Vor einigen Tagen habe ich eine erste Version dieses Textes geschrieben, voll mit Zahlen, Daten, Fakten und Zitaten. Ich habe zig Expert:innen zu Wort kommen lassen, damit ich selbst nichts zu dem Thema psychische Gesundheit sagen muss, obwohl ich eigentlich gerade jetzt, in dieser herausfordernden Zeit, etwas dazu sagen möchte. Aber ich habe mich nicht getraut.
Eine Freundin hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass diese Kolumne anders klingt als alles, was ich sonst schreibe. Fremder. Und ich habe ihr erklärt, dass es einfacher wäre, über meine Lieblingssexstellung zu schreiben als darüber. Nicht weil ich psychische Probleme habe. Sondern weil ich Angst habe, dieses Thema zu behandeln und dadurch stigmatisiert zu werden. A la: „Sie schreibt darüber, sie muss Probleme haben.“ Und ja, klar, die habe ich auch. So wie sie vermutlich der Großteil von uns hat.
Nettes, kleines Bündel an Komplexen
Inzwischen bin ich 26 und habe die ein oder andere schwierige Zeit hinter mir. Ich habe mein nettes, kleines Bündel an Komplexen gesammelt, das ich herum trage, und einen gewissen Anteil an Schmerz erlebt. So wie wir es alle haben. Jede:r in seiner ganz individuellen Form, jede:r aufgrund seiner ganz eigenen Erlebnisse.
Viele von uns haben wahrscheinlich in ihrem Leben schon eine schwierige Zeit erlebt oder werden das in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten. Eine Zeit, in der man nicht mehr sicher weiß, wer man ist, wer man sein möchte oder wie man in dieses Leben hinein gerutscht ist. Eine Zeit, in der man vielleicht darauf wartet, dass man sich wieder besser fühlt oder sich fragt, ob man das jemals wird. Eine Zeit, in der man auf Ereignisse zurück blickt und sich fragt: „Wieso bin ich nur so verkorkst und was mache ich jetzt damit?“
Darüber spricht man nicht
Ich vermute, jede:r geht damit anders um. Und wir wissen alle, es wird besser. Die Welt sieht nicht jeden Tag gleich aus. Aber worüber wir sprechen sollten, ist der Grund, wieso ich aus diesem Text zuerst einen gewöhnlichen Artikel ohne jeglichen persönlichen Input machen wollte. In meinem Kopf sagt zu dem Thema psychische Gesundheit immer noch eine Stimme: „Darüber spricht man nicht. Das ist kein Thema für die Öffentlichkeit.“
Ein EU-Vergleich aus dem Jahr 2018 ergab, dass in Österreich 17,7 Prozent aller Österreicher:innen unter psychischen Problemen leiden. Am häufigsten sind dabei Angststörungen, Depressionen und Missbrauch von Alkohol und Drogen. Das ist beinahe jede:r 5. Österreicher:in. 2018 starben insgesamt 1.209 Personen durch Suizid – das sind dreimal so viele wie in diesem Jahr im Straßenverkehr verunglückten.
Wir stellen täglich zig Menschen die Frage: ‚Hey und wie geht’s‘, und erwarten darauf nie eine ehrliche Antwort.
Das sind die harten Fakten, um die es gar nicht wirklich geht. Sondern darum, wie wir über dieses Thema sprechen – oder eben nicht sprechen. Wir stellen täglich zig Menschen die Frage: „Hey und wie geht’s“, und erwarten darauf nie eine ehrliche Antwort. Wir entgegnen täglich mehrmals die Antwort „Gut, danke“, obwohl das vielleicht eine Lüge ist.
Wenn jede:r 5. Österreicher:in unter psychischen Problemen leidet, dann müssten wir nicht nur eine:n davon kennen. Ganz abgesehen von all den Menschen, die einfach nur eine schwere Zeit durchmachen und nicht in diese Kategorie fallen. Trotzdem erwarten wir auf die Frage, wie es jemandem geht, lieber eine Lüge, damit wir ungestört mit unserem Leben fortfahren können.
