Ich fühle mich wie diese alten Omis, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, außer aus dem Fenster zu starren. Oder ihre fünf Katzen zu füttern. Ich habe keine fünf Katzen. Nicht mal eine. Aber einen Kaffee mit Hafermilch. Und ich starre auch nicht aus dem Fenster.
Ich sitze auf meinem ungefähr siebzehn Zentimeter breiten Fenstersims und schaue auf die Straße. Wahrscheinlich habe ich auch mehr zu tun – aber es ist Corona und Corona hat unter anderem meinen Schlafrhythmus ruiniert, also ist es 6 Uhr morgens, die Sonne scheint und die Straße ist leer.
Eine kleine Geschichte
Bis auf den Mann mit der grünen Mütze, der schon zum fünften Mal im Kreis fährt und nach oben schaut. Gestern friemelte er an einer langen Schnur, die eine braunhaarige Frau vom Balkon hängen ließ. Vorgestern stieg er zu der braunhaarigen Frau ins Auto. Sie fuhr mit einem kleinen roten Auto vor, doch anstatt zu warten, bis er die Tür geöffnet hatte, stieg sie aus. Dann nahmen sich die beiden in die Arme. Ihr braunes Haar verschwand unter seiner grünen Mütze. Dann, erst dann fuhren sie los.
Heute steht die braunhaarige Frau auf dem Balkon, kreuzt die Arme auf das Geländer und pfeift runter, während der Mann mit der grünen Mütze eben im Kreis fährt und nach oben strahlt. Warum teile ich eine Geschichte, in der ich wie eine Mischung aus Crazy Cat Lady und Vollblut-Stalker wirke?
Jeden Tag 0,01% besser
In den kleinen Ritualen liegt das Potenzial für Großartiges. „All big things come from small beginnings“, schreibt James Clear in seinem Bestseller Atomic Habits. Wir müssen jeden Tag nur 0,01% besser sein. So als wären auch unsere Gewohnheiten verzinsbar.
Es sind nicht die großen einmaligen Handlungen, aus denen Erfolg und Erfüllung und Glück und eben Liebe geschnitzt werden. In seinem Buch erzählt er von Medaillengewinner:innen und persönlichem Erfolg. Ich denke an eine 0,01% Verzinsung, während ich auf dem Fenstersims sitze.
Ich zumindest würde ihr braunes Haar und seine grüne Mütze in eine Hochzeitsrede einbauen – aber vielleicht sind sie sowieso schon verheiratet? Dann eben die Rede zum 40. Jahrestag.
Es überrascht mich nicht mehr, wenn Paare zu mir kommen und sich seit Jahren nicht mehr länger als drei Sekunden in die Augen gesehen haben.
Wenn kleine Rituale für die Liebe das sind, was Geldanlegen für unseren Reichtum ist, macht es Sinn, warum wir irgendwann emotional verarmt und ausgehungert sind. Auch wenn oder gerade dann, wenn wir viel für eine Beziehung kämpfen. Große Gesten sind oft teuer.
Mit dem Wissen über diese kleinen Dinge überrascht es nicht mehr, wenn Paare zu mir kommen und sie sich seit Jahren nicht mehr länger als drei Sekunden in die Augen gesehen haben. Oder wenn sie in der Sitzung merken, dass der letzte Kaffee, bei dem sie sich über ihre Ziele und Werte und nicht nur über den Tagesplan unterhalten haben, schon zwei Sommer her ist.
Wenn der Begrüßungskuss fehlt – und sowieso jede Form von selbstverständlicher Nähe – wie soll dann Intimität und Erotik entstehen? Wir gießen selbst eine Sukkulente einmal in der Woche und nicht nur einmal im Jahr. Was lebt, möchte gegossen werden – und das in regelmäßigen Abständen.
Wo ist es hin, das Schöne?
Wenn sich die Paare an diese Zweisamkeit erinnern, sehe ich ein bisschen Sehnsucht. Und Verwunderung. Wo ist es denn hin? Es war ja ganz schön.
Oft sind diese Kleinigkeiten schlichtweg in Vergessenheit geraten. Manchmal haben sich die Prioritäten verschoben. Manchmal haben sie die Rituale auch unter Groll und Vorwürfen begraben. Manchmal sind die Schmerzen so groß, dass wir nicht daran glauben, dass so etwas Kleines einen Unterschied machen kann. Ich würde mir gerne einbilden, dass wir es nicht besser wissen, und schreibe deswegen diesen Artikel. Lieben ist leicht. Oder es könnte es zumindest sein.
Natürlich sind Rituale kein Versprechen auf eine glückliche, erfüllende Beziehung – aber diese schönen, kurzen Momente zu vergessen und zu ignorieren, macht es sicherlich auch nicht leichter.
Rituale müssen nicht groß sein. Eigentlich liegt sogar in ihrer Alltäglichkeit eine ganz zarte Intimität, so als könnten Menschen für eine Sekunde in ihr eigenes, glückliches, verliebtes Universum eintauchen.
Zumal – wenn uns diese kleinen Rituale keine Freude machen würden, dann hätten wir sie in der guten Zeit wohl nicht gemacht? Rituale müssen auch nicht groß sein. Eigentlich liegt sogar in ihrer Alltäglichkeit eine ganz zarte Intimität, so als könnten Menschen für eine Sekunde in ihr eigenes, glückliches, verliebtes Universum eintauchen.
Sie brauchen nur Aufmerksamkeit und Freude – und manchmal auch ein Loslassen vom eigenen Recht-haben. Vielleicht erinnern wir uns an das Glas Wein, das wir früher bei jedem Wiedersehen miteinander teilten. An das gemeinsame Frühstück. Einen echten Kuss zur Begrüßung anstatt nur ein flüchtiges Aufblicken. Eine Nachricht vorm Schlafengehen. Ein Morsecode mit Händen. Ein peinlicher Kosename. Ein Blick zu einem Fenster bevor man sich der Welt stellt. Ein Schluck Kaffee, bevor ich nochmal unter die Bettdecke krabbele.
Anm. d. Red.: Wir finden es wichtig, einzelne Perspektiven von Betroffenen und die damit verbundenen Belastungen in der Corona-Pandemie zu zeigen. Wir sind alle auf unsere ganz persönliche Weise betroffen. Die meisten Maßnahmen sind aus unserer Sicht berechtigt und notwenig, um die Pandemie einzudämmen – auch wenn das Einhalten schwerfällt. Alle Artikel zum Thema Corona findest du hier.
Headerfoto: Devon Divine via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!