„Wirklich ein ganz Süßer“, sagte ich zu der Mutter mit dem hässlichsten Baby der Welt. Ich schaute noch einmal mitleidig in die Wiege und hoffte, dem Kleinen würde wenigstens schnell ein Bart wachsen, damit der Großteil seines Gesichts bald verdeckt würde. Das laut auszusprechen, hätte ich mich niemals getraut. Ich entschied mich, ambitioniert zu lügen. Meine Absicht war keine geringere, als die zwischenmenschliche Basis unserer Gesellschaft im Gleichgewicht zu halten. Nicht gelogen.
Wissenschaftler wollen beim Untersuchen der Blase herausgefunden haben, dass das Unterdrücken des Harndrangs dieselben Gehirnareale aktiviert wie beim Lügen. Ihre Schlussfolgerung: Mit voller Blase lügt es sich leichter. Tatsächlich hatte ich, als ich bei der Mutter mit dem hässlichen Baby zu Besuch war, literweise Tee in mich hineingekippt und extra nicht die Toilette aufgesucht, damit mein Schwindel nicht auffliegt.
Ehrlichkeit gehört nach wie vor zu den Top-Eigenschaften, die wir einem Menschen hoch anrechnen. Die Sehnsucht nach dem Guten und Richtigen ist bei uns allen tief verankert. Besonders bei der Partnerwahl kann es nichts Schöneres geben, als vor jemandem zu sitzen, der immer brav die Wahrheit sagt. Und sicherlich muss Ehrlichkeit bei den großen Dingen das allerhöchste Gut sein. Aber wirklich immer? Immer, immer?
Oft gehen wir leidigen Diskussionen aus dem Weg, indem wir einfach sagen „schmeckt super“, „sorry, mein Handy war auf lautlos gestellt“, „Schatz, ich muss wirklich nur ganz schnell in den Laden“, überhaupt „es geht mir gut“. Letzteres gehört zu den wichtigsten Lügen, die ich so kenne. Auch wenn ich nicht bewerben möchte zu sagen, dass man, wenn es einem schlecht geht, unbedingt flunkern soll. Aber wenn ich doch gerade einen Bekannten in der Bahn treffe, kurz einen Smalltalk halten will, dann käme ein „mir geht es sehr schlecht heute“ ganz und gar ungelegen. Warum? Weil es herzlos wäre, nicht zu fragen, wo denn das Problem liege. Möchte ich mich aber immer jedem Schmerz annehmen? Und würde ich genauso von einer Person erwarten, dass sie auf einmal mit mir aussteigt und sich lang und breit meinem Liebeskummer widmet? Ich würde es eine stillschweigende Übereinkunft nennen.
Vielleicht kann jetzt hier auch jeder zustimmend mit dem Kopf schütteln, da jeder bestimmt solche Situationen kennt. Die kleinen spontanen Lügen sind genehmigt, aber wie verhält es sich mit den lang geplanten? Auch hier möchte ich nicht so weit gehen zu sagen, dass man bei der Beerdigung einer Beziehung, welche allgemein als Trennung bekannt ist, die Wahrheit nicht verdient hätte, aber ganz taubenwahrhaftig: Wir wollen die tatsächlichen Gründe nicht wissen. Klar, Anregungen für die Verbesserung unseres verkommenen Charakters sind wichtig, aber ein „es liegt nicht an dir, sondern an mir“ macht es dem Ego leichter sich zu verabschieden.Denn die Wahrheit, so schmierig es auch klingen mag, tut weh.
Aber dann gibt es da noch die Lügen ganz fieser Natur, nämlich solche, um sich Anerkennung zu verschaffen. Lügen, die einen interessanter machen, als man eigentlich ist. Ich tue das wirklich nie! Eine Lüge, wie ich sie treffender nicht formulieren könnte. Wer mich bisher ganz gerne mochte und es weiter tun möchte, der liest besser nicht weiter. Denn manchmal lüge auch ich, um mich interessanter zu machen. Ich kann es nicht leugnen. Zwar habe ich noch nie behauptet, ich sei schon mal mit Delphinen geschwommen, aber ich habe auf jeden Fall die Klippe, von der ich im Urlaub gesprungen bin, fünf Meter höher gemacht, das Wasser, in das ich sprang, zehn Grad kälter geschätzt und den Applaus der umstehenden Leute auf zwanzig Hände verdoppelt. Okay, es hat kein Mensch zu mir hochgeschaut. Jetzt lasst mir halt meine Geschichte!
Angeblich ist es unser Gehirn, das stets Anerkennung braucht, um sich weiter für eine Sache zu motivieren. Glücksgefühle werden ausgeschüttet, ja wer kann es denn eigentlich jemandem übel nehmen? Vielleicht geht es im Grunde aber auch nicht nur um die Anerkennung an sich, sondern den Wunsch, seine eigene, manchmal schnöde Realität ein bisschen schöner zu machen.
Fans der Aufklärung wären jetzt ganz sicher sauer mit mir, weil ich mich der Pflicht zur Wahrheit widersetze. Ein vorbildlicher anständiger Mensch müsste ebenfalls nun die Hände über den Kopf schlagen. Die Sache mit dem Schwindel ist aber die, dass wir ihn manchmal brauchen, um das tatsächlich Richtige zu erkennen. Das ist doch das Raffinierte daran: Ich lüge, weil ich die Wahrheit kenne. Mehr Ehrlichkeit für einen selbst kann es nicht geben.
Ich bin außerdem sehr glücklich, dass ich mittlerweile viele neue wundervolle Mütter um mich habe und keine jemals erfahren wird, welche das hässliche Baby hat. Vier Söhne sei Dank. Meiner Mutter wurde übrigens auch nicht gesagt, dass sie eine hässliche Tochter geboren hat.
In die Runde gefragt: Wie seht ihr das mit dem Lügen? Welche sind für euch erlaubt und welche gehen absolut nicht klar? Wollt ihr bei einer Trennung die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit hören? Was war die letzte Lüge, die ihr jemandem erzählt habt.
Headerfoto: Girl with glasses via Shutterstock! (Gesellschaftsspiel-Button added.)