll. Ein Buch, das neben seiner Schärfe auch in seinem Fluss begeistert und somit in einen Sog des Entsetzens und Staunens führt. Bewegend, klar und energisch.
James Baldwin – Nach der Flut das Feuer „The Fire Next Time“ | Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
dtv Literatur, München, 2019
Hardcover, 18,00 €
ISBN: 978-3-423-28181-2
Cover links: dtv Verlag, Cover rechts: Matthes & Seitz Verlag
Frank Witzel – Inniger Schiffbruch
Passend zum Sommer, weil? Die Tage des Sommers scheinen manchmal endlos. Das ist nicht immer angenehm. Dieses Buch überträgt dieses Gefühl und baut damit ein Konstrukt der Zusammenhänge.
Optimaler Lesegenuss: Vor den heißen Stunden des Tages, am besten früh morgens im Schatten
Details: Frank Witzel stöbert in seinem neuen Roman im Nachlass seines Vaters. In seiner typisch überspitzt-philosophischen Erzählweise kokettiert er damit, dass die Geschichte seiner Eltern ihn erstens gar nicht weiterbringt (Wohin überhaupt?) und zweitens uninteressant ist.
Ersteres wird nicht wirklich aufgelöst. Dass die Geschichte aber uninteressant sein soll, ist allenfalls stilistischer Zynismus. Denn gerade in der Story der Eltern, mitten in der Geschichte der Nachkriegs BRD – ihren Anfängen und populären Phänomenen – liegt die Poesie dieses zuweilen wahnsinnig (ja wirklich) komisch-zarten Werkes.
Gerade weil alles so gewöhnlich scheint, kann sich die hohe Emotionalität Frank Witzels entfalten und schafft so ein mitreißendes Werk.
Frank Witzel – Inniger Schiffbruch
Matthes & Seitz, Berlin, 2020
Hardcover, 360 Seiten, 25,00€
ISBN: 978-3957578389
Paula Irmschler – Superbusen
Passend zum Sommer, weil ? Die Protagonist*innen in diesem Buch regen in ihrer natürlichen Unvollkommenheit zum Durchhalten und Ausgelassensein an.
Optimaler Lesegenuss: Auf einer Fahrt. Egal wohin.
Details: Gisela zieht nach Chemnitz, um neu anzufangen. Die Stadt ist für die Anfang zwanzigjährige ein Versprechen. Endlich studieren, sich finden, weg von der Familie und all den anderen Menschen, die sie nicht versteht und die sie nicht verstehen. Ihren Körper und ihre Gedanken aber nimmt sie mit.
Dort in Chemnitz gibt es die Freundinnen, die die Welt nicht so akzeptieren wollen, wie sie ist. Zusammen gehen sie auf Demonstrationen, betrinken sich, versuchen, über die Runden zu kommen und gründen eine Band: Superbusen. Bei ihren Konzerten entdecken sie das erste Mal das Konstrukt Ost und West, was sie als Frauen zusammenhält und trennt und die Macht der Musik.
Superwitzig, superschnell erzählt Paula Irmschler (*1989) durch ihre Genauigkeit und sprachliche Präzision. Superbusen ist kein Erinnerungsroman, sondern ein wilder Gedankengang durch die Gesellschaft. Immer mit Pop-/Rockgefühlen und ist dabei doch so einfühlsam erzählt, dass man sich an diese Geschichte anlehnen möchte.Ein grandioses Buch.
Paula Irmschler – Superbusen
Claassen, Köln, 2020
Hardcover, 320 Seiten, 20,00 €
ISBN: 978-3546100014
Cover links: claassen Verlag, Cover rechts: Kiepenheuer & Witsch Verlag
Leif Randt – Allegro Pastell
Zum Sommer passend, weil? Die Geschichte erzählt überspitzt und überreflektiert von der Freiheit im Berliner Sommer.
Optimaler Lesegenuss: Am See.
Details: Ein Abriss der Generation Y behutsam, als wäre man auf Safari und würde von einem Forscher die Eigenarten der zu beobachten Organismen erklärt bekommen.
Leif Randt (*1983) erzählt vom Glück. Von Tanja und Jerome, von Wirklichkeit und Badminton, von idealen Zuständen und den Hochzeiten der anderen. Eine Lovestory aus den späten Zehnerjahren. Tanja Arnheim, deren Debütroman Kultstatus genießt, wird in wenigen Wochen dreißig. Mit Blick auf den Berliner Volkspark Hasenheide wartet sie auf eine explosive Idee für ihr neues Buch. Ihr fünf Jahre älterer Freund bewohnt in Maintal den Bungalow seiner Eltern und versucht sein Leben zunehmend als spirituelle Einkehr zu begreifen.
Die Fernbeziehung der beiden wirkt makellos. Sie bleiben über Text und Bild eng miteinander verbunden und besuchen sich für lange Wochenenden in ihren jeweiligen Realitäten. Jogging durchs Naturschutzgebiet und Meditation im südhessischen Maintal, driftende Dauerkommunikation und sexpositives Ausgehen in Berlin – Jerome und Tanja sind füreinander da, jedoch nicht aneinander verloren. Eltern, Freund*innen und depressive Geschwister spiegeln ihnen ein Leid, gegen das Tanja und Jerome weitgehend immun bleiben. Doch der Wunsch, ihre Zuneigung zu konservieren, ohne dass diese bieder oder schmerzhaft existenziell wird, stellt das Paar vor eine große Herausforderung.
Leif Randts Allegro Pastell gelingt mit seiner Präsentation eine kleine Provokation, bis einer „Das gibt es doch gar nicht!“ schreien will, dann schlägt die Geschichte zu und knallt einem die Handlung auf den Tisch. Messerscharf, Präzise. Und verdammt komisch.
Leif Randt – Allegro Pastell
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2020
Hardcover, 288 Seiten, 22,00 €
ISBN:978-3462053586