Der Optimierungswahn unserer Gesellschaft ist ein nie endender Wettlauf – alle müssen immer schöner, erfolgreicher, leistungsstärker, reicher, beliebter und funktionsfähiger werden. Damit schaden wir uns nur selbst, findet unsere Autorin, und hat einen Vorschlag für das ultimative Gegengift.
„Immer besser, immer höher und immer weiter entfernt von uns selbst.“
Diese Aussage trifft ziemlich gut auf unsere Gesellschaft zu. Sei es im Arbeitskontext oder im Privatleben – ich würde behaupten, die meisten von uns fühlen sich, bewusst oder unbewusst, häufig dazu genötigt, in jeglichen Lebensbereichen immer noch einen oben draufzusetzen. Bloß kein Stillstand. Persönliches Wachstum ist die Devise.
Auch ich bin davon nicht befreit. Erst gestern habe ich mich online nach einer Nasenkorrektur erkundigt, weil ich mir für einen kurzen Moment einredete, dass meine Nase zu groß sei. Als ich dann fassungslos auf die Preisliste starrte, beendete ich meine Suche abrupt. „Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?“, fragte ich mich in der nächsten Sekunde. Was soll ich sagen? Auch wenn ich eher der natürliche Frauentyp bin und bis heute nicht weiß, wie ein Concealer angewendet wird, um meine Nase schmaler erscheinen zu lassen, geht auch an mir der Hype um Schönheitsoperationen nicht vorbei.
In unserer Gesellschaft bist du, so wie du bist, nie genug.
Diese Situation machte mir wieder deutlich bewusst: In unserer Gesellschaft bist du, so wie du bist, nie genug. Das kann man auf sein äußerliches Erscheinungsbild beziehen, welches innerhalb kürzester Zeit „geupgradet“ werden kann oder auf den eigenen Lebenslauf, bei dem selbst der Nachweis eines Studienabschlusses immer noch zu wenig zu sein scheint. All das, was wir sind, all das, was wir haben, all das, was wir tun, könnte schließlich immer noch ein kleines bisschen mehr optimiert werden. Genau das treibt uns in dieser Gesellschaft an. Dabei dürfen wir jedoch eins nicht vergessen: Dieser Optimierungswahn ist ein nie endender Wettlauf.
Werde die beste Version deiner Selbst!
„Werde die beste Version deiner Selbst!“, wenn ich diesen Satz schon höre, stellen sich mir die Nackenhaare auf. Versteht mich nicht falsch, sich weiterzuentwickeln und an sich zu arbeiten, ist auch mein Anspruch. Ich selbst habe bereits eine Psychotherapie hinter mir und versuche auch weiterhin ungesunde Verhaltens- und Glaubensmuster aufzulösen. Trotzdem kann der Wunsch nach persönlichem Wachstum schnell in einem Optimierungswahn enden, der oftmals eine Menge Enttäuschung mit sich bringt.
Jahrelang war ich in der „Persönlichkeitsentwicklungs-Bubble“ unterwegs und weiß, wie frustrierend diese Bubble sein kann. Einige Coach:innen werben zum Beispiel damit, dass man seine Ängste nach ein paar Sitzungen vollständig loswerden könne. Man müsse nur dazu bereit sein, sich zu öffnen und verschiedene Tools auszuführen. Tools, die selbstverständlich eine Menge Geld kosten. Klingt erstmal verlockend.
Nachdem der anfängliche Zauber dieser meist wunderbar aufbereiteten Coaching-Sessions allerdings verflogen ist, hat sich nur selten etwas nachhaltig verändert. Das, was bleibt, ist oftmals Frust. Frust und die niederträchtige Frage: „Was habe ich denn (schon wieder) falsch gemacht?“ Man beginnt an sich zu zweifeln, setzt sich unter Druck und fragt sich im selben Moment, was man besser machen könne. Schließlich hat es bei den anderen doch auch funktioniert. Oder nicht?
Das, was bleibt, ist oftmals Frust. Frust und die niederträchtige Frage: „Was habe ich denn (schon wieder) falsch gemacht?“
Was mir letztendlich wirklich half, war eine Verhaltenstherapie. Mithilfe der Therapie lernte ich allerdings nicht, meine Ängste vollständig loszuwerden. Das halte ich ohnehin für Irrsinn. Ich lernte vielmehr, meine Ängste primär anzunehmen und mich nicht mehr für sie zu verurteilen. Weg von dem Gedanken „Du musst dich unmittelbar verändern, um das Allerbeste aus dir zu machen“ hin zu dem Gedanken „Es ist okay, wie du bist. Mit all deinen Ängsten und Unsicherheiten. Gib dir Zeit und sei, so gut wie es geht, freundlich zu dir selbst.“ Welch eine Erleichterung.
