Vor ein paar Tagen bin ich auf einige Zeitungs-Artikel gestoßen, die mich nachdenklich stimmten, einen Prozess in meinem Kopf in Gang setzten, von dem ich weiß, dass er schon eine Weile unterschwellig brodelt, immer mal wieder, und sich dann in die Tiefen meiner Gehirnwindungen zurückzieht. Zum Schlummern. Bis ein neuer Reiz ihn triggert – und mein schlechtes Gewissen sich meldet. Ich mache nicht genug.
Vom Nest bauen und politischen Krisen
Verfolgt man die aktuellen Tagesgeschehnisse brav via Nachrichten, kann man schnell zu dem Schluss gelangen, dass die Welt mehr oder weniger am Rande des Abgrunds steht: Wir haben das Plastik-Problem in den Weltmeeren, wir haben Trump, wir haben Glyphosat, wir haben 65 + Millionen Flüchtende, wir haben Hungersnöte, Kriege, Erdzerstörung, Atomkraft.
Man mag angesichts dieser dramatischen Umstände, in denen wir uns auf unserem durch das Weltall tingelnden Planeten befinden, in Schockstarre verfallen. Sich dem Häuslichen zuwenden. Wert auf gutes Essen, Handarbeit (neumodischer: DIY), Backen, Ausmisten und so weiter legen. Realitätsflucht?
Der fluter beinhaltet einen Beitrag, in dem es genau darum geht, dass wir verlernt haben, zu fordern. Wir – die Generation Y, die sogenannte – sind aufgewachsen in einer Welt ohne Krisen, die uns persönlich betroffen hätten, unmittelbar jedenfalls. Wir haben keinen Weltkrieg erlebt – auch keinen kalten –, wir mussten nicht hungern, nichts wieder aufbauen. Wir haben nicht gegen Atommeiler demonstriert, nicht den Kampf für Gleichberechtigung geführt. Jedenfalls nicht in dem Maße wie die Generationen vor uns.
»Umso wichtiger wäre es, dass sich die, die alle Vorzüge einer guten Bildung genießen, nicht dem Konsum hingeben und nur die Fragen der Übersättigten stellen: Was soll ich studieren? Welcher Strand ist denn jetzt wirklich nur für mich alleine da? Oh Gott, mein Kleiderschrank ist so voll. Weltreise oder Praktikum?« (Fluter)
Sind wir verweichlicht? Haben wir keine Ansprüche? Geht es uns zu gut? Sind wir übersättigt?
Sind wir verweichlicht? Haben wir keine Ansprüche? Geht es uns zu gut? Sind wir übersättigt?
In Zeiten, in denen alles Ware geworden ist (sogar der eventuell zukünftigen Partner*innen – man schaue sich Tinder und Co. an), alles nur dafür da zu sein scheint, dass wir es uns einverleiben, hektisch verdauen, ausscheiden und nach direkt Neuem gieren, ist die Frage, was wir eigentlich denen hinterlassen wollen, die nach uns kommen, umso drängender.
Das Ego im Mittelpunkt: Sinnkrisen und ihre Reichweite
Das größte Problem, das die meisten von uns in ihrer aktuellen Lebenssituation haben, ist wohl folgendes: Wie kann ich zur besten Version von mir selbst werden?
Was kann ich alles lernen, welchen Karriereweg soll ich einschlagen, wie kann ich achtsam mit mir selbst umgehen, wie nicht vom Hamsterrad des immerfort Arbeitenden überrollt werden? Achtsamkeit, Entschleunigung und Meditation sind die neuen Mantren, Yoga das neue Pflichtsportprogramm. Ich nehme mich da nicht aus. Gesunde Selbstkritik hat noch niemandem geschadet.
Wir kreisen so sehr um uns selbst, dass wir in einen tunnelblickartigen Rauschzustand verfallen.
Wir kreisen so sehr um uns selbst, dass wir in einen tunnelblickartigen Rauschzustand verfallen: Ich möchte dieses und jenes Ding haben, um ein besserer Mensch zu werden. Einer, der noch mehr leisten kann – notfalls auch auf der Entschleunigung-Schiene. Wir sind die neuen Götzen. Uns haben wir auf das Podest gehoben, um unser Abbild als goldenes Kalb tanzen wir herum.
Das klingt hart – dennoch ist es die Wahrheit.
