Rumms und weg – Warum du für Silvester keine Raketen und Böller mehr kaufen solltest

Die Feiertage sind vorbei und so langsam versucht sich Berlin mit seinem wohlgenährten Bauch vom gemütlichen Sofa zu schälen. Während manche noch super besinnlich liebe Notizen an die Müllmänner und -frauen des Bezirks schreiben, um sich für das Chaos im Hinterhof zu entschuldigen, kippen die Oberstreber*innen Berlins schon mal ihren Curcuma-Ingwer-Shot ein, um ihr nachweihnachtliches Kompensationsfasten zu beginnen.

Dieser kleine zeitliche Raum zwischen den Jahren hätte viel Potenzial für besinnliches Nachspüren, den persönlichen Jahresrückblick, Besuche bei Freund*innen, die man schon länger im übernächsten Bezirk hat stehen lassen, oder endlich mal einem stundenlangen Spaziergang mit dem geliebten Dackel im Treptower Park – aber in Berlin finden diese magischen Tage jetzt schon ein jähes Ende.

Menschen nageln Bretter an ihre Parterrefenster, die Autos werden in teure Parkhäuser geparkt, Mütter stopfen die Doppelglasfenster mit Stoffresten zu und ab Sonnenuntergang fangen die ersten Wände schon mal an zu wackeln. Die Kieze machen sich bereit für den obligatorischen Straßenkrieg.

Alle Storys, die es von Berlins Straßen an Silvester gibt, sind wahr.

Alle Storys, die es von Berlins Straßen an Silvester gibt, sind wahr. Hatte man vor ein paar Jahren noch das Gefühl, es gibt diese knuffigen „Kiez-Rabauken“, die von Laterne zu Laterne ein bisschen Räuber und Gendarme spielen und ihre Grenzen austesten, ist es mittlerweile stinknormal, dass es keine Grenzen mehr gibt und längst nicht mehr der Kiez, sondern gefühlt jeder Rowdy aus dem Umkreis von 150 Kilometern in die Hauptstadt kommt, um seinen persönlichen Rambo-Moment auszuleben.

Wenn du auf die Straße gehst und an der Böllerei teilhaben willst, hast du besser einen großen Rucksack mit illegaler polnischer Pyrotechnik dabei, mehrere Schichten Tarnkleidung in unterschiedlicher Materialstärke, deine Freund*innen und du habt gute Verstecke für neue Munition gefunden, die nicht von anderen entdeckt werden können, und auf deinen Arm hast du dir die Nummer irgendeines Anwalts geschrieben, falls du in Schwierigkeiten mit den Bullen gerätst. Leute – was zur Hölle tut ihr da eigentlich?

Ich verstehe den Reiz, das epische Gefühl eines ohrenbetäubenden, tiefen, vier Blocks breiten Dolby-Surround-Bomben-Rumms, der im Magen nachbrummt.

Ich verstehe den Reiz, das epische Gefühl eines ohrenbetäubenden, tiefen, vier Blocks breiten Dolby-Surround-Bomben-Rumms, der im Magen noch nachbrummt, und auch das schöne Pfeifen und die Flimmerlichter der Raketen, die den Himmel bemalen. Nur kriegen wir das alle nicht mehr mit, weil es in der Masse untergeht. Spätestens ab 22 Uhr ist der Himmel in Berlin so voll mit Pyrosmog, dass man Mühe hat, überhaupt noch Feuerwerk zu erkennen, das nicht 7 Meter vor einem gezündet wird. Und der Krach, der ist so allgegenwärtig, dass er so langweilig wirkt wie das Blabla zweier alter Alkoholiker in einer Berliner Eckkneipe.

Zu verurteilen ist nicht nur die völlig unverhältnismäßig sinnlose Geldausgeberei (1 Rakete = 1 Mittagessen!), was vor allem dabei nervt, ist die vollkommene Intoleranz, der zelebrierte Wahnsinn und die Maßlosigkeit, mit der Leute wie die Berserker*innen durch die Stadt ziehen und Terror verbreiten.

