Lieber Tommy, heute ist Dein 35. Geburtstag, doch Du bist in dieser Welt nur 25 Jahre alt geworden. Als wir uns kennen- und lieben lernten, schrieben wir uns aufgrund der Entfernung viele Briefe. Ein Satz ist mir aus den vielen Seiten, die ich noch immer habe, in Erinnerung geblieben:
„Ich möchte unbedingt 100 Jahre alt werden. Alles mitnehmen, Konzerte, Festivals …“
Doch eine Krankheit hat Deine Pläne durchkreuzt, Dir die Hoffnung auf ein langes Leben genommen.
Der Tag, an dem ich erfahren habe, dass Du gestorben bist, hat sich mit allen Details in mein Gedächtnis gebrannt.
Der Tag, an dem ich erfahren habe, dass Du gestorben bist, hat sich mit allen Details in mein Gedächtnis gebrannt. Ich war gerade mit Freunden im Urlaub, in einem kleinen Ort in der Nähe von Kopenhagen. Wir liefen gerade zum Bahnhof, als ich auf meinem Handy einen verpassten Anruf Deiner besten Freundin sah. Ich wusste instinktiv, dass Du nicht mehr am Leben bist. Bedingt durch eine seltsame Vorahnung, als ich zu Beginn der Reise eine SMS an Dich schrieb – die aber nicht an Dein Handy versandt werden konnte. Sehr ungewöhnlich für Dich.
Deine beste Freundin rief mich erneut an. Ich hielt mein Telefon in der Hand und schaute es mit einem befremdlichen Gefühl im Herzen an. Am liebsten wäre ich gar nicht rangegangen.
„Hallo Theresa…. also… hier ist J., vom Tommy… und ich wollte Dir sagen… dass er im Schlaf gestorben ist. Vorgestern.“
Ein Gefühl wie eiskaltes Wasser peitschte blitzschnell durch meinen Körper, ich griff mir in einer verzweifelten Geste an den Kopf und hörte mich selbst „Scheiße!“ brüllen. Sehr oft, sehr, sehr oft.
Ein Gefühl wie eiskaltes Wasser peitschte blitzschnell durch meinen Körper, ich griff mir in einer verzweifelten Geste an den Kopf und hörte mich selbst „Scheiße!“ brüllen. Sehr oft, sehr, sehr oft.
Inzwischen musste ich aufgelegt haben. Ich sackte nach unten und hielt mich an dem Geländer einer Holzbrücke fest, die über einen kleinen Fluss führte. Um mich herum nur Wiese und vereinzelte Bäume. Sonst Leere – wie passend. Ich schwieg.
Das alles war für mich unfassbar und wie lange ich noch an der Brücke saß, weiß ich nicht mehr. Ich bin so froh und dankbar, dass eine gute Freundin in diesem Moment zufällig da war und die Situation mit mir aushielt, sodass ich diese Nachricht nicht allein Zuhause in meinem WG-Zimmer erfuhr.
Der Anfang
Die Erkrankung, die für Dich ein unüberwindbares Hindernis werden sollte, war eigentlich nicht tödlich. Zumindest nicht in unserem Gesundheitssystem. Du hast mit 20 Jahren Diabetes Typ 1 diagnostiziert bekommen, ohne Ursache, einfach so – und auch da warst Du auch schon, wie du es mir berichtet hast, knapp am Ableben vorbeigekommen.
Doch hatte ich den Eindruck, dass Du das nie so akzeptieren konntest – und ich hätte Dir so gern diese Annahme der Erkrankung „eingeredet“.
Der erste Warnschuss kam in den Sommerferien 2006. Du warst bei mir, meine Eltern im Urlaub. Es war 2:30 Uhr in der Nacht.
Der erste Warnschuss kam in den Sommerferien 2006. Du warst bei mir, meine Eltern im Urlaub. Es war 2:30 Uhr in der Nacht. Ich wurde von einem Geräusch geweckt. Es kam von Dir: eine Mischung aus Stöhnen und leisen, kurzen Schreien – begleitet von Zuckungen. Und dieses Geräusch kam nochmal. Und nochmal. Bis es schließlich in einem heftigen Krampfanfall umschlug. Ich war kopflos, fragte, was los sei, aber Du hast natürlich nicht antworten können.
