Ich habe eine Meinung, und zwar über das, was ich bin, was ich aber nicht ausstrahle. Und darüber, was ich versuche zu sein, aber noch nicht erreicht habe. Darüber, was ich immer noch nicht kann, wovor ich immer noch Angst habe und vor allem dazu, was ich hoffentlich irgendwann sein kann.
Erwachsenwerden hat augenscheinlich viel damit zu tun, sich Meinungen zu bilden und gleichzeitig damit, zu erkennen, dass man vielleicht zu gewissen Themen gar keine Meinung haben möchte. Oder dass es einem seine Zeit oder Energie nicht wert ist, seine Meinung zu offenbaren.
Wir leben in einer Ellbogengesellschaft, hat einmal ein Lehrer von mir gesagt. Ich habe Ellbogen als Worte interpretiert. Der, der reden kann, gewinnt.
Und dann gehört es wohl noch zum Erwachsenwerden dazu, seine Meinung kundzutun, wenn es einem angemessen erscheint. Wobei natürlich jede:r ein anderes Verständnis von Angemessenheit hat. Meiner Meinung nach hören wir täglich unzählige irrelevanten Meinungen, weil Menschen davon ausgehen, ihrer Meinung sei gerade mehr als angemessen.
People Pleaser klingt doch besser als „Mensch mit geringem Selbstwertgefühl“
Ich zähle mich zu der Sorte Mensch, der eine Meinung hat, diese aber nur in Ausnahmefällen vertritt. Vermutlich aus Angst vor Ablehnung. Das bedeutet, ich werde oft akzeptieren müssen, dass ich still bleibe, wenn es zu Ungerechtigkeiten kommt. Und ich werde akzeptieren müssen, dass es am Ende des Tages so scheint, als teile ich die Meinung meines Gegenübers oder als hätte mein Gegenüber recht mit dem, was es sagt.
All dies muss man akzeptieren, wenn man sich aufgrund seines vollen Rucksacks an Erfahrungen auf dem Rücken angeeignet hat, nicht anzuecken, niemanden vor den Kopf zu stoßen, Konflikte zu vermeiden, jedem:r gefallen zu wollen und immerzu zu lächeln. Das ist der Preis, den man zahlt, wenn man selbst nicht die Priorität in seinem eigenen Leben ist.
Ich werde akzeptieren müssen, dass es am Ende des Tages so scheint, als teile ich die Meinung meines Gegenübers oder als hätte mein Gegenüber recht mit dem, was es sagt.
Es kommt vor, da erinnere ich mich an Situationen, die fünf oder manchmal 10 Jahre her sind, in welchen ich still blieb, obwohl es nötig gewesen wäre, etwas zu sagen. Sich an das zu erinnern, was man nie ausgesprochen hat, das klingt beinahe poetisch, spiegelt tatsächlich aber bloß das Leben einiger vieler Menschen wider.
People Pleaser nennt man im Jahr 2021 Menschen wie mich. Ich weiß nicht, ob es nur mir so ergeht, aber mir erscheint dieses Wort um einiges positiver, als sich als Mensch mit einem geringen Selbstwertgefühl betiteln zu lassen. Demnächst werde ich bei einer Konfrontation einfach meinem Gegenüber erklären, dass ich ein People Pleaser bin, dachte ich – wissend, dass ich das nie tun würde.
Manchmal fühlt sich das gut an, manchmal weniger
Es ist schließlich so viel einfacher, die Menschen um sich herum für den Moment reden zu lassen. Für den einen Moment ist es einfacher. Nur für den Moment. Ist dieser Moment vorbei, ist er vorbei und alles, was man sich in seinem Kopf ausgemalt hat, sind bloß unausgesprochene Gedanken, die niemand hören wird. Und jedes Mal entfernt man sich ein Stück mehr von dem Menschen, der man sich wünscht zu sein.
Es ist beinahe lächerlich, wie genau Menschen wie ich psychologische Phänomene bestätigen. Ich sehe andere Menschen in meinem Alter oder jünger oder älter und ihre Präsenz lässt mich unsicher werden, lässt mich zweifeln und resignieren. Es sind diese Menschen, die mich eigentlich beeindrucken, weil sie das verkörpern, was ich so gern sein würde. Auch, wenn ich es mir lange nicht eingestehen wollte. Für mich sind es Menschen, die ihre Meinung sagen – auch wenn sie wissen, dass niemand um sie herum diese teilen wird.
Ich sehe andere Menschen und ihre Präsenz lässt mich unsicher werden. Es sind diese Menschen, die mich eigentlich beeindrucken, weil sie das verkörpern, was ich so gern sein würde.
Es sind Menschen, die ihre schlechte Laune zeigen und nicht jeden Tag lächeln, es sind Menschen, die nicht allen gefallen wollen und die zu sich stehen und die von sich selbst ein kleines bisschen zu überzeugt sind, um noch sympathisch zu wirken. Ich sehe in diesen Menschen den Gegenpol zu mir selbst. Sie sind ein wenig zu extrem, zu alternativ, um sie zu mögen, aber ich bewundere sie für das, was sie sind.
Manchmal fühle ich mich gefangen von mir selbst. Gefangen von allem, was ich bin, von allem, was ich mir auferlegt habe zu sein. Und manchmal fühle ich mich wohl damit, die Leute reden zu lassen und mir einen Spaß aus ihren Geschichten zu machen.
Wohin man schaut, wird von Persönlichkeitsentwicklung gesprochen und davon, wie man zu sich selber findet und vielleicht sogar glücklich wird. Und das ist gut. Und dennoch bin ich der Meinung, dass man seine eigene Verwirrung von Zeit zu Zeit mit einem schiefen Lächeln betrachten sollte.
Headerfoto: Gabriel Silvério via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!