Choreographien des Miteinander

Sonia trug immer nur Schwarz, was sicher nicht auf Ideenmangel zurückzuführen war. Es gibt ja unterschiedliche Arten, ausschließlich Schwarz zu tragen, und die ihre war, zugegebenermaßen, nicht ganz eindeutig definiert bzw. zu definieren: In ihr fungierte das Schwarz als ständiger Stellvertreter für alles, was man sonst hätte tragen können. In dem Wissen um alle erdenklichen Optionen wähle ich keine. Es gab da einen faszinierend eigenartigen Konsens, unter Modeschaffenden oder sonst wie in dem Bereich Tätigen, der sich selbst lange Zeit als Avantgarde ausgab und damit durchkam. Erst als die großen Ketten den Trend, der sich bemühte keiner zu sein, in ihr Sortiment aufnahmen und jede Gymnasiastin, die beim Friseur gelegentlich Modezeitschriften las, wie eine gefallene Nonne herum schlurfte, wurde es schwieriger. In Fachkreisen grub man dann konsequent weiter in der Gothic-Kiste, übernahm dunkle Haare und Lippen, satanisch anmutende Accessoires und mit Silber beschlagene Stiefel, außerdem diese phlegmatische, angewest bleiche Attitüde des in Selbstzufriedenheit trauernden Kellerkindes. Man rauchte mehr als dass man redete, und auch das Kiffen wurde wieder salonfähiger, wenn es lasziv betrieben wurde und die Augen blutunterlaufen, übernächtigt und abwesend erscheinen ließ.

Sonia war eine Meisterin auf ihrem Gebiet, das wusste ich sofort, obwohl ich das Gebiet nicht hätte benennen können. Das war in Ordnung, sie kannte an mir auch hauptsächlich mein Trinkverhalten. Sie machte ihre Sache jedenfalls hervorragend. Wir trafen uns an einem Abend in einer betont unscheinbaren Bar, wie wir das immer taten. Bedingung war, dass man rauchen konnte, was die Auswahl erheblich einschränkte. Wir soffen immer Rotwein und Wodka, in der Reihenfolge, und raunten uns gegenseitig halbgare Thesen zu, ohne je eigentlich zu wissen, wovon der Andere sprach. Sie akzeptierte ausschließlich Bands, von denen ich nie ansatzweise gehört hatte, sah Filme, deren gesamter Produktionsstab mir fremd war, äußerte sich – für ihre Verhältnisse – enthusiastisch über einen Designer, der mir auf der Stelle wieder entfiel, kochte Gerichte, die wie japanische Neologismen klangen und las nichts als hervorragend designte Fachmagazine, deren Fach ich nicht zu entziffern wusste. Folgerichtig, wie man meinen würde, fühlte ich mich bei unseren ersten Treffen ein wenig schlecht. Ich gab nicht einmal vor, zu kennen, worauf sie sich beiläufig bezog, sondern beschränkte mich darauf, hier und da eine möglichst vieldeutige, kritische oder interessierte Bemerkung einzuflechten. Sie schien auch gar nicht zu erwarten, dass ich wirklich hätte mitreden können, und vermutlich war es bei ihren übrigen Dates nicht