Ich sitze im Flieger von Panama City nach Berlin. Es geht nach Hause. Drei Monate auf Reisen quer durch Südamerika liegen hinter mir. Heute ist der Tag, auf den wir so intensiv hingefiebert haben. Doch unser Plan ging nicht auf.
Acht Länder, mein Rucksack und ich. Eine Auszeit vom Alltag sollte es sein, aber vor allem von Zuhause. Nach drei Jahren Single-Dasein und zielstrebiger Karriere mal raus kommen. Berlin und seine Unverbindlichkeit – das Leben muss doch mehr zu bieten haben! Ich war fest entschlossen, all meine Energie in etwas völlig Neues zu investieren.
Zwei Wochen vor Abreise summt Tinder nochmal auf. Ein Match! Eigentlich schnüre ich gerade alle Altlasten sorgfältig zusammen und bin gedanklich schon fast weg aus Berlin. Kisten packen, Berichte lesen, Zwischenmieter casten. Aber irgendetwas zieht mich zu diesem Date. Nur noch ein klitzekleines Treffen, nur mal gucken.
Eine Auszeit vom Alltag sollte es sein, aber vor allem von Zuhause. Berlin und seine Unverbindlichkeit – das Leben muss doch mehr zu bieten haben!
Wir verabreden uns an der Oberbaumbrücke. Ich komme dir nach der Arbeit entgegen geradelt und wir lächeln uns an. Deine blauen Augen brennen sich direkt in mein Gedächtnis ein und deine aufgeschlossene Art versiegelt den Eingriff. Mit den Gedanken bei meiner Reise bete ich parallel zum Sonnenuntergang den üblichen Steckbrief herunter. Doch diesmal ist es anders.
Während des kleinen Spaziergangs entlang der Spree verstehen wir uns auf Anhieb und lachen viel. Du erzählst mir zum Schluss sogar, dass du unter Multipler Sklerose leidest. Ich lese später darüber, aber es ändert nichts. Nach dem Date lasse ich dir meine Telefonnummer zukommen. Du meldest du dich prompt und wir schreiben ab dem darauffolgenden Tag, fast ohne Luft zu holen.
Aus einem Date werden fünf innerhalb einer Woche. Die Zeit ist rar und die Emotionen prasseln wie ein Wasserfall auf uns ein. Du fährst mich zu meiner letzten Reiseschutzimpfung, wir gehen aus, zum Eisbärenspiel und in den Fotoautomaten. Auf meiner Kommode finde ich eine dieser Sprüchekarten mit dem Aufdruck „Knistert es zwischen uns?“ und deiner Handschrift auf der Rückseite.
Diese Woche verläuft so perfekt, dass Perfektionismus eine völlig neue Bedeutung für mich bekommt. Deine Entschlossenheit in einer Stadt, in der nichts mehr verbindlich scheint und deine Zuneigung geben mir ein Gefühl von Unbesiegbarkeit.
Deine Entschlossenheit in einer Stadt, in der nichts mehr verbindlich scheint und deine Zuneigung geben mir ein Gefühl von Unbesiegbarkeit.
Ich steige ins Flugzeug nach Uruguay. Die folgenden Wochen facetimen wir so oft es geht und die Zeitverschiebung es zulässt. Ich bin komplett integriert in dein Leben und du in meinem. Du erstellst Spotify-Playlisten für mich und schickst selbst geschnittene Videos von den Orten, an denen wir unsere Dates hatten.
Heimweh soll nicht aufkommen, nur die Vorfreude auf die Zukunft. Ich habe Zweifel. Du entgegnest nur, dass du es extrem ernst meinen würdest und dass du so hart willst, dass ich die Frau an deiner Seite bin.
Du wirst dastehen, wenn ich zurück bin, darauf könne ich mich verlassen. Ich lerne via facetime auch deine Freunde kennen. Und deine Eltern laden mich zum gemeinsamen Urlaub ein. Doch das geht uns alles nicht schnell genug. Du buchst deinen Weihnachtsurlaub und wir verbringen Silvester gemeinsam in Rio de Janeiro in Brasilien.
