Wie ich über die Fremdliebe zur Selbstliebe zurück zur Sehnsucht fand – ein Lagebericht aus meiner imaginierten Gefühlswelt

Ich bin 36. Ich habe einen Mann, zwei Kinder, ein Haus, ein Leben. Zugegeben, in letzter Zeit hätte ich glücklicher sein können, aber man will ja immer so viel und dann hat man doch keine Zeit für Veränderung. Oft nagt auch der Zweifel an mir: 36 und noch immer im Studium. 36 und noch immer keinen festen Plan, wie es weitergehen soll. Weitergehen, was bedeutet das überhaupt? Die nächsten 3 Jahre? 10 Jahre? Oder einfach immer? Will ich mich denn überhaupt entscheiden müssen, festlegen? Ich habe das Gefühl, die üblichen Konstrukte von Leben passen nicht zu mir.

Und meine Beziehung? Nun ja, sagen wir es so: Als wir uns vor 10 Jahren für Kinder entschieden haben, war die Vorstellung unseres gemeinsamen Lebens eine andere. Eine Utopie? Vielleicht. Aber das geht doch vielen so: Die Zeit nimmt ihre Opfer, der Stress tut sein Übriges. Wer ist nach 15 Jahren schon noch wirklich verliebt? Beschwere dich nicht, schätze was du hast, den Garten willst du doch jetzt auch nicht wieder aufgeben.

Auf meinen Musikgeschmack, auf den geb ich was

Es ist Frühjahr. Meine Tochter hüpft mit ihrer Tanzgruppe über eine Bühne. Meine Gefühle sind jedes Mal hin- und hergerissen. Zwischen mütterlichem Stolz und jugendlicher Fremdscham über die Musikauswahl der Tanzlehrerin. Auf meinen Musikgeschmack, auf den gebe ich was. Radiohitmusik? Not happening in unserem Haushalt.

Papa ist DJ, hat Partys veranstaltet in den USA und Berlin, hat in den kultigsten Clubs Berlins aufgelegt, hat ein eigenes Plattenlabel. Die Musikauswahl der Tanzgruppe, die ist, naja, massentauglich. Aber dieses eine Lied, das geht gut, und dieser Refrain, nice Stimme.

Oft verliebe ich mich heftig, zuweilen exzessiv

Ich gebe es zu, oft verliebe ich mich heftig, zuweilen exzessiv. Meist in Stimmen, Harmonien, Melodien. Die, die die gleichen 20 Sekunden eines Songs in Endlosschleife hört? Das bin ich.

Irgendwo dudelt es wieder, dieses Lied. Das Kind hüpft. „Mama, können wir das Lied zu Hause hören?“ Na gut, ich suche es über YouTube. Gefällt mir ja auch und die Stimme im Refrain lässt mich nicht los. „Wir sind zusammen groß, wir sind zusammen eins …“ Klar, die Band kenne ich, habe ich in meiner HipHop-Zeit auch gefeiert. Der Sänger? Mal gehört, so ein Wunschschwiegersohn der Nation, oder? Diese Stimme.

Irgendein Morgen in Berlin im frühen Sommer. Es ist viel zu früh, die Gesichter sind Gussformen der Kissenfalten, auf denen sie gelegen haben. Meine Laune verstecke ich in dem Buch, das ich mir tief ins Gesicht halte. Ein Blick über den Bahnsteig Lichtenberg, alles wie immer, müde Augen, graue Durchschnittslaune, viel zu kalt für diese Jahreszeit und ein Cola-Werbeplakat.

Ein Cola-Werbeplakat und plötzlich ist alles andere auf mute, das Einfahren des Zuges, die drängenden Menschen, der kalte Wind, still und wie in Zeitlupe und Raffer zugleich strömt das Leben an mir vorbei. So sieht er also aus, der Körper zu der Stimme.

Alles verläuft exponentiell, da ist niemand, der die Kurve glättet

Danach verläuft alles exponentiell, da ist niemand, der es aufhält, niemand, der die Kurve glättet. Ein Lied nach dem anderen, ich fühle mich abgeholt. Was singt er, „Keinen Plan nach all den Jahren“ und ja, er hat Recht, das fühlt sich eigentlich echt gut an und auch ich fühle mich immer besser mit jeder Zeile. Und, wow, witzig ist er auch und so frei und unkompliziert. Ich will den kennenlernen, ich spüre da was, ich denke, ich brauche diesen Menschen in meinem Leben. Wow. Habe ich das wirklich gerade gedacht?

Ich bin unglücklich glücklich fremdverliebt in einen Popstar und ich weiß nicht, wann das vorbeigeht und wie das überhaupt jemals enden soll und es fühlt sich echt an und gleichzeitig so albern.