anders. Ich bemerkte schnell, dass es sich dabei einfach um ihre Art des Kommunizierens handelte, die nicht auf herablassender Arroganz beruhte, sondern auf einer realistischen Einschätzung von Gesprächspartner und –situation, die ihr ja auch durchaus Recht gab. Es war ein gegenseitiges Erzählen, begleitet von viel Schweigen, bzw. umgekehrt. Dass auch ich einige ungewöhnliche Interessen hatte oder sie wenigstens glaubhaft vortäuschen konnte, schien mich für sie annehmbar zu machen. Ob sie meine Themen ebenso wenig kannte wie ich die ihren, vermag ich nicht zu beurteilen – vielleicht wollte sie unsere gelegentlichen Aufeinandertreffen auch einfach in ihrem reaktionsarmen Gleichgewicht belassen. An diesem Abend bestellten wir den üblichen Roten, den wir beide sehr schätzten, ohne diesen Umstand je gesondert erwähnt zu haben. Ich hatte auch nie etwas von kulinarischem Snobismus gehalten, amüsierte mich aber in diesem Moment sehr darüber, wie schamvoll wir uns konsequent darüber ausschwiegen, dass wir einen ganz bestimmten Wein wählten. Mag sein, dass ich sie ärgern wollte, provozieren oder aus der Reserve locken, dass ich sie loswerden wollte vielleicht, obwohl es dafür keines besonderen Aufwands bedurft hätte, oder dass meine Langeweile mit mir durchging – jedenfalls verspürte ich ungeheure Lust, die Deckung der Belanglosigkeit fallen zu lassen, wirklich über etwas zu sprechen, wohin auch immer uns das bringen sollte. Um genau zu sein, hatte ich bereits damit begonnen, bevor ich Lust verspüren konnte, und in süffisant hüpfender Metrik gab ich eine Staccato-Variante meiner kürzlichen Quasi-Trennung zum Besten, die mir während ihres Entstehens zu gefallen begann, sodass ich sie rücksichtslos ausschmückte, was umso leichter gelang, je professioneller Sonia schwieg. Ich ärgerte mich dann doch, allzu lang gesprochen zu haben, denn als ich endete, war ihr anfänglicher Anflug der Verwirrung – den ich hoffte, bemerkt zu haben – dem wohlbekannten Charme einer hervorragend geschminkten Leiche gewichen. Ich hatte ihr zu viel Zeit gelassen, sich auf meine Ausschweifung, mein unschickliches Verhalten einzustellen. Sie fragte denn nur in alle Trockenheit, ob ich betrunken sei. Ich bejahte, was gar nicht stimmte, oder nicht mehr als sonst auch. Die Geschichte hatte ihr gefallen, glaube ich. Sie verzieh mir, indem wir uns lange und herrlich unbedeutend anschwiegen. Dann tranken wir Wodka – auch nicht irgendeinen, im Übrigen – als wäre nichts geschehen. Die Geschichte hatte ihr gefallen, glaube ich, aber nichts an ihr hatte sie überrascht oder gefesselt oder amüsiert oder sonst wie außerplanmäßig affiziert. Man konnte sie also getrost so behandeln, als wäre sie nie erzählt worden, und rauchen.

