Ich weiß noch ganz genau, wann es zum ersten Mal passiert ist: Ich war zu spät zu meinem Tanzkurs und musste mich beeilen. Ich stieg aus dem Bus und eilte am Stadttheater entlang den Gehweg in Richtung der Straße, in der sich meine Tanzschule befand. Ich trug rote Ballerinas und mein absolut liebstes Sommerkleid: Weiß mit einem Übergang zu Pink und vielen rosafarbenen Blumen darauf. In diesem Kleid fühlte ich mich immer fabelhaft.
Wie ich da so den Weg entlang hastete, fuhr ein Auto an mir vorbei. Darin saßen zwei oder drei Männer, Mitte oder Ende zwanzig. Als ich an ihnen vorbeiging, fuhren sie langsamer und fingen an, mir Dinge hinterherzurufen und zu pfeifen. Ich lief einfach weiter, während sich in mir alles zusammenzog. Das Kleid gab mir danach nie wieder dieses gute Gefühl.
An diesem Tag war ich gerade mal 15 Jahre alt. Ich war eine minderjährige Jugendliche, die von erwachsenen Männern verbal sexuell belästigt und bedrängt wurde. Damals dachte ich „das ist eben so“. Heute weiß ich, dieser Satz ist weder eine Rechtfertigung noch eine Ausrede. Es ist nicht „eben so“.
Die Geschichte vom „Kompliment“
Mir ist längst bewusst, dass wir in einer Welt leben, die ursprünglich von Cis-Männern für Cis-Männer gemacht wurde. Wer das nicht glaubt, sollte mal die „Gender Data Gap“ nachschlagen und sich überlegen, warum das generische Maskulinum als universale Wortform für alle Menschen dient und es kein generisches Femininum gibt.
Frauen* haben sich den Platz als vollwertiges Gesellschaftsmitglied erkämpft. Wir versuchen krampfhaft, diese Welt zu einem Ort zu machen, an dem sich jede Person, unabhängig ihrer sexuellen Identität oder Orientierung, wohl- und zugehörig fühlt. Aber immer wieder stoßen wir auf die Überreste von patriarchalen Strukturen und müssen dafür kämpfen, diese zu erneuern, weil wir gegen das übliche „so haben wir das doch immer gemacht“ ankämpfen müssen.
Eines dieser Dinge, die eben schon immer so waren, sind unangebrachte verbale sexuell anzügliche Bemerkungen meist gegenüber Personen, die als weiblich gelesen werden. „Catcalling“ ist der mittlerweile eingedeutschte englische Begriff dafür. Es gibt im Strafgesetzbuch recht deutliche Vorgaben dafür, was als sexuelle Belästigung gilt und was hier strafbar ist. In den meisten Fällen wird eine gewisse Form von Anfassen dafür vorausgesetzt. Sorry, aber sexuelle Belästigung beginnt schon viel früher!
Ich gehe davon aus, dass jede einzelne Person, die als weiblich gelesen wird, in ihrem Leben mehr als einmal sexuell auf der Straße von fremden Männern belästigt wird.
Ich könnte jetzt Statistiken, Zahlen und Daten herausholen, um zu unterstreichen, wie viele Frauen* in ihrem Leben schon einmal sexuell belästigt wurden. (Ja, auch Männer* werden sexuell belästigt. In den meisten Fällen sind es aber Frauen*, die von Cis-Männern angegangen werden. Und um die geht es hier.) Das würde aber niemals das Ausmaß der Dunkelziffer auch nur annähernd streifen.
Basierend auf meinen eigenen Erfahrungen und unzähligen Gesprächen mit Freund*innen, ist meiner Meinung nach davon auszugehen, dass jede einzelne Person, die als weiblich gelesen wird, in ihrem Leben mehr als einmal sexuell auf der Straße von fremden Männern belästigt wird.
Kleine Geschmacksprobe gefällig?
Seit ich 15 Jahre alt bin, werde ich regelmäßig aus Autos, von Motorrädern oder von Fahrrädern herab im Vorbeigehen angemacht, angepfiffen, hergerufen, … Manche besonders intelligente Individuen bekommen ein stilvolles „Boah, geile Titten!“ heraus. Andere grölen anstößige Worte, Laute, Sätze und gerne zwei Sekunden danach zusätzlich eine obszöne Beleidigung.
Gefährte werden neben mir langsamer, um einen besseren Blick zu bekommen. Mehr als einmal wurde ich (auch noch als Minderjährige) aus einem Auto heraus gefragt, ob ich nicht einsteigen möchte, um etwas mit dem Fahrer zu unternehmen. Beim Joggen werde ich angegafft und mir hinterhergerufen. Ein Jogger ist tatsächlich schon einmal eine Weile neben mir gejoggt, um zu fragen, ob wir nicht zusammen laufen wollten. So schnell bin ich noch nie nach Hause gerannt.
In der Straßenbahn wurde ich angefasst, unangebracht angesprochen und einmal sogar von einem wildfremden Mann auf die Schulter geküsst, während er aus dem Wagen ausstieg. Das ist nur ein kleiner Auszug und ich will gar nicht anfangen zu erzählen, was nachts beim Feiern gehen schon alles für sexualisierte Worte, Rufe, Sprüche oder Handbewegungen in meine Richtung gingen.
Mir reicht’s!