Telefon. Notruf. Warten. Inzwischen hast Du ruhig am Boden gelegen, mit einem tiefen, verdächtigen Schnarchen und dazu dieser merkwürdig süß-saure Geruch im Raum. Der Rettungsdienst kam, überprüfte Deinen Blutzucker und schüttelte nur den Kopf: „Also der Wert ist 3,2 mmmol/l, der hat doch keine Hypoglykämie. Der hat nix.“
Nix?! Ich konnte gar nichts erwidern. Durch diesen Schock machte natürlich mein Kreislauf selbst gerade Überstunden. Die Bilder verschwammen vor meinen Augen und ich glitt auf den Boden. Alles um mich herum drehte sich.
„Sagen Sie mal, haben Sie Drogen genommen?!“
„Nein, natürlich nicht!“
Mehr Fragen kamen nicht.
„Naja, wir können ihn mitnehmen, wenn es sein muss.“
Und wieder und wieder …
Dann warst Du eine Nacht im Krankenhaus meines Heimatortes, hast Dich jedoch selbst wieder entlassen. Die Geschichte hörte nun aber nicht auf – alles geschah immer wieder. Bei einem Festival, auch wieder gegen 2:30 Uhr. Ich höre mich noch panisch über den Zeltplatz schreien. Dann Silvester 2006/2007, zur selben Zeit. Inzwischen wachte ich schon automatisch um diese Stunde auf, konnte kaum neben Dir einschlafen.
Dein schmerzverzerrtes Gesicht während des Krampfanfalls, mein Kreislaufkollaps sobald dann Rettungskräfte da waren.
Dein schmerzverzerrtes Gesicht während des Krampfanfalls, mein Kreislaufkollaps sobald dann Rettungskräfte da waren. Und immer hast Du Dich aus dem Krankenhaus selbst entlassen, hast Deinen Diabetologen nicht kontaktiert. Und ich gebe zu, als Du dann vermutlich wegen der nächtlichen Unterzuckerung gestorben bist, war ich zunächst auch wahnsinnig wütend. Warum hast Du Dir nicht helfen lassen?!
Die Jahre nach Deinem Tod waren sehr schwer für mich. Mir wurden eine Depression und Angst-Panikstörung diagnostiziert; danach kamen Psychotherapie, Tabletteneinnahme, irgendwie durchbeißen. Damals hatte ich nicht genug Einblick, um den möglichen Zusammenhang zwischen den Erlebnissen mit Dir und meiner psychischen Erkrankung zu verstehen.
Der Tag des Abschieds
Die Beerdigung fand erst Wochen nach Deinem Tod statt. Meine Mama hat mich begleitet. Ich fühlte mich unheimlich klein – mit meiner stacheligen Rose in der Hand – und konnte Deine Mutter, Freunde und Verwandten nur flüsternd begrüßen. Für alle war es ein besonders schwerer Abschied, weil Dein Vater erst sechs Monate zuvor an Krebs verstorben war und Du doch erst selbst in dieser Trauerhalle gesessen und um ihn getrauert hast.
Zum Zeitpunkt Deines Todes waren wir kein Paar mehr. Aber wir teilten drei Jahre unseres Lebens.
Zum Zeitpunkt Deines Todes waren wir kein Paar mehr. Und immer, wenn ich danach Menschen, die Dich nicht kannten, von Dir und diesem Tag erzählt habe, verschwieg ich dieses Detail. Ich hatte Angst, in meiner Trauer um Dich nicht ernst genommen zu werden, und wollte dieses schwere Gefühl damit besser verständlich machen – und die Tragik für mich, da wir uns nach meinem Urlaub im September noch einmal hatten sehen wollen. Wir teilten drei Jahre unseres Lebens. Du hast mich geprägt und ich wünschte, die Leute könnten das so sehr fühlen, wie ich es tue.
Lieber Tommy, ich bin so dankbar, Dich gekannt und geliebt haben zu dürfen. Durch Dein Schicksal hat mein Leben eine bestimmte Richtung eingeschlagen und es haben sich Türen geöffnet, die sonst vielleicht verschlossen geblieben wären. Danke, auf Dich!
Headerfoto: Junge Frau auf Schachbrettmuster (Stockfoto) via Evgeny Hmur/Shutterstock. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt. Danke dafür!)