Und wenn der Tanz jäh unterbrochen wird, weil die Bahnen des Lebens doch nicht so vorgezeichnet sind, wie es für einen reibungslosen Übertritt von Abschnitt zu Abschnitt nötig wäre, verfallen wir in gedrückte Stimmungen, bekommen Sinnkrisen, Burn-Outs, Depressionen. Wie soll es weitergehen mit einer Welt, deren wohlhabendste Menschen am Problem des eigenen Selbst scheitern?
Müssten wir nicht vielmehr die Energie, die uns unser Überfluss schenkt, in etwas Produktives für die Gemeinschaft verwandeln, anstatt „Hygge“ zu zelebrieren und neben der Strickarbeit Tee zu schlürfen? Reicht es aus, dass alles feinste Bioqualität hat, die Baumwolle selbstverständlich GOTS-zertifiziert ist, die Bude ausgeräumt und die überflüssigen Sachen gespendet wurden?
Ist das alles, was wir für einen Fortbestand dieser Welt leisten?
Abgesehen davon, dass das Frauenbild, was wir damit transportieren, ein problematisches ist und an großmütterliche Standards erinnert, bleibt die Frage, ob das alles sein soll, was wir zum gesunden Fortbestand dieser Welt leisten. Oder sogar: zum Besserwerden.
»Die Frauen, die [in den Magazinen] vorgestellt werden, betreiben Foodtrucks, rühren Naturkosmetik an, basteln Geburtstagskarten und nähen alte Bettwäsche zu Blusen um. Es ist ein Frauenbild, als säße Adolf Hitler unterm Tisch und mache Familienpolitik. Während draußen die Welt Einmischung und politisches Engagement bräuchte, wird das Zuhause zum Flausch-Bunker hergerichtet.« (SZ)
Ich mache nicht genug
Ist es genug? Das ist die Frage, die uns eigentlich alle dominieren sollte. Wo wollen wir hin – in zehn, zwanzig, fünfzig Jahren? Im Moment leben wir auf Pump, nach der Nach-mir-die-Sinflut-Manier. Wie lange das so weitergehen wird, ist umstritten. Wahrscheinlich kein halbes Jahrhundert mehr. Da sind wir vielleicht bald nicht mehr da – und weil die meisten von uns sowieso nur ein bis gar kein Kind haben möchten, hat sich das sowieso alles erledigt, oder?
Wie weit darf unser Luxus gehen – wie weit muss unsere Verantwortung reichen?
Wie weit darf unser Luxus gehen – wie weit muss unsere Verantwortung reichen?
Reicht nachhaltiges Leben aus? Und ist die Behauptung, für mehr reiche es neben Familie und Job eben nicht, vielleicht nur eine ebenso flauschige Ausrede, um sich nicht mit unbequemen politischen Fakten beschäftigen zu müssen? Wann und wo ziehen wir unsere Konsequenzen?
Von Selbsthilfe zum Engagement
Und auf der anderen Seite diese nagende Gewissheit: Ich kann mich einfach nicht aufraffen. Ich kann mich nicht mit meiner ganzen Energie, meinem Selbst, meiner Leidenschaft in die Leben, Probleme und Sorgen anderer Menschen stürzen oder sie vertreten, wenn ich mich selbst nicht auf die Kette kriege.
Das klingt verweichlicht, vielleicht ist es das auch.
Vielleicht brauchen wir alle mehr vom weniger.
Vielleicht brauchen wir alle mehr vom weniger, mehr Zeit für uns selbst, mehr (Selbst-)Liebe, mehr radikal-subjektive Revolution, damit wir diese Erkenntnisse gesellschaftswirksam in die Gesichter derjenigen brüllen können, die sich solche und andere Gedanken abseits des eigenen Kontos nicht zu machen scheinen. Doch diesen Doppelschritt müssen wir dann auch in aller Konsequenz gehen – und nicht bei der Selbstverliebtheit, die ja so schnell auch in Eitelkeit umschlagen kann, stehen bleiben.
Und vielleicht ist die These, unsere Generation kenne gar keine Krise, nicht haltbar?
Vielleicht hat sich lediglich das Gewand des Krisengespenstes verändert – und nun sind es keine konkreten, irgendwie anpackbaren Dinge, die die Generation Y ins Straucheln, zum Erstarren bringen, sondern vielmehr die kompakt-komplizierte Gesamtheit der so unübersichtlich gewordenen, am Katastrophenrand stehenden Weltkugel. Es gibt nicht mehr die eine Krise – es gibt viele. Und sie passieren gleichzeitig. Welche sollen wir priorisieren, welcher uns als Erstes zuwenden? Welche verdient die meiste Aufmerksamkeit?