„Du bist ein Fangirl“, sagen die Freundinnen. Es fühlt sich irgendwie nach mehr an. „Der ist doch auch nur ne erschaffene Marke.“ Möglich, aber wieso trifft er mich mit allem so ganz genau und immer an der richtigen Stelle? „Das ist ne Schwärmerei, daran ist doch rein gar nichts echt.“ Aber warum fühlt die Sehnsucht sich so echt nach Liebeskummer an?

Da ist was ins Rollen geraten, was ich gar nicht aufhalten will

Ein Jahr, viele zunächst unbeantwortete, dann nicht mehr gelesene Direct Messages, viele Kontaktaufnahmeversuche später, viele Worte zu viel, muss ich mir wohl klar machen: Ich bin ein Fangirl – zumindest in seiner Welt. Da ist keine Chance auf einen unverfänglichen Chat, kein harmloser Flirt möglich. Alles an mir schreit Fan, Groupie. In meiner Welt sieht es anders aus. Da bewegt sich was. Da ist was ins Rollen geraten, was ich gar nicht aufhalten will.

Ich bin selbstbewusster, präsentiere mich, in der Hoffnung, dass er es doch noch mal sieht. Social Media wird meine Leinwand. Und es tut mir gut, er tut mir gut ohne es zu wissen. Ich lerne mich kennen, um zu zeigen, wer ich bin. „Schau doch mal meine Story!“ Ich überwinde falsche, alte Scham, sehe die schönen, bemerkenswerten Dinge an mir, damit er sie auch sehen kann. Ich stehe für mich ein, kenne meine Bedürfnisse, sage meine Meinung.

Ich habe entschieden, dass mir nichts mehr peinlich sein soll, dass ich jeden Tag mit einem Lächeln begrüße und vollkommen beende.

Ich habe entschieden, dass mir nichts mehr peinlich sein soll, dass ich jeden Tag mit einem Lächeln begrüße und vollkommen beende. Ich liebe es, wie ich die Welt angehe. Und es bleibt und es ist gut und es passieren gute Dinge und Herzensmenschen treten in mein Leben. Alles nimmt Fahrt auf und ich werde das nie mehr stoppen.

So schön könnte sie sein, die Geschichte vom Verlieben. In das Selbst, in das Leben. Wäre doch großartig, wenn hier jetzt das Ende wäre, „and she lived happily ever after…“. Aber wann fordert Fortschritt eigentlich mal keine Opfer? „Du hast dich in das verliebt, was du dir selber im Leben gewünscht hast!“ Ja, das stimmt, aber ganz ehrlich, jetzt fällt mir bald nichts mehr ein. Meine Wunschliste ist ganz kurz geworden. Da steht bald nur noch er. Aber er kreuzt meine Wege nicht, ihn kann ich nicht manifestieren, so sehr ich es auch will.

Seine Stimme, die letzte Melodie in meinen Ohren

Nur ein Fangirl. Ich weiß nicht. Sein Gesicht ist in meinem Kopf sobald mich der Schlaf freigibt, seine Stimme klingt als letzte Melodie in meinen Ohren. In meinen Träumen ziehen wir oft gemeinsam umher. Wenn ich dann aufwache, fühle ich mich schwer und schwermütig.

Wie kann etwas so Irreales so reale Gefühle, so echten Schmerz, so eine nervöse Unruhe auslösen? Da ist doch sicher eine tiefere Verbindung. Klar ist: Das Bild, das ich von ihm habe, festigt sich täglich mehr, wird immer mehr idealisiert mangels eines Realitätschecks. Ich will doch nur die faire Chance auf einen ehrlichen Korb.

Ich bin unglücklich glücklich fremdverliebt in einen Popstar und ich weiß nicht, wann das vorbeigeht.

Ich bin 37. Ich habe einen Mann, zwei Kinder, ein Haus, ein Leben. Ich bin unglücklich glücklich fremdverliebt in einen Popstar und ich weiß nicht, wann das vorbeigeht und wie das überhaupt jemals enden soll und es fühlt sich echt an und gleichzeitig so albern und dann wieder lächerlich. Es lähmt mich in einsamen Momenten und oft will ich, dass es jetzt einfach wieder geht, dass es mich freigibt in mein neugewonnenes Ich.

Melanie. Instagram-Selbstdarstellung als Therapie, kann das funktionieren? Ja, sagt die Verfasserin und bearbeitet mangelndes Selbstbewusstsein, Scham und Konfliktscheue in ihrem kleinen Instagram-Universum. Selbstironisch, aber dennoch voller Ungeduld und Sehnsucht und in der Hoffnung, dass ER sie doch noch mal bemerkt. Und seit sie gehört hat, dass es noch andere Menschen gibt, die Kopfkino-Liebschaften mit ihnen fremden Menschen unterhalten, fühlt sie sich weniger verrückt und hofft, dass jemand den Text liest und erleichtert aufatmet: „Alles okay mit mir!“

Headerfoto: Мария Волк via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

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