Ich möchte damit nicht per se alle Coach:innen kritisieren. Viele von ihnen leisten mit Sicherheit gute Arbeit. Was ich jedoch kritisch sehe, ist die explosionsartige Entwicklung dieser Szene und die Haltung von so manchen, vermeintlichen „Expert:innen“. Eine Persönlichkeit kann nämlich nicht wie ein defektes Auto betrachtet werden, welches lediglich einer Reparatur unterzogen werden muss und dann wieder einwandfrei funktioniert. So einfach ist das nicht. Wir Menschen sind wesentlich komplexer. Und das ist gut so.
Hohes Stresslevel als Statussymbol
Der Optimierungswahn macht sich nicht nur in unserem Privatleben lautstark bemerkbar. Auch im Arbeitskontext hat er uns häufig fest im Griff. Hier gilt ebenfalls: immer besser, immer höher und immer weiter entfernt von uns selbst. Ein Bachelor-Abschluss scheint schon fast die Norm zu sein und wer eine Ausbildung gemacht hat, sollte diese idealerweise mit einer Weiterbildungsmaßnahme abrunden. Der Optimalfall ist, ein eigenes Business zu gründen und ortsunabhängig zu arbeiten. Das wird zumindest von einigen Instagram-Nutzer:innen als das Nonplusultra beworben.
Du gibst dich mit deinem aktuellen Ist-Zustand zufrieden? Dann strebst du eben nicht nach Mehr und hast keine Visionen in deinem Leben. Wie bedauernswert.
Dabei werden allerdings zwei essenzielle Aspekte außer Acht gelassen: Zum einen haben nicht alle Menschen die gleichen Chancen, Ressourcen und Veranlagungen, um karrieretechnisch das vermeintlich bestmögliche aus ihrem Leben rauszuholen. Zum anderen hat da auch nicht jede:r Bock drauf. Arbeiten, um zu leben und nicht leben, um zu arbeiten. Dieser Leitsatz scheint sich immer mehr in den Köpfen der jüngeren Generation verankert zu haben. Trotzdem lautet das Gesetz unserer Leistungsgesellschaft: Wer nichts leistet, ist nichts wert. Und wer nicht mithalten kann, ist selbst schuld.
Das Gesetz unserer Leistungsgesellschaft lautet: Wer nichts leistet, ist nichts wert. Und wer nicht mithalten kann, ist selbst schuld.
Es wird Zeit, dass endlich ein Umdenken stattfindet. Ein hohes Stresslevel sollte nicht mehr als Statussymbol oder als Erfolgsindikator gelten. Das, wonach ich mich sehne, ist eine Gesellschaft, in der die Werte, für die wir einstehen, bedeutungsvoller sind, als unsere scheinbare grenzenlose Leistungsfähigkeit.
Die Kunst des Nichtstuns
Wir wurden in dieser Gesellschaft sozialisiert. Ob wir wollen oder nicht. Der Optimierungswahn ist in vielen von uns verankert. Bei den einen mehr, bei den anderen weniger. Die Frage ist jedoch immer, wie wir damit umgehen wollen. Entscheiden wir uns dafür, unser Leben lang der vermeintlich besten Version von uns selbst hinterherzuhecheln oder möchten wir uns von dieser Idealvorstellung lösen, indem wir lernen, uns selbst zu akzeptieren und auch mal Stillstand auszuhalten?
Einfach mal Nichtstun und sich am Allerwertesten lecken lassen.
Denn wenn etwas das optimale Gegengift zum Optimierungswahn darstellt, dann ist es Innehalten und Nichtstun. Einfach mal Nichtstun und sich am Allerwertesten lecken lassen. So könnte die Devise doch auch mal lauten.
Mirja Elena lebt in ihrer Wahlheimat Frankfurt am Main und arbeitet dort als Sozialarbeiterin. Auf ihrem Instagram-Account „lenis.thoughts“ möchte sie andere Menschen für das Thema „Trauer“ sensibilisieren und Trauernden mit ihren Beiträgen Trost spenden. Außerdem teilt sie dort ihre (poetischen) Gedanken über Themen wie Ängste, Mut und Selbstfürsorge. Mehr von ihr findet ihr auf Instagram.
Headerfoto: Antonio Amacifuen Rojas (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!