Anmerkung: Dieser Beitrag ist keine Anklage, auch wenn er allgemein formuliert ist. Er ist vor allem – treue Leser*innen werden das sofort erkannt haben – Selbstkritik und -reflexion und spielt Gedanken durch, die einem unter der Dusche oder der Bettdecke oder im Regen an der Bushaltestelle kommen. Und die es dennoch verdient haben, ausgesprochen zu werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
Headerfoto: Jenni via Instagram. („Heal The World“-Buttonhinzugefügt.) Danke dafür!
Die These, Eure Generation kenne gar keine Krise, ist einmal faktisch und aus Sicht der Untrennbarkeit von Emotionen, Intuition und Kognition nicht haltbar. Genauso wenig, sie wäre verweichlicht, sie hätte keine Ansprüche oder es ginge ihr zu gut.
Die Frage „Sind wir übersättigt?“ stellt die Wirkung in den Vordergrund und verwechselt sie mit der Ursache. Eure Generation hat zu viele Wahlmöglichkeiten und das hat eine belastende Wirkung. Das Fehlen effizienter Entscheidungsprozesse, die die Emotionen und die Intuition umfasst, belasten zusätzlich.
Wenn Ihr Euch fragt, ob feinste Bioqualität und Spenden von überflüssigen Sachen reicht, gibt es offensichtlich etwas in Euch, das Euch motiviert, das zu tun. Das wäre eine banale und zugleich höchst erhellende Einsicht für die Auslösung Eurer Themen. In der Folge hinterfragt Ihr Euch, wie weit die Wirkung Eures Tuns ausreicht. Das Tun und die Überprüfung der Wirkung erfordert dieselbe innere Motivation. Da dieser Prozess dem Bewussten nicht zugänglich ist – Ihr wisst nicht, warum – muss er aus dem Emotionssystem heraus gesteuert werden.
Die Scham enthält das emotionale Motiv der Zugehörigkeit zu einem System durch Leistung. Das emotionale Motiv ist nicht zu verwechseln mit dem äußerst unangenehmen Gefühl, wenn die Scham in den dysfunktionalen Bereich rutscht. Die Systeme, zu denen man gehören oder nicht gehören wollte, wie Familie, Dorf, Fußballverein, Herkunftsland, waren in früheren Generationen überschaubar. Heute habt Ihr ein Vielfaches an Gruppen und Systemen. Noch in der 70er Jahren konnte ich Rock-, Pop- oder Jazzfan sein, heute habt Ihr 13 Unterarten im Rock. Hier wiederholt sich das Phänomen, die Wahlmöglichkeiten sind zu groß.
Eure Generation und die Welt brauchen sicher mehr Liebe, dazu gehört auch die Selbstliebe, selbst wenn sie in Eitelkeit und Hybris umschlagen kann. Fatalerweise ist es so, je stärker die Scham oder andere Emotionen wirken, desto mehr wird die Liebe überlagt, so dass die Liebe nicht mehr wirken kann. Der Tunnelblick ist nur eine Folge davon.
Die Scham ist eine Zutat zur fatalen kalibrierten emotionalen Schleife, die Schuld ist die andere. Schuld ist die Emotion, die Menschen motiviert, mit einer Ausgleichsbewegung eine Beziehung wiederherzustellen. Das kohärente Weltbild, Eure Generation würde nicht genug tun, ist Auslöser für eine individuelle Ausgleichsbewegung, die, wenn sie nicht ausgeführt wird, in ein unangenehmes bewusst wahrnehmbares Schuldgefühl mündet. Wer immer Euch glauben machen will, Ihr seid nicht gut genug, steht nicht auf Eurer Seite.
Schon habt Ihr einen fatalen Kreislauf, der unbewusst wirkt, sich unangenehm anfühlt und eine Vielzahl von Begründungen liefert, die Du in diesem Artikel beschreibst.
Ich persönlich glaube, dass Eure Genration das Wissen, das ich gerade beschrieb, verstehen und damit einen Prozess einleiten wird, der jenseits von Revolution steht.
Herzlich Richard Graf