Endlich wieder Mensch sein

Ich sitze in der U-Bahn und frage mich, wie es wohl wäre Zeuge zu werden, dass sich hier und jetzt zwei einander noch fremde Menschen kennenlernen. Ein Café wäre wohl ein besserer Ort, denke ich mir. Der Supermarkt, ja, das ist noch besser, da kann leichter ein Thema gefunden werden. Vielleicht fällt ja auch jemandem etwas runter und die andere Person hebt es auf. Und während ich so vor mich hin schwärme, merke ich gar nicht, dass ich bereits sowohl die U-Bahn verlassen habe, als auch am Café und Supermarkt vorbeigegangen bin. Ich relativiere indem ich mir die ganzen Schwierigkeiten einer solchen Situation vorstelle. In der U-Bahn tragen alle Kopfhörer, sie wollen bestimmt nicht gestört werden. Nein, das wollen sie nicht – und heute kann man ja auch auf dem Handy ganz wichtige Sachen machen. „Fahrzeit ist Arbeitszeit“ wirbt die Bahn doch immer. Und wenn schon in der Bahn gearbeitet werden muss, dann sollte niemand auch noch im Supermarkt beim „schnell einkaufen“ aufgehalten werden. Auch im Café beobachte ich immer mehr Menschen mit aufgeklapptem Laptop. Können wir uns eigentlich noch langweilen? Wollen wir das überhaupt oder muss alles, was wir machen, einen Nutzen haben, welchen wir im Vorfeld schon definieren, damit sich jede Entscheidung rentiert?

Rentabilität misst den „wirtschaftlicher Erfolg eines Unternehmens“ und wird in Prozent ausgedrückt. Und trotzdem scheint es als beziehen Menschen diesen Begriff auf sich selbst – das Unternehmen „Ich“. Prozent, also von 0 bis 100. Jede Entscheidung kann gemessen, bewertet und in Relation zum Aufwand gesetzt werden. Dazu bedarf es natürlich möglichst viele Kenngrößen und möglichst wenig Ungewissheit, um darauf zurückzukommen, weshalb U-Bahn-Gespräche wohl eher selten sind. Tinder probiert uns ein wenig dieser Ungewissheit vor dem ersten Date zu nehmen, indem wir nicht nur Fotos der Person sehen, sondern oft auch Informationen wie Alter, Größe, Hobbies, gemeinsame Freunde, Interessen, Studium, Beruf usw.

Oft lese ich Texte, in denen es darum geht, dass sich heute keiner mehr auf eine Beziehung einlassen möchte. Dass stets nach etwas Besserem – vielleicht etwas Rentablerem – gesucht wird. Haben wir die von Unternehmen so zielstrebig verfolgte „ständige Optimierung“ auf uns übertragen? Zuerst als Konsumenten für Produkte, indem viele immer das neuste und bessere möchten, bis hin zur Beziehung, die man solange „besitzt“, bis es eine neue Ware gibt? Der Mensch als Ware – lange dachte ich, dass diese Zeiten zum Glück endgültig vorbei wären. Firmen geben mehr Geld für Werbung als für den Kundenservice aus. Haben auch wir das Zuhören verlernt? Keine Lust mehr auf die Kommunikation, in der Probleme ausgemacht werden können und wir somit in der Lage wären, diese zu beheben?

Eine Firma hat den Vorteil, nur das Produkt verbessern zu müssen, jedoch nicht sich selbst. Ein Wesen mit Eigenschaften, Gefühlen und Charakter, welches wir jahrelang aufgebaut haben und doch für so perfekt und richtig halten, will um jeden Preis verteidigt und aufrechterhalten werden.

Sich in einem ersten Schritt einzugestehen, dass wir uns aber oft selbst im Weg stehen, ist wohl viel schwieriger als zu versuchen seine Umwelt zu verändern. George Bernard Shaw schreibt: „Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an. Der unvernünftige versucht hartnäckig die Welt an sich anzupassen. Daher hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Mensch ab.“ Ein tolles Zitat, welches ich für menschliche Beziehungen etwas erweitern würde: Wir sollten aufhören zu starken Fortschritt in der Liebe zu suchen. Wenn uns das gelingt, können wir wieder vernünftig unvernünftig sein und auch eine Veränderung bei uns selbst zulassen.

Ich verstehe, dass das sehr schwierig ist. Wir kennen keine Materialkosten, keine Dauer für die Umstellung und keine um x% gesteigerte Rentabilität, wenn wir etwas an uns ändern.

Die einzige Gewissheit, die wir haben, wenn wir uns dem Ungewissen beugen ist, endlich wieder einmal Mensch zu sein. Unvernünftig durch „ohne Bewertung“ zu ersetzen und nicht als Synonym für Sturheit zu gebrauchen.

Für den Moment zu leben, Langeweile zu spüren, Freude zu fühlen aber auch zu leiden und zu verzweifeln. Das alles unterscheidet uns vom homo oeconomicus. Ungewissheit ist der Gegner der Rationalität, sie lässt uns verrückte Sachen machen – irrationale, ohne Plan, festem Ziel und doppeltem Boden. Eine Befreiung, ein Aufruf an uns selbst, dass wir in erster Linie Mensch und nicht Unternehmen sind.

Daniel Aubin studiert im Master VWL und ist daneben auf der Suche nach dem kontrollierten Kontrollverlust. Er lebt noch und liebt Berlin und kann ganz gut mit Langeweile umgehen. Bei im gegenteil hat er übrigens ein fabulöses Porträt. Mehr findet ihr auch auf seinem aubinsblog.

Headerfoto: Sam Manns via Unsplash.com (Gesellschaftsspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

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