Warum wir keine „starken Powerfrauen“ brauchen, sondern einen empathischen Feminismus

Lasst uns über mein Lieblingsnarrativ starker Frauen sprechen: die Powerfrau. Die Problematik dieses Mythos der starken Frau wird deutlich, sobald man ihn dem Mythos des starken Mannes oder des Powermannes gegenüberstellt. Es klingt schon jetzt blöd, weil es einen solchen Mythos einfach nicht gibt. Niemand sagt über Männer „Er ist ein Powermann“, denn jeder Mann ist ein Powermann. Oder besser gesagt, Männer müssen keine Powermänner sein: Das System, in dem wir leben, wurde von Männern für Männer geschaffen, sodass es nicht notwendig ist, dass sie in diesem System irgendwelche Superkräfte besitzen.

Männer müssen keine Powermänner sein: Das System, in dem wir leben, wurde von Männern für Männer geschaffen. 

Der Mythos der Powerfrau ist komplex, aber im Kern geht es um erfolgreiche Anpassung. Powerfrau beschwert sich nicht, zeigt keine Emotionen, stellt keine eigenen Regeln auf, sondern passt sich erfolgreich an die bereits bestehenden an. Mit anderen Worten: Sie wird zu einer weiblichen Version des Mannes, die im Volksmund als Frau mit Eiern bezeichnet wird. Männer respektieren solche Frauen zwar, gründen aber selten eine Familie mit ihnen.

Der Schlüssel zur Powerfrau ist der Verzicht auf kulturell weibliche Charaktereigenschaften: Sensibilität, Emotionalität, Offenheit und Empathie. Dominant sind hingegen kulturell männliche Eigenschaften: Durchsetzungskraft, Emotionslosigkeit und Selbstsicherheit. In einer heteronormativen Beziehung zeichnet sich die Superfrau dadurch aus, dass, während der Mann der Kopf der Familie ist, sie den Nacken der Familie bildet.

Warum der Mythos der Powerfrau problematisch ist

Dieser Mythos der starken Frau ist aus zwei Gründen problematisch. Erstens impliziert er, dass Frauen per se nicht genügen. Um erfolgreich zu sein, reicht es nicht, eine Frau zu sein. Man muss eine Powerfrau sein (für einen Mann reicht es, einfach ein Mann zu sein). Zweitens werden Powerfrauen fast übernatürliche Kräfte zugeschrieben, weil sie alle Lebensbereiche gleichzeitig bewältigen können, und das sogar besser, als Männer es tun. Die Metapher der Familie mit dem männlichen Kopf und dem weiblichen Nacken verdeutlicht, wie Männer sich hinter Komplimenten über weibliche Stärke verstecken, um die Verantwortung loszuwerden, die dann in die Hände von Frauen verschoben wird.

Männer verstecken sich hinter Komplimenten über weibliche Stärke, um die Verantwortung loszuwerden, die dann in die Hände von Frauen verschoben wird. 

Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass Powerfrauen oft keine andere Wahl haben, als mit vielen verschiedenen Aufgaben und Problemen zu jonglieren. Sie müssen dies besser als Männer tun, denn sonst kommen sie nie in diese Männerwelt. Und wenn sie erst einmal drin sind, ist das immer noch keine Garantie für Erfolg. Wenn ihr also das nächste Mal von jemandem als Powerfrau bezeichnet werdet, solltet ihr darüber nachdenken, ob ihr gerade nicht den Job von jemand anderem macht.

Nicht begehrenswert, aber respektiert

Seit der Pubertät höre ich immer wieder, dass ich eine starke Frau sei. Ich wurde eine, weil ich keine Angst hatte, meine Meinung zu äußern, mich provokant zu kleiden und große Träume zu haben, d. h. ich tat das, was normalerweise Männer tun, mit Ausnahme der provokativen Kleidung, denn das Aussehen wird immer noch als weibliche Domäne eingeordnet. Infolgedessen war ich nicht besonders begehrenswert, aber stattdessen respektiert.

Lange Zeit gefiel mir mein Image und ich war stolz darauf, eine starke Frau zu sein und keine pussy, die unbedingt einen Mann brauchte. Ich schuf erfolgreich meinen eigenen Mythos von einer starken Frau, bis es eines Tages unkomfortabel wurde, mit ihm zu leben.

Eine Frau muss viel mehr opfern, um das Leben eines Mannes zu führen, als ein Mann es tun muss.

Eine Frau muss viel mehr opfern, um das Leben eines Mannes zu führen, als ein Mann es tun muss. Es war schwer für mich, zu akzeptieren, dass die Bedingungen für Frauen und Männer weit von einander entfernt sind und dass es noch keine Aussicht gibt, sie bald anzugleichen. Dass es schwierig sein würde, Karriere zu machen und gleichzeitig eine:n langfristige:n Partner:in zu finden, rechtzeitig Kinder zu kriegen, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen usw., war keine Überraschung, auch wenn sich das Wissen darum sehr von der praktischen Umsetzung unterscheidet.

