Ich wollte das nicht. Ich wollte das nie. Soweit sollte es nicht kommen. Und doch ist es passiert. Alles, was ich mit 16 wollte, war ein wenig abzunehmen. Ein wenig schlanker zu sein, ein wenig kürzere Röcke tragen zu können – und stattdessen wurde nur ich: weniger.
Angefangen hat alles sehr harmlos. Ich hatte durch die Antibaby-Pille zugenommen, ganze sieben Kilo in drei Monaten. Die sollten halt wieder weg.
Ich hatte durch die Antibaby-Pille zugenommen, ganze sieben Kilo in drei Monaten. Die sollten halt wieder weg.
Sport war mein Mittel der Wahl, als es anfing, mir so unangenehm zu werden, dass ich etwas ändern wollte. Ich konnte nicht mal die 15 Minuten mit dem Fahrrad zur Schule fahren, ohne dass ich im Sommer bei der Ankunft fürchterlich zu schwitzen begann. Mit 16 ist sowas peinlich und Mitschüler sehen das. Sehen alles, was ihnen nützt, sich über andere lustig zu machen und kurz mal selbst nicht das Opfer zu sein.
Ich ging in die Vollen: Frauen-Fitness-Studio, endlose Jogging-Runden im Wald, mit meinem Vater sonntags Schwimmen. Ich machte sieben Mal die Woche Sport und es tat sich – nichts. Zunächst. Also begann ich zusätzlich weniger zu essen und gesünder. Ich substituierte Schokolade mit Obst, Nudeln mit Salat, Nutella-Toast mit Müsli.
Was mir zuerst viel zu langsam ging, fühlte sich nun an, als würde es von einem auf den nächsten Tag geschehen. Ich nahm rasant schnell ab, hätte praktisch jede Woche neue Hosen kaufen können – und ich freute mich. Natürlich, denn endlich begann meine Mühe Früchte zu tragen, von denen ich buchstäblich zehrte. Zum Schluss war ich so begeistert von meiner eisernen Disziplin, dass ich nicht mehr als drei Äpfel am Tag aß und satt davon war.
Was von meiner Familie am Anfang unterstützt wurde, verselbstständigte sich und an meine vor Stolz betäubten Ohren drangen – vor allem in der Schule – nun immer lautere Rufe der Kritik.
Von meiner Familie am Anfang unterstützt, verselbstständigte sich mein Siegeszug gegen die Pfunde und an meine vor Stolz betäubten Ohren drangen – vor allem in der Schule – nun immer lautere Rufe der Kritik: »Die ist so krass dünn«, »Das ist nicht normal« und einmal sagte auch eine meiner damals besten Schulfreundinnen zu mir: »Wow, bist Du mager geworden.«
Der Eklat kam, als mein Deutschlehrer auf mich zutrat, mitten im Unterricht, und mich vor versammelter Klasse fragte: »Fräulein K., geht es Ihnen gut? Sie sehen so blass und dünn aus.«
Auf meine stolze Erwiderung, dass beides beabsichtigt sei, da ich mich jeden Tag mit Sonnencreme LSF50 einschmierte – ich mochte meine Blässe – und auch sehr hart daran gearbeitet hatte, abzunehmen, antwortete er: »Dann haben Sie sich also entschieden, magersüchtig zu werden?«
Ich stand auf und verließ umgehend das Zimmer. »So eine Frechheit!«, dachte ich. »Da habe ich mich so bemüht, etwas an mir zu arbeiten, schöner zu werden (für mich, nur für mich) und auch jetzt werden noch Witze über mich gemacht.« Keiner kam auf mich zu und sprach mir einmal ein Lob für meine Disziplin und harte Arbeit aus.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich hatte abnehmen wollen und fühlte mich großartig – solang mich niemand zwang, mit Essen meinen Erfolg zu zerstören.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich hatte abnehmen wollen und es auch durchgezogen, was war das Problem? Ich fühlte mich großartig – solang mich niemand zwang, mit Essen meinen Erfolg zu zerstören.
Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht einmal am Tiefpunkt. Ich machte weiter, wollte nichts von dem opfern, was ich erreicht hatte, und nahm immer weiter ab. Nur Wochen später wog ich, anstelle der angestrebten 53, nur noch 41 Kilo. Ich fand mich selbst nicht mehr schön. Jede Bewegung tat weh, meine Haare fielen aus und ich war ausgelaugt, da mich nachts Angst- und Weinkrämpfe plagten.
Mein Zuhause war auch längst kein Refugium mehr für mich. Meine Schwester war zum Studium ausgezogen, mein Vater wollte mich ständig mit Süßigkeiten füttern und schenkte mir zum Abendessen große Weizengläser mit Apfelsaft ein. Meine Mutter begann mir heimlich mehr Öl, Butter oder Sahne in mein Essen zu mischen und hoffte, ich bekäme nichts davon mit und würde einfach wieder zunehmen. Aber ich fühlte mich dadurch bedrängt, allein und betrogen.
Zudem stritten sich meine Eltern in dieser Zeit sehr oft. Öfter als sonst; über die Dinge, die ohnehin bei uns immer wieder Thema waren – und mich. Wie das mit mir hatte passieren können. Wer von ihnen so viel falsch gemacht haben konnte.
Ich begann, Angst vor dem Essen zu entwickeln. Und Abscheu vor mir selbst.
Ich begann, Angst vor dem Essen zu entwickeln. Und Abscheu vor mir selbst. Ich wollte nicht der Grund für den Streit meiner Eltern sein und dachte, je dünner ich werde, desto weniger störe ich.