Die Schäden an Haushalten, Autos, Geschäften, Spielplätzen, Bäumen belaufen sich jedes Jahr auf mehrere Millionen Euro – für alte Menschen, traumatisierte Geflüchtete, Tiere, Kleinkinder, Obdachlose, Krankenschwestern, Polizist*innen und Feuerwehrleute ist diese Nacht jedes Jahr aufs Neue eine unausweichliche Qual.

Für die Umwelt ist die Silvesternacht besonders verheerend: In wenigen Stunden werden Unmengen von Feinstaub freigesetzt.

Für die Umwelt ist die Silvesternacht besonders verheerend: In wenigen Stunden werden Unmengen von Feinstaub voll mit giftigen Metallen freigesetzt, Vögel verlieren ihre Nester und Hunde erleiden oft tagelange Psychosen. Die Berge von Müll, die die Straßen bedecken, verstopfen Gullis, vergiften die Wiesen und sind doch einfach. Nur. Unnötig.

Dieses Jahr ist absolut feiernswert. Wenn politisch auch noch nicht besonders viel passiert ist, ist das Thema Nachhaltigkeit und Umweltschutz doch viel stärker ins Bewusstsein vieler Menschen gedrungen. Wir geben uns Mühe, weniger Müll zu produzieren, weniger Chemikalien zu verbrauchen – viele Kleinigkeiten, aber sie sind ein Anfang für eine größere Bewegung, die unser Planet braucht, um zu überleben. Dieses und die nächsten Jahre auf Silvesterböller zu verzichten mag nur ein weiterer kleiner Aspekt sein, aber es geht vielmehr um die Entscheidung, die ihr für euch fällt, und den Platz, die diese Entscheidung in euch einnimmt.

Ich flehe euch auf Knien an, belasst es doch beim Minimalbesteck und spendet euer Raketengeld an eine gute Sache.

Ich möchte euch allen gönnen, euer Jahr mit einem schönen Feuerwerk zu würdigen, sei es, um es zu feiern oder es zu verjagen, aber ich flehe euch auf Knien an, belasst es doch beim Minimalbesteck und spendet euer Raketengeld an eine gute Sache – und sei es, dass ihr es in etwas investiert, das euch nachhaltig Freude macht statt nur ein lautes Puff.

Wie geil könnte es sich anfühlen, deinen ewig studierenden Kumpel mal auf ein richtig gediegenes Essen einzuladen oder dir mal ein richtig gutes Stück Schmuck zu kaufen? Feiert euch, feiert eure Liebsten, aber feiert und respektiert auch diesen Planeten, der uns (noch) trägt – und macht euch selbst ein bisschen stolz, indem ihr mal auf die alberne Böllerei scheißt. Alles Liebe. Rutscht bitte mit vollem Karacho in die neuen 20er.

Headerfoto: Carlos via Unsplash. („Heal the World“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

FRIDA SCHWALBE hat nichts gelernt, aber viel erlebt. Was sie antreibt, sind ein wütender Feminismus, die Gier nach finanzieller Unabhängigkeit und der Kampf um die Liebe. Ihre Texte drehen sich rund um Toleranz und zwischenmenschliche Eskapaden. Ihr Herz gehört Berlin Kreuzberg, das sie am liebsten mit ihrer Vespa vollröhrt.

1 Comment

  • Stimmt! Ich weiß es. Und hab trotzdem was gekauft. Knallfrösche, so kleine Teller, die sich bunt auf dem Boden drehen, und kleine glitzernde Fontänen. Zeug mit und für Kinder, die da einen mords Spaß mit haben. (Auf dem Land, Im Süden, wo es kein großes städtisches Feuerwerk gibt). Ich mache das und habe gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Blöd, wa. Wir werden immer besser, verzichten hier und stellen da um, aber immer gefühlt zu wenig, viel zu wenig. Die Kinder sind noch klein, und das Leben ist kompliziert, und sie sollen in erster Linie freudvolle Menschen werden, und mit dem Alter kommt der Verstand und mit dem Verstand das Argument und mit dem Argument der leichtere Verzicht – aber wir haben geböllert.
    Ich gestehe.
    Was sich in Berlin abspielt, scheint allerdings ein Geböller anderen Kalibers zu sein.
    Krass!
    https://beatekalmbach.home.blog/2019/06/29/knick-es/

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