Doch unsere gemeinsame Zeit verläuft nicht wie erträumt. In Brasilien angekommen, bist du plötzlich kühl, sehr träge und schnell gestresst. Ich habe keinerlei Erfahrungen, ob und inwiefern die Krankheit dazu beiträgt. Du kommst schwer in den Tag, schenkst mir wenig Aufmerksamkeit. Anfangs nehme ich dein Verhalten in Schutz, doch es wird immer schwieriger für mich, damit umzugehen.
Überfordert mit der Situation konsultiere ich Dr. Google und versuche Brücken zu bauen, aber keine erreicht das Ufer.
Überfordert mit der Situation konsultiere ich Dr. Google und versuche Brücken zu bauen, aber keine erreicht das Ufer. Ich habe wieder Zweifel. Du entgegnest, dass sich für dich nichts geändert hat. Wir reisen weiter. An einem der schönsten Orte, die ich je gesehen habe, kann ich kaum entspannen. Und du lässt dir den Ortsnamen als dein erstes Tattoo stechen.
Nach 10 Tagen verlassen wir Brasilien zusammen und doch getrennt. Mein Flug geht weiter nach Kolumbien und deiner zurück nach Berlin. Ich drehe mich noch einmal zu dir um und weiß, dass es mehr als nur ein kurzer Abschied ist.
Mir bleiben noch ungefähr ein Monat und zwei weitere Länder, doch das letzte Drittel verläuft ganz anders. Keine Nachrichten mehr, kein facetimen, keine Videos. Auf meine Fragen keine Antworten. Du schläfst mir sogar vor der Linse ein. Ich habe so richtig Zweifel. Du entgegnest nichts. Das Gedankenkarussell reißt mich jeden Tag mit und ich gerate plötzlich in Panik.
Ich erwische mich dabei, wie ich um alles in der Welt versuche festzuhalten, was nicht mehr da zu sein scheint. Ich weise mir die Schuld zu, dich unter Druck gesetzt zu haben. Google sagt, Müdigkeit und Rückzug sind Symptome für einen MS-Schub. Ich habe Angst, dass ich der Auslöser war. Aber ich weiß doch gar nicht, wie sowas geht!
Du bist kometenhaft in mein Leben eingeschlagen und genauso schnell und intensiv hast du es wieder verlassen.
Ich stecke alle Kraft in die letzten zwei Wochen meiner Auszeit. Auf Ausflügen in die Wildnis schalte mit dem WLAN auch meine Gefühlswelt komplett ab.
Zuhause ist es wieder ganz still. Als wären da nicht mal Geräusche gewesen. Du bist kometenhaft in mein Leben eingeschlagen und genauso schnell und intensiv hast du es wieder verlassen. Ich suche den Kontakt und will dich verstehen. Du seist zu bewegt und du wolltest mir nie sowas antun.
Ich bringe dir aus Kolumbien ein gemaltes Kunstwerk mit. Du möchtest es als Andenken an die schöne Zeit behalten, aber ein Abschiedskuss würde alles nur noch schlimmer machen. Die unverbindliche Stadt hat mich wieder. Ich habe keine Zweifel mehr. Wir sind wieder zwei Fremde in Berlin.
Was bleibt, ist zu wissen, dass die Verbindung echt war. Und auch wenn sie nicht mehr da ist, es gab sie. So etwas findet man nicht an jeder Straßenecke, aber ich durfte es fühlen. Egal ob eine Vorstellung oder eine schwere, chronische Krankheit Einfluss nehmen, am Ende sind wir alle Menschen, die fühlen. Die auch fühlen können, was der andere fühlt. Die Frage ist, ob wir den Mut haben, uns den Gefühlen des anderen zu stellen. Diese Entscheidung liegt bei uns selbst und sie macht uns zu dem, der wir sind.
Headerfoto: Brooke Cagle via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!