Vor mir sitzt ein großer, durchtrainierter Mann. Die langen Arme hängen lässig in den Seilen eines Boxrings in einem Berliner Boxstudio. Seine Augen sind hellwach, schweifen umher, sehen blaue Sportmatten und braune Boxsäcke. „Ich habe echt Sorge, dass das Ding als Box-Buch gelesen wird“, sagt Takis Würger (31), einer der vielversprechendsten Debütautoren in diesem Jahr. Sorge braucht er deswegen keine zu haben, versichere ich, das wird so oder so passieren.
Das Buch, Der Club, um das geht es hier. (Und das verlosen wir weiter unten im Beitrag.) Eine Campusgeschichte, die in sich so perfekt geschlossen ist, dass man beim Lesen schnell begreift, warum man ein Buch überhaupt aufschlägt. Hans wird von seiner Tante in die Universität Cambridge vermittelt, nicht um zu studieren, sondern um ein Verbrechen aufzuklären. Er gelangt in den legendären Pitt Club, eine Vereinigung reicher, versnobter Studenten, die ihn immer tiefer in einen Sumpf aus Champagner und Verschwörung ziehen. Er verliebt sich in Charlotte, aber auch die hat ein Geheimnis. Es kommt zum ödipalen Showdown und Hans muss im richtigen Moment die richtige Entscheidung treffen, auch wenn es nicht unbedingt die klügere ist. Wie in einer griechischen Tragödie also setzt Würger seinen eher schüchternen Protagonisten vor ein moralisches Dilemma, dabei ist es nicht zuletzt der Leser, der sich fragen muss: Wie würde ich mich entscheiden?
Hans ist Boxer, so wie sein Erfinder auch. Da ist es, das Boxen – und gekämpft wird wahrlich nicht zu spärlich, im Ring und im Leben. Dazu aber erst später, denn Würger hat noch etwas mit seinem Held gemein: Er war ebenfalls in Cambridge und für kurze Zeit Mitglied in mehreren elitären Verbindungen. „Verbrechen hat er in den Clubs keine begangen“, heißt es über den Autor auf der ersten Seite. Besseres Marketing kann man sich wohl nicht wünschen. Würger erklärt: „Das steht da vor allem drin, damit ich nicht verklagt werde. Es ist natürlich alles erfunden und gleichzeitig habe ich Sachen in Cambridge erlebt, die mich zu dieser Geschichte inspiriert haben.“
Eine Frage, die sich aufdrängt: Hätte Takis Würger denn Verbrechen begehen können? „Ja, solche Situationen gab es. Aber ich bin jemand, der sich selbst treu bleibt. Wenn es darum geht, dass anderen Schaden zugefügt wird, habe ich eigentlich ein enges, moralisches Koordinatensystem. Ich bin eher der Typ, der die Polizei ruft, statt mitzumachen.“ Und dennoch ist das Böse etwas, das ihn ungemein anzieht. In dem Buch verdeutlicht an der Rache, funktioniert sie als Pulsader, die seine Handlung stabil hält. Der Rache liegt, so glaubt Würger, etwas tief Böses zugrunde, das sich lohnt, näher zu betrachten. Wie bei Mord gibt es einen Vorsatz. Es bedeutet, dass man weiß, was man tut, und dass man genau das tun will. Klingt so, als wäre jeder Mensch dazu fähig. Ist das Böse denn in jedem von uns vorhanden? Würger blickt mich nun lange an, bevor er antwortet. Schließlich sagt er: „Traurigerweise ist meine Erfahrung: ja.“ Ob er sich schon mal gerächt habe, kommentiert er ebenfalls mit ja, ob er mir erzählen möchte wie, beantwortet er mit: „Mein Verleger würde mir jetzt raten zu schweigen.“
Gut, dann reden wir weiter über die Fiktion. Episodenhaft wird elegant, oft detailverliebt aus sieben Perspektiven erzählt, weil Würger wollte, dass der Leser mehr weiß als sein Protagonist. Sein knapper, unprätentiöser Stil, der mehr gesprochen als geschrieben wirkt, kommt dabei sehr nahe und eindringlich an die Figuren ran, sind schließlich sie es, die die Geschichte lebendig werden lassen und nach Recht und Unrecht fragen. Wenn nämlich Billy, Hans‘ Boxer-Freund, von seiner Mutter wissen möchte, was Wahrheit ist, antwortet sie, dass es „die Geschichten [sind], die wir uns so lange erzählen, bis wir glauben, sie wären Wirklichkeit.“ Da ist was dran, denn wir begegnen der Wirklichkeit oft nur so, wie wir sie selbst erfahren. Tief in unserem Inneren stimmen wir mit der Realität überein, nur stellen wir unsere Forderungen, wie etwas sein sollte, meistens darüber. So muss auch Hans anfangen, zwischen Schein und Sein auszuloten wie ein Kind, welches das Schattenspiel an der Wand erst mal für echt hält. Düstere Rache und absolute Wahrheit. Ein spannendes Narrativgeflecht, das am Ende bemerkenswert gut aufgeht.