Und weil wir wissen, dass unser Gegenüber diese einfache Antwort erwartet, würden wir es nicht wagen, etwas anderes zu sagen. Auch wenn es in unserem Inneren nicht so aussieht. Auch wenn wir so gern um Hilfe fragen oder darüber sprechen würden, sagen wir nichts. Ich hatte Phasen in meinem Leben, wo diese schnelle Antwort auf diese schnelle Frage wochenlang nichts weiter als eine Lüge war. Aber ich dachte, dass niemand etwas anderes hören wollte.
Sei die Norm!
Zu sagen, dass man nicht okay ist, ist in unserer Gesellschaft so unglaublich schwierig, weil keiner von uns zeigt, wer er:sie wirklich ist. Weil wir lernen, dass es Themen gibt „die nichts für die Öffentlichkeit sind“. Von uns wird erwartet zu funktionieren – im Job, in der Familie oder im sozialen Umfeld. Dass wir glücklich sind und es uns gut geht, ist die „Norm“, es wird vorausgesetzt – wenn es jemandem anders geht, erfüllt diese:r nicht die Norm.
Der Schauspieler Justin Baldoni erklärte in seinem TED-Talk „Why I’m done trying to be man enough“ dieses Problem ebenfalls: „Ich weiß, ein Mann würde lieber sterben, als einem anderen Mann zu sagen, dass er verletzt ist. Aber das liegt nicht daran, dass wir alle einfach nur starke, stille Typen sind. Das ist es nicht. Wenn es um Arbeit oder Sport oder Politik oder Frauen geht, haben wir kein Problem damit, unsere Meinungen zu teilen, aber wenn es um unsere Unsicherheiten oder unsere Kämpfe, unsere Angst vor dem Versagen geht, dann ist es fast so, als ob wir gelähmt wären. Zumindest ich fühle mich so.“
Wie ein gebrochenes Bein
Ich denke, dieses Gefühl beschreibt in vielen Fällen nicht nur Männer, auch wenn es für sie wahrscheinlich noch schwieriger ist, sich Schwächen einzugestehen. Wie viele Leben könnten wohl gerettet werden, wenn Leute den Mut hätten, ehrlich zu sein und wir genau diese ehrlichen Antworten erwarten würden. Wie viel Leid könnte gelindert werden, wenn wir uns alle von Zeit zu Zeit eingestehen würden, dass wir einen harten Tag, Woche, Monat oder Jahr haben und dies mit anderen Menschen teilen? Und wenn wir ein „ja, gut“ nicht einfach so stehen lassen würden, wenn wir genau wissen, dass es eine Lüge ist?
Unsere Gesellschaft muss anfangen, psychische Probleme ernster zu nehmen. Wir müssen verstehen, dass sie, obwohl sie unsichtbar sind, gefährlich sind und wehtun. Und wir müssen sie behandeln wie ein gebrochenes Bein. Wenn wir eine:n Freund:in mit Krücken haben, nehmen wir mit ihm:ihr den Aufzug und treffen uns zum Kaffeetrinken statt zum Marathontraining. Psychische Krankheiten sollten da keine Ausnahme einnehmen. Wir können nicht erwarten, dass wir wie Maschinen funktionieren.
Wir können nicht erwarten, dass wir wie Maschinen funktionieren.
Es ist an uns, unseren Liebsten das Gefühl zu geben, dass wir, wenn wir diese Frage stellen, die Antwort hören möchten und dass sie mit dieser Antwort nicht alleine sind.
Ja, es ist wahr, alles außer „mir geht’s gut“ ist kein lustiges Gespräch. Es hebt die Stimmung nicht. Aber niemand hat uns versprochen, dass das Leben immer lustig sein wird. Also lasst uns eine ehrliche Antwort erwarten. Oder die Frage nicht stellen. Wir alle haben die Möglichkeit, einen Unterschied zu machen.
Dieser Text ist bereits hier erschienen.
Headerbild: Gemma Chua-Tran via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!