Wenn ich bei Sonia landete, schlief ich auch dort. Mich mitten in der Nacht rauszuwerfen, damit kein falscher Eindruck erweckt würde, erschien ihr wohl als zu eindeutiges Zeichen dafür, dass sie sich um solcherlei Eindrücke überhaupt Gedanken machte, also ließ sie mich schweigend und beiläufig bleiben. Ich blieb oft auch noch auf ein Kaffee-und-Zigaretten-Frühstück, am Morgen nach der mäßig geglückten, sozialen Unverschämtheit jedoch war ich verabredet.

Ich ging – was nicht meine Art ist – ungeduscht und ohne Kaffee getrunken zu haben aus dem Haus. Das lag zum einen an der frühen Stunde meiner Verabredung und infolgedessen meines gehetzten Aufbruchs, zum anderen an meiner Verabredung selbst, die, wie ich wusste, von mir erwarten würde, in miserablem Zustand das kleine Café am Kanal zu betreten. Dementsprechend fühlte ich mich in meiner Verwahrlosung ungewöhnlich wohl. Es gibt ja verschiedene Arten, sich nach einer durchzechten Nacht, mit diesigem Kopf und glasigen Augen, zu interpretieren und in der Umgebung zu verorten. Wenn das Gewissen und die Scham allzu schwer auf den Lidern lagen – was mit zunehmendem Alter immer häufiger zu passieren schien – präsentierte sich die Welt umso gnadenloser, schneller, abweisender. Jeder Blick, jede Straßenbahn, jeder geschäftig wirkende Gang bestätigte nur, dass man sich etwas vorzuwerfen hatte. Wenn die Sonne schien, war das Galgenhumor, wenn es regnete, war man allein schuld. An Tagen wie jenen aber, da sich die verbliebene Trunkenheit noch als Gleichgültigkeit niederschlägt, vernünftige Sorgen sich aufschieben, ohne dass Einfluss auf sie genommen werden müsste, Tage also, an denen man sich mit der herabgesetzten Version seiner selbst in Einklang befindet, ohne sich darüber Gedanken zu machen, an Tagen wie jenem also, welcher mit meiner Verabredung begann, scheint die Welt einverstanden mit dem von mir ausgehenden Schleier, der sie umhüllt, fügt sich in einen bequemen Trott und verzichtet gnädig darauf, Ereignisse hervorzubringen. Alles sah nach Sonntag aus, obwohl es mitten in der Woche war. Niemand, dem ich begegnete, schien recht zu wissen, wohin er zu gehen habe, und auch die Sonne schlich träge hinter unbeweglichen Wolken den farblosen Himmel entlang, als hätte sie etwas zu Vernachlässigendes verbrochen. Die Feuchtigkeit auf den Straßen hielt sich länger als üblich, und in ihrem matten Glanz nahm sich die gedeckte Umgebung teilnahmslos wahr. In den Läden lehnten die Angestellten an den Tresen, lasen die Zeitung, die die Themen vom Vortag aufgewärmt hatte, oder legten ihre Augen zwischen die Regale. Ich hörte Chopinsche Walzer über Kopfhörer, was ihm sicher missfallen hätte, und wiegte mich, jeden zweiten Takt wahrnehmend, in meinen klebrigen Stiefeln über den weichen Asphalt. Ich kam pünktlich am verabredeten Treffpunkt an und wurde trotzdem bereits erwartet, was zu erwarten gewesen war. Herbert schrieb sich die Rolle des ordentlichen, pünktlichen, langweiligen Bürgers in ihrer Gänze zu, was implizierte, dass er bitterlich enttäuscht war, wenn ich auch nur eine dieser Charakteristika aufzuweisen schien. Beinahe vorwurfsvoll sah er auf die Uhr, als ich mich neben ihm auf der Bank mit Aussicht niederließ, von der aus man die Enten beim ewigen Nichtstun bewundern konnte. Als er jedoch meine fettigen Haare, die schmutzigen Fingernägel, meine penetrante Fahne bemerkte, hellten sich seine Gesichtszüge auf, und er klopfte mir aufrichtig kollegial auf den Oberschenkel. „Na, lange Nacht gehabt?“ Das plötzliche Sitzen machte mir doch im ersten Moment deutlich zu schaffen, die sich mir präsentierende, an sich recht reizarme Umgebung brauchte eine ganze Weile, bevor sie sich vollständig aufgebaut hatte, wie ein Bild auf einem alten PC, das sich streifenweise von oben nach unten ausrollte. „Das Übliche“, knurrte ich in meiner feinsten post-Rotweinlage, zündete mir eine Zigarette an und ruhte in Herberts umfassendem Verständnis, „immer diese verrückten Damen, kennst du ja“. Herbert warf den Kopf dankbar in den Nacken, grinste breit in den schlierigen Himmel hinein, faltete die Hände auf den sich umschlingenden Beinen und sagte mit der geübt empörten Art der Mutter, die ihren liebenswürdig aus der Art geratenen Sohn vor aller Öffentlichkeit prahlerisch tadelt: „Nichts anderes hätte ich von dir erwartet. Der Herr bekommt einen großen Kaffee, schwarz natürlich, das englische Frühstück und einen Orangensaft, ach ja, und einen Aschenbecher, das sehen Sie ja. Für mich, hier, das Obstmüsli.