Die Tyrannei der Freiheit

Als Politikstudentin nenne ich den Alltag (seit wann ist dieses Wort so negativ konnotiert?) gerne „meine persönliche Feldforschung“. Aktueller Forschungsschwerpunkt: Die Unfreiheit der Freiheit. Forschungsort: erst Passau, dann Berlin. (Es ist an jedem Ort das gleiche Spiel, egal ob Kleinstadt oder im „super individuellen“ Berlin – ich muss lachen, wenn ich Letzteres schreibe.)

Jede Chance, keine Chance. Die Möglichkeit jeder Möglichkeit. Die Unendlichkeit des Seins. Seien wir doch mal ehrlich – unserer Generation stehen alle Türen offen. Es gibt keine festen Regeln. Du wirst nicht Bankkaufmann wie dein Vater und Großvater. Aber welcher ist für Dich der richtige Job? Früher ging man selten ins Restaurant. Meist gab es einen besonderen Anlass. Nicht die Geschmacksrichtung, sondern die Gemeinsamkeit stand im Mittelpunkt. Heute, wenn nicht gerade Monatsende ist, herrscht im Portemonnaie keine Ebbe und die Vielfalt an Restaurants ist endlos. Du könntest Japanisch, Indisch oder Mexikanisch essen. Was schmeckt Dir heute denn am besten? Die Blonde an der Bar ist ziemlich hübsch. Und dort, die mit dem kurzen braunen Bob, die hat was Besonderes. Aber eigentlich schreibst du gerade mit Amelie. Cooles Mädel. Total entspannt, hübsch und die Zeit mit ihr ist klasse. Dennoch: vorsichtshalber holst Du Dir die Nummer von dem interessanten Mädel mit dem braunen Bob. Kati. Du lernst sie kennen. Ihr verabredet euch für kommendes Wochenende. Was ihr unternehmen könntet? Die Auswahl ist groß … entspannt ins Café nach Neukölln, Mauerpark im Prenzlberg, Street Food Festival in Kreuzberg oder doch besser abends was trinken in Mitte. Und so weiter.

Merkst du es? Spürst du diesen Zwang? Dieser Zwang der absoluten Freiheit? Das Streben nach dem Optimum? Wann haben wir verlernt, zufrieden zu sein? Oder hat es unsere Generation, geboren in Freiheit ohne strenge gesellschaftliche Zwänge (außer unseren selbst auferlegten), nie gelernt? Unsere Eltern rebellierten gegen Staat oder die eigenen Eltern. Männer trugen lange Haare, Frauen emanzipierten sich. Du männlich, lange Haare und tätowiert? Das interessiert heute keinen mehr. Den wenigsten von uns wurden gesellschaftliche Normen diktiert. Die Regeln, denen Du meinst folgen zu müssen, die hast Du Dir selbst ausgesucht. Es gibt keine Abgrenzung mehr. Du könntest, aber du könntest auch anders.

Wir mussten uns nicht mit Umständen „zufrieden“ geben. In unserem Leben gibt es immer eine andere Möglichkeit, eine andere, eine bessere. Diese unendliche Möglichkeit an Möglichkeiten. Eine Freiheit, die uns zu hoch geworden ist. Eine Freiheit der Unfreiheit. Wir leben mit diesem Zwang, alles sei möglich. Diese ständige Auswahl hat uns entscheidungsunfähig gemacht. Rastlos. Auf der Suche nach mehr. Auf der Suche nach dem Optimum. Dem Streben nach Glück.

Stopp! Jetzt. Es muss überhaupt nicht alles möglich sein. Wer hat uns diesen Floh ins Ohr gesetzt? Nicht jede Chance will genutzt werden. Nicht jede muss genutzt werden. Lerne zufrieden zu sein – für Dich. Wenn wir stetig nach rechts und links blicken, auf der Suche nach etwas noch Coolerem, Schönerem oder Interessanterem – etwas, das uns „erfüllt“, dann verpasst Du, das, was direkt vor Dir liegt, Dich schon glücklich macht.

Was ich mit diesen Worten sagen möchte? Ein Appell an uns alle. Du darfst Dich entspannen. Optimum braucht es nicht. Wenn Du dich begnügst, gehört das Glück Dir.

Keine endlosen Diskussionen, auf welche Geschmacksrichtung wir am meisten Appetit haben. Sind wir doch mal ehrlich: Wenn Du richtig Appetit auf Pizza hast, dann weißt du es! Und wenn nicht, dann ist es doch egal, wohin du gehst – schmecken tut es uns doch (fast!) überall. Entscheide Dich. Anna oder Kati? Erkenne die Unvereinbarkeit von Freiheit und Liebe. Entscheide Dich. Street Food Festival oder ein entspannt im Café? Wie möchtest Du deine Zeit mit ihr verbringen? Entscheide Dich.

Unsere Möglichkeiten sind unendlich. Achtung, dass Du Dich im Meer der Möglichkeiten nicht selbst ertränkst. Biete der unendlichen Freiheit Deine Stirn und gib dem Glück eine Chance. Sagen wir dem Ende der Liebe den Kampf an: Lerne, dich zu entscheiden! Lerne, zufrieden zu sein! Und falls Du Dich irrst: Wo ist das Problem? Glück ist nicht Ziel einer Suche. Es liegt direkt vor Dir.

Amilee ist 22, konservative, super tolerante und weltoffene Politikstudentin. Sie besitzt keinen Fernseher – lieber läuft sie mit offenen Augen durch die Welt – das ist mindestens genauso spannend. Im Alltag unterwegs auf „empirischer Feldforschung“, um am Ende des Tages mehr über sich selbst gelernt zu haben. Sie sieht in der Zufriedenheit das allergrößte Glück und liebt das Leben – auch wenn es mit der ‚Liebe‘ nicht klappen mag. Ach ja: #addictedtogoodfood

Headerfoto: Sharon McCutcheon via Unsplash.com. (Gesellschaftsspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür.

imgegenteil_Amilee

3 Comments

  • Dein Text spricht mir unglaublich aus der Seele. Nur wie kommen wir aus dem Dilemma wieder raus? Wahrscheinlich liegt die Lösung schon vor uns. Wir können uns nur nicht entscheiden welche der Lösungen wir nehmen.

  • Ich persönlich glaube nicht, dass die Freiheit ein Tyrann ist; wie im Artikel beschrieben ist die Unfähigkeit zur Entscheidung das Problem nicht die Möglichkeit selbst. Dazu muß man aber in sich selbst horchen und herausfinden was man eigentlich will darin liegt die Crux; nicht in den Möglichkeiten ansich. Weniger Möglichkeiten lassen einem nur die Illusion, dass das Problem außen und nicht innen liegt.

  • Schöne Einstellung! Ich glaube da würde jeder spontan gleichziehen. Allerdings gestehen sich die Meisten, dazu gehöre auch ich, ein, dass sie eben noch nicht so weit, wenn sie erstmal in sich gegangen sind.

    Zum Thema Auswahl. Zumindest in Sachen Liebe ist das nichts Neues. Erst letztens wurde mir von einer Frau in den 80ern zugetragen, dass auch damals schon Beziehungen die Regel waren, in denen mindestens einer der Partner ständig nach dem Optimum Ausschau gehalten hat. Im Kern sind wir doch nur Tiere. Einige können darüber hinauswachsen, andere nicht.

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