Lange dachte ich, damit muss ich eben leben. Lange habe ich versucht, es abzuschütteln und zu verdrängen. Oft musste ich mir von meiner Mutter anhören, dass ich doch nicht „so“ rumlaufen kann. Die gesellschaftliche Norm schreit geradezu: „Selber schuld! Die armen Männer haben ja gar keine Wahl! Die sind doch eben nun mal so!“ Leider liegt diese Norm falsch und ich habe lange gebraucht, um das zu begreifen:
Nein, es ist nicht „nun mal so, wie Männer sind“. Ein gesunder Menschenverstand und anständiges, respektvolles Verhalten gegenüber anderen Menschen liegt nicht in den Genen, das muss und kann gelernt werden!
Nein, es ist kein Kompliment, weil ich darauf nicht „Danke“ sagen kann. Was ich nach so einer Aktion für den Rest des Tages tun will, ist der Person ins Gesicht zu kotzen. Weil „halt nur so n dummer Spruch“ genau das in mir auslöst.
Nein, ich provoziere das nicht mit meiner Kleidung oder meinem Aussehen. Meine reine Existenz ist nicht der Anlass, sich wie ein Höhlenmensch auf Paarungssuche zu verhalten. Wir sind eine höhere Spezies, die verdammt nochmal auf dem Mond war. Warum ist ein gesitteter Umgang mit unseren Mitmenschen so schwierig?
Nein, hier geht es nicht um Gefallen oder den Versuch, Zuneigung auszudrücken. Hier geht es um Macht und nichts anderes. Hier geht es darum zu sagen: „Ich kann mit dir machen, was ich will, weil ich der Stärkere bin.“
Ja, die Welt hat noch andere Probleme. Aber zu leugnen, dass das auch eines davon ist, wäre fatal. Nur weil es für dich kein Problem darstellt, heißt es nicht, dass das für alle anderen Personen auch gilt. Nur weil du es nicht siehst oder miterlebst, kann es dennoch real sein und andere Menschen in ihrem Leben einschränken.
Mimimi vs. Selbstachtung
„Darf man denn heute gar nichts mehr sagen?“ Doch. Du darfst sagen, was du willst, solange du andere Personen damit nicht in ihrer Freiheit zu leben einschränkst. Wenn mir heute jemand hinterherruft, dann nehme ich das den ganzen Tag mit. Es beschäftigt mich, weil es mich anekelt, weil es mich mit Scham erfüllt und vor allem, weil es mich unendlich wütend macht.
Eine Wut so groß, dass ich mir aktiv vorstelle, wie ich diesem Menschen, der nach drei Sekunden schon wieder vergessen hat, was er getan hat, physische Gewalt zufügen möchte. Das ist kein Witz. Es macht mich derart rasend, weil ich will, dass er meinen Schmerz versteht und dazu noch den von jeder anderen sexuellen Belästigung, die ich erdulden musste. Denn viel anderes kann man in diesem Moment nicht tun.
Es kommt aus dem Nichts und meist sind die Personen weg, bevor man sich umgedreht hat. Es ist ein Schockmoment, dem stunden- und manchmal tagelange Wut und Unbehagen folgen.
Es kommt aus dem Nichts und meist sind die Personen weg, bevor man sich umgedreht hat. Es ist ein Schockmoment, dem stunden- und manchmal tagelange Wut und Unbehagen folgen. Es ist nicht der Mensch schuld, der passiv die Straße herunterläuft, sondern der Mensch, der aktiv glaubt, das Recht zu haben, diesen Menschen zu seinem sexuellen Lustobjekt zu machen.
Also nein. Hier geht es nicht um Komplimente, was man darf und was nicht oder einfach die Quintessenz des „Mann-Seins“. Hier geht es um Macht und fehlenden Respekt. Und das kann sich erst ändern, wenn wir aufhören solche Dinge abzutun als wären sie nichts und anfangen deutlich zu machen, dass hier eine Grenze überschritten wird. Es geht darum, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen.
Jetzt aktiv werden
Während in Frankreich schon seit 2018 Geldstrafen für sexuelle Belästigung auf der Straße verhängt werden, steht die Debatte in Deutschland noch aus. Die bewundernswerte Antonia Quell aus Fulda hat beschlossen, die Diskussion voranzutreiben und die Petition „Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein“ ins Leben gerufen.
Als ich davon gelesen habe, habe ich die Petition sofort unterschrieben. Keine zehn Minuten zuvor wurde mir auf der Straße von einem Mann der Spruch „geile Titten“ hinterhergerufen. Ich war so perplex, dass ich nicht darauf reagieren konnte, so schnell war er an mir vorbei. Die Petition kam wie gerufen, weil ich mich endlich verstanden gefühlt habe. Ja, sowas sollte man nicht erdulden müssen!
Wenn ich in Zukunft bei einem Fall von sexueller Belästigung in der Öffentlichkeit mit realen rechtlichen Konsequenzen drohen könnte, würde ich mich danach wahrscheinlich nicht mehr so ekelhaft und machtlos fühlen. Dass wir in 2020 den Schritt gehen müssen, Personen mit rechtlichen Schritten ein respektvolles Verhalten gegenüber anderen einzubläuen, ist traurig… aber auch nicht verwunderlich.
Es wird Zeit, dass wir Sexualität und Zuneigung nicht mehr mit Macht verwechseln, dann glaubt nämlich auch niemand mehr, dass es sich bei sexueller Belästigung um ein Kompliment handelt.
Wenn du jetzt auch aktiv werden willst, unterschreib Antonias Petition und setze ein Zeichen. Für dich. Für deine Schwester. Deine Mutter. Deine Freundin. Deine Tochter.
Headerfoto: Joanna Nix-Walkup via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt, Bild gecroppt.) Danke dafür!