Hallo, Welt. Ich würde gerne einmal kurz aussteigen. Du tust mir weh. Das ist es, was die Sache mit dir und mir kompliziert macht, ganz ehrlich. Ich leide an dir. An Weltschmerz leide ich.
Ich hatte eine tolle Nacht. Ich habe lange geschlafen und gleite langsam aus dem Reich der Träume in einen neuen Morgen. Ich wackle mit den Zehen, schaue nach rechts, sage meiner Liebe Goodbye und wünsche ihm ritualmäßig, dass er bitte vorsichtig fahren soll. Danach kuschle ich mich noch ein letztes Mal in die schweren Decken und beschließe, vorsichtig aufzustehen. Ein neuer Tag, herrlich. So viele Erwartungen, so viel, was man tun kann!
Die Angst geht um. Zögernd kriecht sie in die kleinsten Winkel unserer optimistisch aufgebauten Nachkriegs-Heile-Welt-Toleranz-Gesellschaft und macht sich breit in Form von Hass, Abwehr, neuen alten Grenzziehungen, Debatten und Menschenrechtsfragen.
Und dann checke ich die Nachrichten. Ein Terroranschlag. Schon wieder. Tote, Verletzte, Verunsicherte. Hier und dort. Die Angst geht um. Zögernd kriecht sie in die kleinsten Winkel unserer optimistisch aufgebauten Nachkriegs-Heile-Welt-Toleranz-Gesellschaft und macht sich breit in Form von Hass, Abwehr, neuen alten Grenzziehungen, Debatten und Menschenrechtsfragen.
Sorgt dafür, dass wir wieder diskutieren über Dinge, die eigentlich nicht diskussionsbedürftig wären. Dürfen flüchtende Menschen hierbleiben? Kriegen sie ein Dach über dem Kopf? Oder gehören „die“ nicht wieder „dahin zurück, wo sie herkommen“? Holy shit.
Und es geht weiter: Abspaltungstendenzen hier und dort, jeder will wieder sein Ding machen, man vertraut sich nicht mehr. Die Offene-Grenzen-Euro-Welt, in der wir Millenials aufgewachsen sind, beginnt, unter unseren Augen zu zerbröckeln.
Und wir? Backen Kuchen. Fotografieren Monsteras. Streichen unsere Wände á la Greenery. Misten aus. Minimalisieren. Googlen nach Tiny Houses. Werden vegan. In solchen Momenten möchte ich schreien und alles hinschmeißen. Ich will mit dem Kopf die Wand anrennen, weil ich nicht glauben kann, was da draußen gerade passiert. Ich erinnere mich dunkel an den Geschichtsunterricht, Spanne Kaiserreich bis Zweiter Weltkrieg, und mir läuft es in Kristallen den Rücken hinunter.
Wenn uns dann ein neuer Biedermeier attestiert wird – könnten wir uns dagegen wehren? Stimmt das nicht? Suchen wir nicht den Schutz im Häuslichen, throhnen wir nicht aktuell Gartenbaukunst, Selbstversorgertum, Zero Waste, Minimalismus, Leben in Grün und tierleidfreie Kosmetik auf güldene Sessel? Konsumieren wir nicht hipp-hübsche Lifestyleprodukte, als gäbe es kein Morgen?
Nun, vielleicht gibt es das auch nicht. Vielleicht ahnen wir sowas. Vielleicht schwebt es bereits in der Luft, dieses Gespenst einer bösen Angst, dass es bald vorbeisein könnte mit dem unbeschwerten Leben im rauschhaften I-don’t-care-Kapitalismus.
Vielleicht ist das Hegen und Pflegen der eigenen vier Wände, das Boomen des Interior und die Propagandierung des Cleanen, des Marie-Kondo-Ordentlichen genau das: die Flucht vor dem Chaos da draußen. Unser neuer Biedermeier.
Verzicht ist ein Statement, Wählen ist politisch
Aber halt: Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Wieder einmal.
Denn unser neuer Biedermeier ist anders. Wir ziehen uns zurück aus der politischen Tätigkeit, auf den ersten Blick. Wir gehen nicht mehr offen auf die Straße, wir schmeißen keine Fensterscheiben mehr ein, ketten uns nicht mehr an Bahngleise fest.
Und dennoch sind wir politisch. Wir zeigen, was uns nicht passt – auf eine neue Art: indem wir die Möglichkeiten der neuen Technologien nutzen, die weit mehr sind als nur ein ablenkender, virenschleudernder, terrorismusfördernder Haufen Seltener Erden. Wir nutzen das Internet und seine Reichweite, um eines zu tun: uns zu vernetzen.