“ Die Kellnerin verstand offensichtlich und ging weiter, sodass Herbert fortfuhr, in seiner Haltung verharrend: „Ja ja, ich wünschte ich wüsste, wovon du sprichst, aber andererseits wäre das vermutlich auch nichts für mich, diese unnachgiebigen, emanzipierten, intellektuellen Damen, die würden mir den Verstand rauben, da bin ich mir sicher. Die würden mich überfordern, und ich wüsste ja auch gar nicht, was ich denen erzählen sollte, heutzutage lauern ja überall Fettnäpfchen, und ich bin so einer, der in jedes tritt, das weißt du ja. Nee, das ist dein Gebiet, das überlasse ich schön dir. Einem wie mir reicht es schon, immer mal in den Genuss deiner Erzählungen zu kommen, mein Lieber.“ Er lachte herzlich und klopfte mir wiederum aufrichtig auf die Schulter, „was macht die Kunst?“ Das fragte er immer, und ich glaube, für Herbert hatte das Ganze den Charakter eines Running Gags. Da ich ehrlicherweise jedes Mal mit der Antwort überfordert war, ihm außerdem seinen Spaß nicht nehmen wollte und daher irgendetwas Klägliches vor mich hin stammelte, sah er sich bestätigt in seiner Auffassung, auch für mich sei dieser kleine Exkurs ein Teil unserer wohlwollenden Zwischenmenschlichkeit. „Immer noch der Bescheidene“, sagte er, wie üblich, „ich weiß schon, so richtig verstehen würde ich es ja ohnehin nicht.“ Er lachte und schüttelte diesmal dabei ein wenig den Kopf, was die dünn gewordenen Haare an seinen Schläfen in einen Hauch von Schwingung versetzte. „Ach, verstehen tu ich ja selbst nur das Wenigste“, brabbelte ich – eine Antwort, mit der Herbert in höchstem Maße zufrieden und einverstanden war. Mehr hatte er sich von der Unterhaltung nicht erhofft, der bisherige Informationsgehalt, gepaart mit meinem Erscheinungsbild, reichten aus, um ihn in helle, jungenhafte Begeisterung zu versetzen. Alles was jetzt noch käme, würde er mir als Bonus hoch anrechnen. Ich hielt Herbert für einen Mann von herausragendem Intellekt, der umso unverfälschter zu Tage trat, da er ihn selbst andauernd herunter redete. Außerdem besaß er das Einfühlungsvermögen eines treuen Haushundes sowie unendliches Wohlwollen allen Formen der Existenz gegenüber, mit Ausnahme seiner eigenen, die er für zwar notwendig, aber absolut nichtig, ereignislos und nicht erwähnenswert hielt. Er hatte kein Selbstmitleid, nicht im Geringsten, er wollte nur einfach niemanden mit seiner Alltäglichkeit, die er als für sich maßgeblich auserkoren hatte, unnötig einlullen und verscheuchen. Wenn wir uns wieder einmal verabredet hatten, schwankte ich zwischen ehrlicher Vorfreude, ihn zu sehen und einem drückend schweren Gewissen, von dem ich nicht wusste, ob ich es zu haben brauchte. Er würde es sich zuschreiben, seiner Eintönigkeit, wenn ich ihn sitzen ließe, niemals mir. Daher mein schlechtes Gewissen. Ich umgab mich so oft mit Menschen, die liebend gern und eigentlich ausschließlich von sich sprachen, dass mich sein totaler Verzicht auf sich selbst immer wieder völlig aus der Fassung brachte. Er war vielleicht meine einzige Bekanntschaft, der ich aufmerksam zugehört hätte, wäre es dazu gekommen. Die ehrliche Bewunderung, die er für mich hegte, hielt ich für völlig ungerechtfertigt, was ihn nur darin aufs Deutlichste bekräftigte, wenn ich es äußerte. Ich glaube, dass er Menschen wie mich brauchte, um seinem immensen Wohlwollen Ausdruck verleihen zu können, und ich musste mir bald voller Scham eingestehen, vermutlich auch Menschen wie ihn zu brauchen, zumindest kein anderes Verhältnis zu ihnen eingehen zu können, als solch eines, wie Herbert und ich es hatten. Ich wurde immer bewundert und habe mich immer dafür geschämt, als wäre ich ein billiger Trick.

Manuel wohnt hier und da, momentan aber hauptsächlich in Berlin. Manchmal schreibt er gern, um sich produktiv in Details zu verrennen. Ansonsten steht er auch mal vor oder hinter der Kamera. Er liebt und verachtet Kitsch, alles Ausufernde und -artende, Exzesse, Frauen, sich selbst. Das Übliche also. Mehr von Manuel gibt’s auf Größenwahn für Hypochonder oder seiner Webseite.

Headerfoto: Becca Tapert via Unsplash.com. (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

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