Es sind also die großen Themen, die Würger hier anpackt. Trotzdem wünscht man sich, er hätte noch weiter ausgeholt. Ein bisschen tiefer im Mikrokosmos des Campus gegraben, denn das gibt ein Schauplatz wie Cambridge her. Vielleicht wäre dann auch mehr Sex drin gewesen. Die Szene überliest sich so schnell, dass ich bei der fünften Zeile angekommen, noch mal zurückspringen musste, um sicherzugehen, dass das jetzt wirklich Sex war. Würger lacht laut und nimmt die Kritik an. Vielleicht habe ich mich aber auch mittlerweile zu sehr an die dicken Mammut-Werke, die derzeit im Akkord geschrieben werden, gewöhnt, dass es irritiert, wenn einer mal die Seiten nicht überlädt.
Und vielleicht hat Würger recht, wenn er sagt, dass es nicht nur ums Boxen geht. Ich möchte dennoch darüber sprechen. Was hat es mit diesem Boxen auf sich? „Am Boxen interessiert mich, dass es ein Gegenentwurf zu dem ist, was wir sonst so erleben. Gefühle, Liebe und Freundschaft“, erklärt Würger. „Man steigt in den Ring und nur einer kann gewinnen. Das ist so eindeutig wie Mathematik, da kann keiner sagen, das hätte ich jetzt aber anders interpretiert.“ Das klingt recht simpel und doch muss man mit jedem Schlag ins Gesicht damit rechnen zu verlieren. Die Erniedrigung, die gleich mitkassiert wird, tut mindestens genauso weh. Das ist eigentlich kompliziert.
Austeilen, Einstecken, Aushalten. Und wie sieht es mit Hans aus? Ja, die Metapher vom Leben als Kampf ist da. Er verliert gleich in der ersten Runde die einzigen Menschen, die er am meisten braucht: seine Eltern. Kräftezehrend geht es für ihn weiter. Hans sagt irgendwann mal: „Ich weiß auch nicht, warum ich nie darüber nachgedacht habe zu springen“, an einer Stelle, als er auf dem Kirchturm seines alten Internats steht. „Das ist Aushalten“, sagt Würger. „Zu sagen, ich sehe es gerade nicht, aber bald kommt Licht.“
Hat Würger Angst vor dem Verlieren? Wieder hüllt er sich für einen Moment in Schweigen, fängt an zu lächeln und sagt: „Ja. Immer.“ Für ein paar Sekunden sagt keiner von uns beiden etwas, so lange, dass ich später bei meinem Diktiergerät nachschauen muss, ob ich aus Versehen auf Pause gedrückt habe. Und dann fragt Würger nachdenklich, wie aus dem Nichts: „Weißt du, was für mich Wahrheit ist?“ Er steht dabei auf und verschränkt die Arme vor seiner Brust. „Wahrheit ist, wenn du in den Ring steigst und jemanden so hart schlägst, dass er umfällt.“
Das Büchlein imponiert, so wie sein Autor. Takis Würger ist ein Mann, der dir in den Mantel hilft und anschließend die Tür aufhält. Wir gehen noch ein Stück spazieren, entlang der Kurfürstenstraße, wo rechts die Häuser und links die Prostituierten stehen. Würger gehört der alten Schule an, weshalb er die halbnackten Frauen nicht kommentiert. Stattdessen spricht er von Liebe und Treue, von Mut und Ehre. Erst hier wird mir klar, dieses Buch hat er nicht nur geschrieben, er hat es ganz und gar gelebt, irgendwo in seinem tiefsten Inneren, zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, nahe der Dichtung.
Wir verlosen zwei Exemplare des Buches. Lass uns (bis einschließlich Dienstag, dem 7.3.) unter dem entsprechenden Facebook-Post wissen, mit welcher Tat du dich schon mal an jemandem gerächt hast oder gerne rächen würdest.
Takis Würger „Der Club“, erschienen bei Kein und Aber für 22,00 Euro (auch als Ebook erhältlich für 17,99 Euro).
Habe „Der Club“ heute in einem Stück gelesen, grandios und macht Lust auf mehr von Takis Würger! Mal sehen, was der Buchhändler in unserem Urlaubsort an der Nordsee zu bieten hat, ich bin gespannt.
AA, Hannover