Und um zu zeigen, dass es anders geht als Mainstream. Vielmehr: dass wir einen neuen Mainstream wollen. Einen bewussteren. Einen einfacheren. Einen nachhaltigeren. Einen politischen.
Einen, der im bewussten Verzicht auf Plastikflaschen ein Statement setzt. Der durch das Links-liegen-Lassen der Konvenienz-Produkte im Supermarktregal oder im Fast-Food-Drive-In deutlich macht, dass wir da keinen Bock mehr drauf haben, auf das Ausbeuten der Umwelt, den Kohleabbau, die Kinderarbeit in Bangladesch, die vergifteten Flüsse, Plastik-verseuchten Meere.
Dass wir es satthaben, für blöd verkauft und zu zombieartig-ferngesteuerten Konsumherdentieren erzogen zu werden. Dass wir uns neu erfinden wollen – in der Rückbesinnung auf das, was einmal als alt und angestaubt verschrien war: Rasierhobel, Stückseife, Pflanzen, Gärtnerei, unser persönlicher kleiner Fensterbank-Autonomie-Traum. Spießbürgertum mit Mission.
Teilend via Instagram, likend auf Facebook, artikelschreibend vor dem Rechner wollen wir diese Nachricht, die ohne Clickbait und Minutenaufmerksamkeit daherkommt, sondern sich vielmehr wie eine behäbige Welle durch die Feeds und Kanäle zieht, verbreiten.
Andere Menschen zum Mitmachen motivieren. Zum Nachdenken anregen. Dass jeder und jede bei sich beginnen kann, im Kleinen.
Dass wir die Kraft haben, etwas zu verändern – so doof und abgedroschen das in Zeiten, in denen man morgens gefühlt nicht mehr wachwerden kann, ohne ängstlich die Nachrichten zu öffnen und zu schauen, wer wieder wo jemanden umgebracht hat, auch klingen mag. Dass wir die Dein-Einkaufszettel-ist-dein-Stimmzettel-Einstellung leben mit jeder Faser unserer Termin-vollgestopften und multitaskingbombardierten Aufmerksamkeit.
Unser neuer Biedermeier ist nicht apolitisch. Wir sind aufmerksam, wir wollen etwas verändern. Und zwar, indem wir klein anfangen und dort, wo wir es – betäubt, wie wir sonst durch die Gegend laufen – am einfachsten und schnellsten hinbekommen: bei uns selbst.
Wir brauchen den Aktivismus, das ist richtig. Wir brauchen die Lauten, wir müssen wieder schreien lernen, auf die Straßen gehen und zeigen, fordern, brüllen. Wir dürfen das Peace-Zeichen nicht als lustigen, kosmopolitisch angehauchten T-Shirt-Aufdruck sein Dasein fristen lassen.
Aber was wir gerade tun, das leise Beobachten, Neu-Kalibrieren, das Autonomwerden von der Massenkapitalismusgesellschaft, die so in der Form nicht mehr lange funktionieren kann, ohne dass es ein Desaster gibt (beziehungsweise: die Desaster stehen bereits hütchenschwingend auf der Matte) – das ist ebenfalls eine Form des Aktivwerdens. Im Kleinen, Individuellen.
Wir müssen bei uns beginnen, wenn wir die Welt verändern wollen.
Im Regional-Saisonalen. Im Unverpackt-Lädlichen. Im Grüner-Strom-Beziehenden. Im Aussortierenden. Im Kresse-auf-der-Fensterbank-Ziehenden. Im Solidarische-Landwirtschaft-Unterstützenden und Gemüsekisten-Abonnierenden. Im Jutebeutel-Tragenden. Im Plastik-Verweigernden. Im Auf-Fleisch-und/oder-Tierprodukte-Verzichtenden.
Im Bewusstwerden auf das, was uns ausmachen soll und wer wir sein wollen, bekommen wir eine Idee davon, was eigentlich wichtig ist im Leben. Und haben die Einsicht, die Kraft und die Zeit, uns einzusetzen für weitgehende nachhaltige Entscheidungen, für Flüchtlinge, für die so dubios gewordene Politik, für die Aufrechterhaltung der Werte, mit denen wir aufgewachsen sind und die wir in undankbarer Kindesmanier als selbstverständlich erachten.
Wir müssen bei uns beginnen, wenn wir die Welt verändern wollen.
Headerfoto: Clément M. via Unsplash.com und Mehr als Grünzeug via Instagram. („Heal The World“-Button hinzugefügt.) Danke dafür.
Naturbilder: Dan Otis, Tobias Tullius und Noah Silliman via Unsplash.com. Danke auch dafür.