Disclaimer: Selbstdiagnosen können ein wichtiges Instrument auf dem Weg zur ärztlichen Diagnose sein. Bitte beachtet, dass nicht jede Selbstdiagnose zutreffend ist. Besprecht Selbstdiagnosen immer mit euren Ärzt:innen.
“Diese Selbstdiagnostizierten sind mir ja sowieso die Liebsten”, hören meine Freundin und ich, im Buchladen stehend, die junge Frau zu ihren Freund:innen sagen. Wir warten darauf, dass diese lärmende, sich über Selbsthilfebücher lustig machende Gruppe die Abteilung endlich verlässt. Als wir, ohne Selbsthilfebuch, auf dem Weg zurück in meine Wohnung sind, bin ich es, die unserem gemeinsamen Ärger Luft macht: „Was bildet die sich ein, über etwas zu urteilen, von dem sie wahrscheinlich sowieso keine Ahnung hat?!”
Ich bin eine „Selbstdiagnostizierte“
Der Grund, warum uns diese Aussage so getroffen und verärgert hat? Wir sind diese “Selbstdiagnostizierten”, denen man nicht glaubt, denn es gibt (noch) keine wissenschaftlichen Belege für die selbst auferlegten Diagnosen. Das Schauen von hunderten YouTube Videos, Lesen von Büchern, das Machen von Tests, ja, das endlose Recherchieren und Reflektieren auf eigene Faust zählen nicht.
Ich frage mich schon mein ganzes Leben lang, was mein Problem ist.
Ich, für meinen Teil, frage mich eigentlich schon mein ganzes Leben lang, was mein Problem ist. Versuche herauszufinden, woher meine Probleme kommen – diese ständige Überforderung von allem und jedem, die zu diesem ständigen Punkt von „Mir ist alles zu viel, ich kann nicht mehr” führt. Frage mich, woher meine krassen Ängste und Sorgen, die ewige Grübelei und das Nicht-Abschalten-Können kommen. Habe so vieles versucht, doch „einfach mal raus gehen und meditieren” hilft schon lange nicht mehr.
Wo liegt der Ursprung meiner Probleme?
Ich frage mich, warum meine Probleme immer wieder kommen, warum ich diese Dinge ständig fühle, warum ich einfach nicht klarkomme. Allerdings sieht das (fast) niemand anderes. Für andere habe ich „mein Leben im Griff” und für andere soll ich mir einfach nicht so viele Sorgen machen, denn „es ist doch alles gut”. Es fühlt sich an, als hätte ich mein Leben lang gehört, dass meine Gefühle, Gedanken, Ängste und Zweifel nicht echt, nicht valide seien.
Es fühlt sich an, als hätte ich mein Leben lang gehört, dass eine Gefühle, Gedanken, Ängste und Zweifel nicht echt seien.
Meine Freundin aus der Selbsthilfebuch-Abteilung tickt sehr ähnlich wie ich. Wir teilen erstaunlicherweise ziemlich ähnliche Erfahrungen, Gefühle und Probleme. Und mittlerweile sind wir eben beide diese “Selbstdiagnostizierten”.
Die Sache mit der Hochsensibilität
Von welchen Selbstdiagnosen ich rede? Dafür muss ich ein bisschen ausholen. Mit 18 Jahren entdeckte ich den Begriff “Hochsensibilität”. Es war das erste Mal, dass ich eine Erklärung für meine ständige Überforderung fand und zu dieser Zeit deckte der Begriff auch das meiste ab, womit ich zu kämpfen hatte. Es war das erste Mal, dass ich dachte, eine Therapie könnte mir helfen, doch bis zum Ende meiner Ausbildung hatte ich einen geregelten Alltag, etwas, worauf ich hinarbeitete und eigentlich ging es mir die meiste Zeit doch ganz gut. Außerdem hörte ich von anderen immer wieder, dass ich keine Therapie bräuche.
Ich hörte von anderen immer wieder, dass ich keine Therapie bräuche.
Als mein damals normaler Alltag schließlich wegfiel, ich daran scheiterte, einem normalen Job nachzugehen, mir eine Selbstständigkeit aufzubauen und ganz einfach die “normalen” Dinge zu tun, kamen immer mehr Probleme hinzu: Ängste, Zweifel und depressive Phasen. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen überfielen mich diese Panikattacken, bei denen ich nicht aus meinem Kopf und meinen negativen Gedanken herauskam. Und ich konnte nicht darüber reden.
