Wir sind uns vermutlich alle einig: Sexualkunde als Unterrichtseinheit in der Schule ist absolut unverzichtbar. Auch wenn manch konservativer Elternteil darüber nölt – früher ist besser als später. Bei mir, Jahrgang 1991, begann Sexualkunde in der siebten Klasse. Aus meiner ersten Stunde sind mir zwei Dinge in Erinnerung geblieben: Zum einen setzte unsere Lehrerin ein leicht albernes Grinsen auf und kicherte uns vor, dass “Sex auch ein schönes Gefühl sei”. Sex war damals allerdings für mich ein sehr abstrakter Begriff, ein mysteriöses Prozedere, was einem irgendwann auf dem Weg zum Erwachsenwerden passiert.
Sex war damals für mich ein sehr abstrakter Begriff, ein mysteriöses Prozedere, was einem irgendwann auf dem Weg zum Erwachsenwerden passiert.
Zweitens bekamen wir zum Abschluss der wenig lehrreichen Stunde alle eine Broschüre ausgeteilt. Richtig, keine Kondome, sondern ein mehrseitiges Heftchen, das uns im Selbststudium zuhause auf der Bibi-Blocksberg-Bettdecke aufklären sollte. Mit einem Kloß im Hals stopfte ich das Ding tief in meinen Ranzen. Allen anderen in meiner Klasse ging es wohl ähnlich, denn irgendwie wollte sich keine*r in die Augen sehen.
Nur ein oder zwei Frühreife (oder besser gesagt: frühe Unreife) begannen schmutzige Witze zu reißen und mit ihrem Wissen zu prahlen – aber das läuft, glaube ich zumindest, in jeder Klasse so oder so ähnlich ab.
Ein Heftchen gab einen Ausblick auf die Veränderungen des Körpers
Diese Broschüre hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Und zwar deshalb, weil sie mir damals mit meinen 12 Jahren ein Bild vorzeichnete, was mit meinem Körper in den nächsten Monaten und Jahren passieren sollte. Die Innenseiten des Heftchens bildeten im Comiczeichen-Stil die verschiedenen “Stadien” des Körpers der Frau:
Erst war alles flach und unsichtbar, dann bilden sich plötzlich überall kleine Hügel, oben, hinten, zwischen den Beinen auch einer, bis schließlich alles an den richtigen Stellen sein volles Volumen angenommen hat. Aussehen tat es nicht nach Aufklärung, sondern nach einem Äquivalent der verschiedenen biologischen Stadien eines Frosches (Laich, Kaulquappe, ausgewachsene Amphibie).
Natürlich inspizierte ich jede Abbildung genau, befühlte meinen eigenen Körper und verglich, in welchem Stadium der Transformation ich mich gerade befand.
Natürlich inspizierte ich jede Abbildung genau, befühlte meinen eigenen Körper und verglich, in welchem Stadium der Transformation ich mich gerade befand (damals ganz klar Phase 1). Aber dann wanderte mein Blick hinüber zu Abbildung vier oder fünf, hin zu dieser jungen Frau, die für mich aussah wie Göttin Diana mit ihrer alabasterfarbenen Haut und diesem absolut perfekten weiblichen Körper. Abgesehen von den Schlumpfeis-blauen Haaren.
Was das damals auslöste, war vorprogrammiert: Ich erwartete von meinem kindlichen Körper, dass er sich 1:1 so entwickelte, wie in dem Heftchen abgebildet. Ich wollte, ja, ich musste einmal so genauso aussehen. Alle Abweichungen: hässlich oder missgestaltet. Spoiler: Aus Schlumpf-Göttin 2.0 wurde natürlich nichts. Während mein Unterkörper beschloss, die abgebildeten Rundungen um ein Mehrfaches zu übertreffen, entschied mein Oberkörper, dass Phase 2 und Körbchengröße A vollkommen ausreichend war.
