Weihnachten – Überall der Duft von gebrannten Mandeln, Werbespots, die im Wechsel rührende Großväter und noch rührendere Spendenaufrufe zeigen und ein gewisser 80er-Jahre-Ohrwurm mit Menschen in Skianzügen und viel zu hohen Stimmen. Dieser Song hat für mich in diesem Jahr eine neue Bedeutung, denn mein last Christmas hat mein ganzes Leben verändert.
An meinem last Christmas stand meine Mama tränenüberströmt vor mir und sagte mit vor Verzweiflung zitternder Stimme, dass sie doch den Rest ihres Lebens mit meinem Papa verbringen wollte. Mein Papa ist nicht gestorben letztes Weihnachten. Unsere Familie, wie wir sie bis dahin kannten, aber schon.
Mein Papa ist nicht gestorben letztes Weihnachten. Unsere Familie, wie wir sie bis dahin kannten, aber schon.
Irgendwann im Dezember vergangenen Jahres hatte meine Mutter ein Armband im Keller gefunden. An Heiligabend dann wusste sie, dass mein Vater eine Affäre hat. So wie es im berühmten Weihnachtsfilm „Tatsächlich Liebe“ unterm Tannenbaum Karen über Harry wusste.
Die Ähnlichkeit der beiden Situationen ist beinahe komisch, wäre sie nicht so tragisch gewesen. Ich habe mir im Laufe der letzten zwölf Monate viele Gedanken gemacht – über Beziehungen, über den Begriff des Zuhauses und darüber, ob man mit 27 noch Kind sein darf.
Monate mit Uni schwänzen und Achtsamzeitspodcasts
Im Januar fühle ich zum ersten Mal, wie es ist, wenn der Boden unter den Füßen fehlt. Meine Freund:innen sind da und trotzdem fühle ich mich mit der Situation unendlich allein. Ich schaue mir Vormittagsvorstellungen im Kino an, statt Vorlesungen zu besuchen, feiere viel, verliere meine Wohnung, streiche mein neues Zimmer mit meiner Mama, die so dünn geworden ist, dass ein Blick auf ihre Oberschenkel Säbel in mein Herz jagen.
Im Februar fliegt meine Mama mit mir statt mit meinem Papa nach Sri Lanka. Wir machen Yoga, hören Achtsamkeitspodcasts übers happy und holy sein und sprechen darüber, dass ich nicht verstehe, warum sie meinen Papa immer noch zuhause wohnen lässt. Es gibt viel, das ich nicht verstehe zu dieser Zeit.
„Zuhause“ ist nie mehr wie zuvor
Kurz vor Ostern zieht mein Vater nach 26 Jahren Ehe mit meiner Mutter aus unserem Zuhause aus. „Temporär“ wie er da noch sagt, denn so richtig weiß er nicht, wen oder was er gerade will. Ich beschließe, das erste Mal an Ostern nicht nach Hause zu fahren und verbringe doch Stunden mit Telefonaten über Streits und Dramen Zuhause.
Zwar wohne ich seit Jahren nicht mehr dort, bin zeitlich wohl näher daran, selbst Kinder zu bekommen, als eines gewesen zu sein und trotzdem erschüttert es mich, als mir an Ostern klar wird, dass mein Zuhause wohl nie wieder so sein wird wie zuvor.
Wie mein Papa sich verhält, macht mich unendlich wütend und gleichzeitig habe ich Angst, bald eine Tochter zu sein, deren Vater nicht mehr Teil ihres Lebens ist.
Im Juni gehe ich nach Schweden, der Abstand und das viele Arbeiten tun mir gut. Wenn ich neue Menschen kennenlerne, gehört zu meinem Smalltalkrepertoire jetzt auch, sie zu fragen, ob ihre Eltern noch zusammen sind.
Ich rede mit meiner 60-jährigen schwedischen Mitbewohnerin über ihre Scheidung. Sie nimmt mich fest in den Arm, wenn ich mich am Telefon mal wieder mit meinem Papa gestritten habe. Wie er sich verhält, macht mich unendlich wütend und gleichzeitig habe ich Angst, bald eine Tochter zu sein, deren Vater nicht mehr Teil ihres Lebens ist.
Ein Powersong von Gloria Gaynor und andere starke Frauen
September ist normalerweise der Monat, im dem meine Familie eine Woche mit Surfen, Baden und Aperitivo am Atlantik verbringt. Ich reise stattdessen mit meiner australischen Freundin auf eine griechische Insel. Wir trinken viel Wein und reden noch mehr. Über Männer, Frauen, Familien und Feminismus. Ich habe das Gefühl, zum ersten Mal seit Monaten so richtig entspannen zu können.
