Weniger entscheiden, mehr leben: Lass mich doch einfach 25 sein

Lass mich doch erstmal 25 sein.
Anfang Zwanzig und so gerade aus dem Gröbsten raus. Schulabschluss gemacht, den ersten Ausbildungsabschluss in der Tasche und ausgezogen aus dem Elternhaus. Es genossen, nicht die Uhrzeit erklären zu müssen, zu der man nach Hause kommt. Es vermisst, keinen zu Hause zu haben, der fragt, wie der Tag war und sich ganz ehrlich dafür interessiert. Es bereut, am Samstag nicht nochmal eingekauft zu haben, während man in den leeren Kühlschrank schaut.

Lass mich doch erstmal 25 sein.
Das erste Mal bis über beide Ohren verliebt, das erste Mal das Herz gebrochen, das erste Mal emotionslosen Sex allein der Lust wegen gehabt. Den Charme verloren bei der Frage der Frauenärztin, ob man wechselnde Geschlechtspartner habe. Die Scheu abgelegt, jemanden in einer Bar anzusprechen, der einem ein so hübsches Lächeln zugeworfen hat. Die Unschuld verloren an die erste große Liebe.

Das erste Mal bis über beide Ohren verliebt, das erste Mal das Herz gebrochen, das erste Mal emotionslosen Sex gehabt. Die Unschuld verloren an die erste große Liebe.

Lass mich doch erstmal 25 sein.
Die Nächte um die Ohren geschlagen in der Bibliothek oder wahlweise auf der Reeperbahn. Mal mehr, mal weniger freiwillig. Zu Höchstleistung aufgefahren bei dem Einhalten von Abgabefristen und in der Karaoke-Bar am Mikrofon. Bei den ersten Strahlen der Morgensonne aus dem Club gestolpert. Zu Angels von Robbie Williams sich auf der Tanzfläche in den Armen gelegen.

Lass mich doch erstmal 25 sein.
Freunde gefunden. Freunde, die einem in die Augen schauen und sehen, dass es einem nicht gut geht. Freunde, mit denen man ausgelassen lacht. Freunde, mit denen man Gespräche führt, die dem Leben eine neue Richtung geben. Freunde, die man monatelang nicht sieht und es dennoch ist, als wäre es gestern gewesen, wenn man sich wiedersieht. Freunde, mit denen nach einer Weile das gemeinsame Kapitel zu Ende ist und ein neues begonnen wird.

Lass mich doch erstmal 25 sein.
Zahllose Geschichten derer gehört, die nicht mehr 25 sind. Geschichten über all die Dinge, die sie erlebten, als sie 25 waren. Die Sammlung der besten Geschichten. Aneinandergereiht als Abfolge alleiniger Highlights als sie 25 waren. Die Aufforderung, die Zeit zu genießen. Die subtile Frage, warum man nicht mehr gibt. Mehr Unvernunft zeigt. Mehr die Zeit laufen lässt und nicht darüber nachdenkt, was morgen kommt. Man selbst hätte das ja auch getan.

Die Aufforderung, die Zeit zu genießen. Die subtile Frage, warum man nicht mehr gibt. Mehr Unvernunft zeigt. Die Zeit laufen lässt und nicht nachdenkt, was morgen kommt.

Lass mich doch erstmal 25 sein.
Zahllose Fragen, was man machen will, wenn man nicht mehr 25 ist. Fragen, was man mit dem überhaupt machen will, welchen Abschluss man gerade versucht zu erlangen. Fragen, was kommt, wenn das Studium vorbei ist. Wenn es an der Zeit ist, eine Entscheidung darüber zu treffen, wie man die nächsten Jahre seinen Lebensunterhalt bestreiten will. Fragen von eben denjenigen, die zuvor erzählten, dass als sie 25 waren nicht an Morgen dachten.

Lass mich doch erstmal 25 sein.
Zahllose Entscheidungen. Entscheidungen darüber, ob der Mensch, den man zurzeit seinen Partner nennt, derjenige fürs ganze Leben ist. Entscheidungen darüber, ob Wohnung oder Haus. Kinder – eins, zwei oder keine. Oder viele. Hund oder Katze.  Auto oder Boot. Vielleicht auch beides. Entscheidungen, die noch gar nicht getroffen werden müssen, denn bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich der Weg gabelt, wird sich die Erde noch zwei bis sechs Mal um die Sonne gedreht haben.

Lass mich doch erstmal 25 sein.
In dem ständigen Nach-Vorne-Schauen, Planen und die Zukunft Organisieren verlieren wir uns in dem Moment. Verlieren uns in der Gegenwart und rauschen durch die Stunden, Tage, Wochen. Bis es Sommer ist, Herbst und wieder Winter. Wir mit einem Sektglas in der Hand die letzten Sekunden des Jahres herunter zählen und uns einen Moment lang fragen, was in dem vergangenen Jahr eigentlich alles passiert ist. Und dann verstreicht der Moment und wir planen die Vorsätze für das neue Jahr, in dem wir die beste Version unseres Selbst werden.

In dem Planen und die Zukunft Organisieren verlieren wir uns in dem Moment. Verlieren uns in der Gegenwart und rauschen durch die Stunden, Tage, Wochen.

Lass mich doch erstmal 25 sein.
Jetzt ist der Moment, um zu sein. Zu sein, wie man ist. Das zu machen, wozu einem gerade ist und manchmal auch eben nicht. Denn ich werde nicht immer 25 sein. Aber so lange ich es bin, möchte ich mich nicht immer mit der Frage beschäftigen, was in der Zukunft sein wird. Denn wenn ich immer über die Zukunft nachdenken muss, vergesse ich die Gegenwart. Und man weiß ja nie, wann die Gegenwart das Letzte ist, was man hat.

Lass mich doch erstmal 25 sein, damit ich in der Zukunft auch Geschichten erzählen kann von der Zeit, als ich 25 war.

Sophie liebt die See, gutes Essen und glaubt daran, dass alles aus einem bestimmten Grund passiert. Im Norden tief verwurzelt spaziert sie im Friesennerz über den Jungfernstieg oder Havaianas über den schilkseer Steg. Ein Leben ohne Fischbrötchen wäre für sie möglich, aber vollkommen sinnlos. Und damit der Kopf nicht platzt schreibt sie ab und zu in das rote Buch, das neben ihrem Bett liegt, und von Zeit zu Zeit kommt etwas Schönes dabei raus.

Headerfoto: Julian Howard via Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

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