Oben zu wenig, unten zu viel. So jedenfalls fiele die eigene Bilanz aus, wenn ich meinen Körper mit den Zeichnungen heute vergliche. Mich hat dieses Schönheitsideal aus dem Sexualkunde bis in mein Erwachsenenalter hinein geprägt. Lange kam ich mir deformiert vor. Anfangs dachte ich noch, mein Körper ginge nur durch ein Zwischenstadium (Kaulquappe – olé!). Aber als irgendwann die Erkenntnis einsickerte – that’s it und damit musst du jetzt leben – war ich echt erschüttert.
Bitte druckt ehrliche, realistische Abbilder von weiblichen Körpern. Nicht jedes paar Brüste sieht aus wie aus Silicon Valley.
Natürlich bekommen wir in den Medien ohnehin ständig Abbilder des vermeintlich perfekten weiblichen Körpers präsentiert. Aber wenigstens für den Sexualkunde-Unterricht würde ich mir zwei Dinge wünschen:
Erstens: Bitte druckt ehrliche, realistische Abbilder von weiblichen Körpern (und auch von männlichen!). Nicht jedes paar Brüste sieht aus wie aus Silicon Valley. Und auch nicht jeder Penis ist dermaßen lang, dass er schon halb zum Knie hinunter baumelt. Zweitens: Wir brauchen unbedingt mehr Diversität in Abbildungen. Die Elfenbeinhaut muss ja nicht ganz verschwinden. Aber bei der Aufbereitung solcher Lehrmaterialien kann man ruhig deutlich mehr im Farbkasten der Diversität herumrühren. Blaues Schamhaar ist einfach nur schlumpfig.
Und da fällt mir noch was Drittes ein: Bitte, liebe Lehrkräfte, scheut euch nicht, mit euren Schüler*innen ehrlich über Sex als körperliche Erfahrung zu sprechen. Peinlich verdruckst in sich hinein zu kieksen, ist ein weiterer, wenn vielleicht auch unterbewusster Mechanismus, junge Frauen in ein bestimmtes Tabu-Verhalten hinein zu sozialisieren, wenn es um Sex geht, nämlich: Bloß nicht offen drüber reden.
Wie es besser geht
An der Stelle noch zwei Buch-Empfehlungen für alle, die sich mit dem Thema Sexualkundeunterricht und dem idealisierten Körperbild auseinandersetzen wollen:
Sie hat Bock von Katja Lewina. Was ist jetzt noch mal der Unterschied zwischen Vagina und Vulva? Der Sexualkunde-Unterricht klärt Schüler*innen laut Katja Lewina jedenfalls oft nicht genügend darüber auf. In dem Buch geht’s aber um noch so viel mehr. Pro Kapitel nimmt sich Lewina ein Sozialisierungsmuster nach dem anderen vor, in die (v.a. Frauen) hineingepresst werden: Sexuelle Rollenverteilung, monogame Beziehungsmuster, die Fähigkeit zum vaginalen Orgasmus. Supertolles Buch, das einfach nur klüger macht.
Die Zeuginnen von Margaret Atwood. Die Welt von Gilead ist ein totalitäres System, in dem Mädchen in der Schule vor allem eins lernen: Sticken und Blumen anrichten, wie sich das für eine folgsame Ehefrau gehört. Über Sex wird gar nicht gesprochen, dieses unsagbar teuflische Unterfangen! Das kommt schon alles in der Hochzeitsnacht, die frau u.U. schon mit 13 hinter sich bringen muss. Klingt nach Fiktion? Ist in vielen Teilen der Welt aber immer noch die Norm. Und wenn man hier auf jeden Fall ein weiteres Fass in Richtung Kinderehen aufmachen sollte, hallt auch das Thema Sexualkunde nach, beziehungsweise the lack thereof. Bei den jungen Frauen bleibt nur die Emotion zurück: Sex ist das absolute Grauen, hat irgendetwas damit zu tun, wie Männer ihr Ding in den weiblichen Körper reinzuhämmern, der ohnehin nur zum Kindergebären da ist.
Also – bitte aufklären, und zwar ausführlich, ehrlich und mit allen Körperflüssigkeiten, Rundungen und Kürzungen. Danke! Ich geh’ mir dann mal ein Schlumpf-Eis kaufen.
Headerfoto: Callum Shaw via Unsplash. („Körperliches“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!