ADHS
Irgendwann suchte ich mir einen 20-Stunden-Job, was eine Zeit lang gut ging. In dieser Zeit beschäftigte ich mich das erste Mal mit ADHS. Das Thema lief mir schon vorher durch Freund:innen über den Weg, mit denen ich ebenfalls viele Probleme und Gefühle teilte, doch irgendwie wollte ich mich nie damit auseinandersetzen. Ich war doch kein hyperaktiver, nerviger, kleiner Junge. Schließlich sind das die Vorurteile und Stereotypen, die man in Bezug dazu kennt.
Als ich das erste 45 Minuten lange Video angeschaut hatte, brach alles über mir zusammen. Das war ich.
Doch als ich das erste 45 Minuten lange Video angeschaut hatte, brach alles über mir zusammen. Das war ich. In 45 Minuten hatte diese mit ADHS diagnostizierte Person mein Leben und meine Probleme geschildert. Im Hyperfokus-Modus sog ich alles auf, was ich finden konnte und für mich wurde eines immer klarer: Ich musste ADHS haben.
… und Autismus?
Letztendlich habe ich den damaligen Job wegen eines Umzuges aufgegeben. Ich fand auch recht schnell einen neuen, allerdings fühlte ich mich dort überhaupt nicht wohl, kam mit den Kolleg:innen nicht klar, während ich versuchte, mich zusammenzureißen und irgendwie mit dem Stress und dem rauen Umgangston fertig zu werden. Doch mit jedem Tag wurden die Bauchschmerzen, die Angst vor der Arbeit größer. Bis ich nicht mehr hingegangen bin, mich krankschreiben ließ. Schließlich kam irgendwann die Kündigung – Erleichterung und Belastung zugleich.
Ich konnte nicht aufhören, mich zu fragen, warum ich mich nicht einfach zusammenreißen konnte und ob ich mir alles nicht bloß einbildete.
Zwar hatte ich nun eine Sorge weniger, doch ich konnte nicht aufhören, mich zu fragen, warum ich mich nicht einfach zusammenreißen konnte und ob ich mir alles nicht bloß einbildete, einfach nur zu blöd, zu faul, zu sensibel war. Zwischenzeitlich hatte ich einige Therapie-Erstgespräche, die mal mehr, mal weniger erfolgreich und hilfreich waren. Außerdem gab es ein ähnliches Erlebnis wie beim Thema ADHS. Meine Freundin und ich hatten uns schon lange darüber ausgetauscht und als ich ihr von ADHS erzählte, erzählte sie mir von Autismus. Meine Reaktion war dieselbe, wie damals: „Ich habe das nicht, denn ich bin doch kein isolierter, komischer kleiner Junge, der sich nur für Züge interessiert.”
Eine Erklärung für viele Probleme
Jaja, die Stereotypen und Vorurteile. Wie beim Thema ADHS auch, klickte ich schließlich auf ein Video, nur um mir zu beweisen, dass ich doch richtig lag. Und erneut…jemand beschrieb exakt meine Probleme, meine sozialen und generellen Ängste, von denen ich einfach nicht wusste, woher sie kommen könnten. Je mehr ich hörte, sah und las, desto mehr Dinge wurden mir in meinem Leben bewusst, die ich jahrelang verdrängt oder für ganz normal gehalten hatte.
Es tut gut, etwas zu finden, was die eigenen Probleme erklärt. So lange, bis es einen verrückt macht.
Es tut gut, etwas zu finden, was die eigenen Probleme erklärt. Es tut so lange gut, bis es einen verrückt macht. Denn andere nehmen einen nicht ernst, reden gern sofort gegen an, weil es diese Vorurteile und lediglich das überwiegend von Medien geprägte Wissen gibt. Da die Selbstdiagnose nicht ernst genommen wird, fängt dieser Teufelskreis an, bestehend aus dem tiefen Glauben “Das muss es sein!” und den Zweifeln, ob man sich das nicht doch nur einbildet, sich doch nur mehr anstrengen und zusammenreißen muss. Warum dem nicht also einfach ein Ende setzen und eine offizielle Diagnose erhalten?