Freunde hatte ich keine mehr. Die meisten waren überfordert mit meiner Situation, mit meinem Elend. Und ich war ihnen nicht mal böse. Ich fühlte mich lediglich ein wenig mehr allein als sonst. Ich verbrachte meine Zeit damit, stundenlang Fahrrad zu fahren, immer längere Wege, bis meine Muskeln so schmerzten, dass ich nicht mehr konnte und mich noch nach Hause quälen musste.
Nur eine Person behandelte mich wie einen normalen Menschen. Redete mit mir und nicht über mich, ging mit mir ins Kino und wurde nach und nach zu einem Freund und dann zu meinem Freund.
Natürlich war auch er sich der Tatsache bewusst, dass ich krank war, aber anstatt mich zu drängen, doch zuzunehmen, hielt er mir den Rücken frei und war für mich da und verteidigte mich. Für ihn war es ein Erfolg, wenn ich überhaupt etwas aß – ob einen Apfel oder eine Pizza (von der man natürlich effektiver zunimmt) – das war erstmal egal.
Er machte instinktiv so viel richtig, was andere und gerade meine Eltern aus purer Hilflosigkeit im Umgang mit mir »falsch« machten. Statt Schuldgefühlen zum Abendessen bekam ich von ihm bedingungslose Zuneigung, Ruhe und Liebe. Als eine Mitschülerin zu ihm sagte: »Deine Freundin soll mal mehr essen!«, erwiderte er einfach: »Das geht Dich gar nichts an.«
Ich wollte selbst wieder zunehmen, wusste aber nicht wie, wo anfangen? Ich hasste meine Krankheit, aber konnte auch nicht ohne sie.
Ich wollte ja selbst wieder zunehmen, wusste aber nicht wie, wo anfangen? Ich hasste meine Krankheit, aber konnte auch nicht ohne sie. Sie war zwischen meinem 16. und 18. Lebensjahr längst zu meiner Begleiterin geworden. Ab einem gewissen Punkt ist Zunehmen genauso schwer wie Abnehmen. Und dann, eines Morgens, kam der Blitzeinschlag.
Ich saß mit meinem Vater beim morgendlichen Kaffee (natürlich mit Süßstoff) und sah wie durch Zufall einen Bericht über eine stationäre Einrichtung für Mädchen mit Magersucht und Bulimie. Ein Mädchen, das dort gezeigt wurde, war so ausgezehrt und entkräftet, dass sie nicht mehr alleine gehen oder richtig sprechen konnte. Sie saß im Rollstuhl und die Krankheit hatte bereits begonnen, ihr Gehirn als letzte Energiereserve anzugreifen.
»Das war’s«, dachte ich mir, »Ich bin zwar mager, aber nicht blöd. Und ich bin traurig, aber sterben will ich nicht. Zumindest nicht so. Ich kann meinetwegen vom Bus überrollt werden oder mit dem Flugzeug abstürzen. Aber so will ich nicht sterben. Nicht an dieser Krankheit und nicht jetzt. Ich habe jemanden, der mich liebt, der braucht mich vielleicht noch, der verlässt sich auf mich.«
Ich rief bei der Telefonseelsorge an und fand eine Einrichtung in meiner Stadt, bei der ich kostenlos Hilfe in Anspruch nehmen konnte.
An diesem Tag rief ich bei der Telefonseelsorge an und fand mit deren Unterstützung eine Einrichtung in meiner Stadt, bei der ich kostenlos Hilfe in Anspruch nehmen konnte in Form einer Gesprächstherapie. Ich ging jede Woche hin und nahm in den folgenden Monaten immer wieder ein bisschen mehr zu. Doch der Weg zum Normalgewicht war lang und nicht immer einfach zu gehen.
Heute weiß ich das. Und heute geht es mir auch weitestgehend wieder gut. Ich habe die 20 Kilo, die ich damals in einem halben Jahr abgenommen habe, schon längst wieder drauf. Doch auch heute lebe ich noch immer nicht frei von der Angst, achte noch immer sehr genau darauf, was ich esse und wie viel. Aber ich hasse mich und meinen Körper nicht mehr abgrundtief, wenn ich doch einmal mehr gegessen haben sollte, als geplant.
Wichtig war: Ich habe mir damals Hilfe gesucht und Hilfe gefunden. Ich brauchte sie und – was für mein Genesen noch wichtiger war – wollte sie auch. Es sollte damals nicht so enden. Nicht mit 18 Jahren und nicht deswegen. Und auch wegen meines damaligen Freundes wollte ich die Hilfe.
Denn für ihn kam es nicht darauf an, dass ich möglichst schnell wieder möglichst viel zunehme. Er akzeptierte meine Krankheit und nahm mir selbst den Schrecken vor ihr. Er brachte mir bei, dass ich es wert bin, mir die Unterstützung zu suchen, die mir beim Überleben hilft. Und auch wenn wir heute kein Paar mehr sind: Ich bin ihm noch immer unendlich dankbar – und auch mir selbst, weil ich meiner Krankheit dem Kampf angesagt habe. Und das hat sich gelohnt.
Wenn auch Du unter Magersucht, Bulimie oder einer anderen Essstörung leidest und gerne Hilfe in Anspruch nehmen möchtest, aber nicht weißt, wo Du anfangen sollst: Ruf vielleicht erst einmal bei der Telefonseelsorge an. Die helfen Dir, in Deiner Stadt Hilfe zu finden und das Gespräch mit ihnen ist anonym und kostenlos. Denk daran: Du bist nicht allein und Du bist es wert, dass man Dir hilft und Du darfst Hilfe suchen. Es wird Menschen geben in Deinem Leben, die Dir zeigen, wie schön es ist. Gib nicht auf, es gibt einen Weg.Headerfoto: An der Wand lehnende junge Frau mit Papier-Schmetterlingen (Stockfoto) via Dean Dobrot/ Shutterstock. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!