Durchsetzungskraft vs. Empathie

Aber selbst das ist nicht das Schlimmste am Leben einer Powerfrau. Noch mehr als die ungleichen Voraussetzungen für den Erfolg, hat mich die Tatsache bedrückt, dass meine wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale mich in unserer Gesellschaft nicht positiv charakterisieren. Denn das sind nicht Durchsetzungskraft oder Stärke. Es sind Sensibilität, Emotionalität und Empathie, also kulturell weiblich konnotierte Eigenschaften, die mit Erfolg und Leistung in einer von Männern dominierten kapitalistischen Welt nicht vereinbar sind. 

„Angesichts der globalen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind Zuhören und Empathie vielleicht die Qualitäten, die die Welt gerade jetzt am meisten braucht.“

Mein Dilemma ließ sich am Beispiel der ehemaligen neuseeländischen Premierministerin Jacinda Ardern prüfen. In einem Interview sagte sie:

„Das Traurigste an Politik und Führung ist, dass wir so viel Wert auf Durchsetzungskraft und Kampfgeist legen. Das führt zum Glauben, dass Zuhören und Empathie mit dem Erreichen politischer Ziele unvereinbar sind. Doch angesichts der globalen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind dies vielleicht die Qualitäten, die die Welt gerade jetzt am meisten braucht. Wir brauchen Führungspersönlichkeiten, die sich in andere hineinversetzen können, die die jungen Generationen verstehen, für die wir heute Entscheidungen treffen. Und wenn wir uns nur darauf konzentrieren, die stärkste, wichtigste und mächtigste Person im Raum zu sein, werden wir verlieren. Empathie bedeutet eben Stärke.“

Empathie in der Politik und überall 

Sie ist die erste weibliche Politikerin in der Weltgeschichte, die ein hohes Amt innehatte und eine völlig andere Art von Führung ausübte, als wir es gewohnt sind. Frauen in hohen Ämtern sind keine Ausnahmeerscheinung mehr. Jedoch haben alle bisher regierenden Frauen den Mythos der Powerfrau entsprochen, d. h. sie waren kalt, zurückhaltend, sie zeigten in der Öffentlichkeit keine Emotionen, oder nur diejenigen, die Entschlossenheit und Kampfgeist repräsentieren, sie machten keine Witze und feierten nicht.

Mit anderen Worten, sie eliminierten nicht nur ihre geschlechtliche Identität, die in der Politik keine Pluspunkte hinzufügt, sondern auch ihre ganze Persönlichkeit. Was passiert, wenn diese Persönlichkeit zum Vorschein kommt, hat man vor nicht allzu langer Zeit im Fall der finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin gesehen, als ein Video, in dem die Ministerpräsidentin tanzt und singt, für Skandal und Empörung sorgte.

Am Anfang brauchte die Welt eine wütende Feministin, aber heute braucht sie dringend eine mitfühlende. 

Wir brauchen mehr Empathie, nicht nur in der Politik. Wir brauchen sie am Arbeitsplatz, in der Schule, im Freundeskreis und sogar in unseren Familien. Es gehört verdammt viel Mut dazu, ein guter Mensch zu sein. Es erfordert noch mehr Mut, ein guter Mensch zu sein, wenn man eine Frau ist. Denn nicht allen gelingt es, wie Jacinda Ardern, die Welt davon zu überzeugen, dass Sensibilität kein Zeichen von Schwäche ist.

Ich hoffe, dass dieser Paradigmenwechsel – von dem, was früher schwierig war, zu dem, was heute schwierig ist – auch einen Wandel in der Gesellschaft markiert. Am Anfang brauchte die Welt eine wütende Feministin, aber heute braucht sie dringend eine mitfühlende. Deshalb sollte es das neue Ziel jeder Feministin bzw. jedes Feministen sein, Sensibilität und Empathie am Leben zu erhalten, egal wie sehr die Welt versucht, sie uns wegzunehmen. 

*Disclaimer: Im Text ist von „Frauen“ und „Männern“ die Rede. Dabei wird Geschlecht in erster Linie als eine soziale Konstruktion verstanden. Es ist der Autorin und der Redaktion an dieser Stelle wichtig, anzumerken, dass es auch Menschen ohne Vulva und Vagina gibt, die Frauen sind, sowie es Menschen ohne Penis gibt, die Männer sind.

Dzordana kommt aus Litauen und wohnt in Berlin. Derzeit promoviert sie in Baltistik, mit Fokus auf Linguistik, Kommunikationswissenschaft und Gender Studies. Mit Frauen- bzw. Geschlechterthemen beschäftig sie sich seit Langem und schreibt und publiziert seit mehreren Jahren, vor allem auf Litauisch. Mehr von ihr lest ihr hier.

Headerfoto: Anna Shvets (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Foto der Autorin: juratephoto

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.