Das hält so lange, bis mich meine Mama nach dem Urlaub weinend vom Flughafen abholt und erzählt, dass es nun endgültig vorbei sei mit meinem Vater. Ich rutsche in die Rolle einer Freundin, versuche für sie und mit ihr stark zu sein. Ich rege mich über die Gesellschaft auf, die denkt, dass meine Mutter bemitleidenswert sei, weil sie „niemanden mehr hat”. Über Menschen, die denken, der tröstlichste Satz für eine Person, die verlassen wird, sei die Versicherung, diese würde „irgendwann auch wieder jemanden finden.“
Ich rutsche in die Rolle einer Freundin, versuche für meine Mama und mit ihr stark zu sein.
Ein bisschen aus Rebellion nehme ich mir vor, ein Vorbild für meine Mutter zu sein. Dafür, dass das Leben ohne „den Einen” auch richtig richtig gut, aufregend und mit Liebe gefüllt sein kann. Abends höre ich in dieser Zeit oft „I will survive“ von Gloria Gaynor. Ein Lied, das mein Opa eines Abends auf Youtube entdeckt, seiner Tochter geschickt und uns damit zu Tränen gerührt hat.
Nach der ganzen Zeit, in der ich denke, stark und rebellisch und wütend sein zu müssen, kommt die Trauer ganz unerwartet, schleicht sich heimtückisch an und sorgt dafür, dass ich mein Bett nicht verlassen möchte.
Irgendwann telefoniere ich mit meiner Schwester – etwas das wir früher fast nie getan haben und jetzt immer häufiger. Wir sind zwei so grundverschiedene Menschen und verstehen nun zum allerersten Mal ganz genau, wie sich die andere gerade fühlt. Am Ende des Telefonats schreibe ich ihr, dass ich sie lieb habe und sie schickt mir einen Memoji mit Herz. Ich glaube, so sehr gemeint wie an diesem Tag haben wir das noch nie.
Ein Vorwärts mit Vermissen
Durch die endgültige Trennung meiner Eltern kehrt im Spätherbst langsam etwas Ruhe ein, was auch daran liegen könnte, dass die beiden gänzlich aufgehört haben, miteinander zu kommunizieren. Mama macht jetzt eine Yogalehrerinnenausbildung, ich schenke ihr einen Roman von Cheryl Strayed zum Geburtstag, den Oprah in ihrem Podcast für Menschen in Trennungsphasen empfiehlt.
Zu ihrer Geburtstagsfeier kommen ihre Freund:innen aus allen Ecken Deutschlands in unser Haus. An dem Abend entsteht ein Polaroid Bild einer neuen Familienkonstellation: Mama und ihre drei Kinder. Niemand spricht an diesem Abend so richtig darüber, dass mein Vater nur fünf Kilometer entfernt alleine in seinem spärlich eingerichteten Wohnzimmer sitzt. Vermissen tun ihn alle.
Und dann ist wieder Weihnachten
Als Weihnachten näher rückt wollen meine Eltern, dass wir Kinder entscheiden, wie wir uns das so vorstellen mit den Feiertagen. Wenn wir Kinder entscheiden dürften, dann wären unsere Eltern an Weihnachten wieder zusammen und alles wie früher. Aber das ist es nicht.
Denn würden wir in diesem Jahr zu fünft unter dem Weihnachtsbaum sitzen, dann würde sich vermutlich meine Mama die Tränen wegblinzeln, während alle sich fragen, wann Papa sich heimlich davonschleichen wird, um einer anderen Frau zu schreiben.
Das Fest der Liebe ist zu einer großen Sorgenwolke über meinem Kopf geworden.
Gleichzeitig kann ich den Gedanken daran, dass eines meiner Elternteile einen Feiertag alleine verbringen wird, kaum ertragen. Auch durch den erweiterten Kreis meiner Familie scheint sich gerade ein immer tiefer werdender Graben zu ziehen. So ist das Fest der Liebe durch mein last Christmas zu einer großen Sorgenwolke über meinem Kopf geworden.
Heute weiß ich, dass es vielen Menschen ähnlich schlecht geht in der Weihnachtszeit. Wegen Trennungen, Krankheit, Todesfällen oder Streit. Zwar kann dieser Text entgegen der Zeilen Whams niemanden vor den Tears saven, aber vielleicht kann er bewirken, dass wir dieses Weihnachten alle ein kleines bisschen weniger allein sind mit diesen Gefühlen.
Headerfoto: Stockfoto von Zivica Kerkez/Shutterstock. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!