Die offizielle Diagnose
Das ist eben leider nicht so einfach. Denn ich muss hier wohl niemandem erzählen, wie entmutigend, schwierig und äußerst frustrierend allein die Suche nach einem “gewöhnlichen” Therapieplatz ist. Wenn man dann noch panische Angst vor Telefonaten hat, ist es nochmal doppelt so schwierig. Da erstaunt es eigentlich nicht, dass der Versuch, eine ADHS- oder Autismus-Diagnose zu erhalten, in keinster Weise ein einfaches Unterfangen ist. Zumal sich dann auch noch die Frage stellt, wie man das bezahlen soll, denn nicht alles wird von Krankenkassen übernommen.
Therapie- und Diagnosestellen sind rar und die Nachfrage ist zu hoch.
Therapie- und Diagnosestellen sind rar und die Nachfrage ist zu hoch. Wenn man doch Glück hat, stellt sich die Frage, ob man ernst genommen und richtig behandelt und diagnostiziert wird, denn ich habe es allein in Erstgesprächen oft genug erlebt, dass die Aussage “Ich glaube, es könnte ADHS sein” mit wenigen Sätzen abgetan wurde.
Selbstdiagnosen als erster Schritt
Selbstdiagnosen sind oft und wohl oder übel der erste Schritt, überhaupt zu einer Diagnose zu kommen. Gerade bei erwachsenen, weiblich gelesenen Personen, die sich oft jahrzehntelang anpassen, werden Bilder wie Autismus und ADHS oft übersehen, wenn Betroffene nicht von allein darauf kommen.
Gerade bei erwachsenen, weiblich gelesenen Personen, die sich oft jahrzehntelang anpassen, werden Bilder wie Autismus und ADHS oft übersehen.
Diagnosen sind außerdem ein Privileg, welches nicht jeder:m zur Verfügung steht. Und weil das so ist, müssen Selbstdiagnosen ernster genommen und respektiert werden. Niemand weiß, wie es in einem Menschen aussieht, außer die betroffene Person selbst. Man muss die Selbstdiagnose einer anderen Person nicht unbedingt verstehen oder genauso sehen, aber es wäre schön, wenn anstatt einem “nein, das glaube ich dir nicht” ein bisschen mehr Verständnis, oder wenigstens der Wille, es zu verstehen und Unterstützung zurückkämen.
Mental Health matters!
Zu guter Letzt möchte ich noch sagen, dass mentale Gesundheit wichtig ist. Es hat lange gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, dass ich leide. Bis ich verstanden habe, dass jedes Leiden ernst genommen werden muss, nicht bloß dann, wenn es eine schwere Depression ist (und oft schätzen wir unser eigenes Leiden auch viel harmloser ein, als andere das tun würden). Sich Hilfe zu suchen kann verdammt schwer sein, egal, ob nun “professionelle” Hilfe oder auch nur mit nahestehenden Menschen darüber zu sprechen. Ich glaube, es ist wichtig, mit Menschen zu reden, die einen liebevoll unterstützen, anstatt Gefühle kleinzureden oder zu relativieren.
Es ist wichtig, mit Menschen zu reden, die einen liebevoll unterstützen, anstatt Gefühle kleinzureden oder zu relativieren.
Wenn es schwierig ist, eine Therapie zu finden, Wartelisten endlos sind (und das ist nun einmal leider eher die Regel, als die Ausnahme) und es oft auch einfach nicht möglich ist, die Therapie “einfach” selber zu bezahlen, dann wäre eine Möglichkeit, nach Selbsthilfegruppen zu suchen. Falls das schwierig ist, aufgrund des Ortes, in dem man lebt, oder sozialen Ängsten, dann helfen vielleicht auch Online-Communities und Plattformen. Je mehr ich mich mit Menschen austausche, die das Leben ähnlich erleben, wie ich, desto leiser werden meine Zweifel, desto mehr verstanden und weniger allein fühle ich mich.
Und je mehr ich mich mit meinen Themen beschäftige, umso deutlicher wird mir, dass ich ein Recht darauf habe, herauszufinden, was hinter meinen Problemen steht, denn es könnte mein Leben langfristig verändern und (hoffentlich) leichter machen.
Deine Herausforderungen und Probleme machen dich nicht zu einem weniger wertvollen und liebenswerten Menschen!
Was auch immer dich beschäftigt: Du bist damit nicht allein. Ganz egal, was deine Herausforderungen und Probleme sind, sie machen dich nicht zu einem weniger wertvollen und liebenswerten Menschen!
Headerfoto: Cedric Fauntleroy (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!