Ein Mann mit kurzen dunklen Haaren, braunen Augen und einem Dreitagebart öffnet mir die Tür. Hinter ihm steht eine junge Frau mit braunen Korkenzieherlocken und blauen Augen. Beide verbindet ein strahlendes, warmes Lächeln, als sie mich herzlich begrüßen, so als wären wir alte Bekannte: „Hallo, komm herein. Möchtest du arabischen Kaffee trinken?“ Auf dem Wohnzimmertisch stehen Knabbereien, Fotos schmücken Wände und Regale. Doch verbirgt sich hinter dieser Wohnungstür in Berlin Spandau auch die Geschichte eines Landes, das 3800 Kilometer entfernt liegt.
Ein Stück Heimat mitten in Berlin
Mary (sie betont ihren Namen auf der ersten Silbe, etwa wie „Maaari“) und Ali kommen aus Salamiyeh in Syrien und wohnen seit 2015 in Berlin. Ali ist 27 und von Beruf Bauingenieur. Mary ist 25 und hat aus Syrien einen Abschluss in Psychologie. Auch wenn wir uns mit Worten (und manchmal mit Händen und Füßen) wunderbar verstehen, entschuldigen sie sich unentwegt für ihr Deutsch.
Zwar ist ihre Geschichte keine von einer gefährlichen Flucht mit dem Boot übers Mittelmeer, aber auch Mary und Ali haben erlebt, was es heißt, seine Heimat zu verlieren, Werte und Vorstellungen auf den Kopf zu stellen und mit deutschen Behörden und deutscher Grammatik zu kämpfen. Anders als viele unbegleitete Jugendliche und Alleinstehende haben sie aber einen großen Vorteil: Sie haben einander.
Was kann man ein geflüchtetes Pärchen fragen, mitten in komplexen medialen Diskursen über Integration und vielen schon geschrieben Texten? Schnell kann ein Wort zu wenig oder zuviel sein, vor allem weil ihre Familien immer noch in Syrien leben. Der arabische Kaffee ist mittlerweile fertig. Er ist heiß und schwarz, verströmt einen Hauch von Kardamom. Ein Stück Heimat mitten in Berlin.
Am schwierigsten war es, getrennt zu sein.
Mary und Alis Heimatstadt Salamiyeh liegt gut 40 Kilometer nordöstlich von Homs. Die Stadt gilt in Syrien als Heimat der Dichter und Denker, der Musiker, der Lebensfreude. Am Rande der Wüste gelegen, unterscheidet sich die Natur von den nahen Großstädten Homs und Hama. Doch auch hier sind die Menschen vom Konflikt im Land gezeichnet. „Es ist schwierig, in Syrien zu bleiben. Für uns junge Menschen gibt es dort keine Zukunft“, erklärt Ali sachlich und ohne zu viele politische Details preiszugeben.
Ali ist zuerst mit einem Touristenvisum nach Indien gegangen und danach für zwei Jahre nach Dubai. Mary konnte Syrien zunächst aufgrund ihres Studiums und ihrer Arbeit nicht verlassen. In dieser Zeit haben sie sich lediglich zweimal gesehen. Obwohl sich Ali in Dubai legal aufhielt, war ein Visum für Mary aufgrund verschärfter Visabedingungen ein Ding der Unmöglichkeit.
Mary und Ali verlieren kein Wort über die Grausamkeiten des Krieges oder die Ungerechtigkeiten der Visalotterie, die die Syrer weltweit vor verschlossenen Türen zurücklässt, sondern berufen sich vielmehr auf das, was sie in Worte fassen können. Das ist vor allem ihre Beziehung: „Am schwierigsten war es, getrennt zu sein“. Zu allem Übel sei beim Skypen regelmäßig die Verbindung zusammengebrochen. Oder das Internet ist gleich tagelang ausgefallen.
Ali ist schließlich über Griechenland nach Deutschland gekommen. Mit dem Flugzeug, da er über ein Touristenvisum verfügte. Im Frühjahr 2015 hat er Asyl erhalten. Sie hätten „Glück“ gehabt, betonen beide immer wieder, auch wenn das für meine Ohren grotesk klingt. Bis Mitte 2015 war die Situation in Deutschland noch etwas einfacher, Mary konnte schon ein paar Monate später per Familiennachzug nachkommen. Heute dauert es zwei Jahre oder länger, bis so etwas genehmigt wird. Doch über Politik wollen Mary und Ali gar nicht sprechen, lieber über ihr neues Leben in Berlin und ihre Liebe.
Heiraten in Zeiten von Flucht und Diaspora
Sie haben sich 2013 auf einer Hochzeit von Bekannten in Syrien kennen gelernt, ein Jahr später verlobt und 2015 geheiratet. Die formale Trauung fand noch in Syrien statt, die obligatorische Hochzeitsfeier kam aber erst nach Marys Ankunft in Deutschland zustande. Heiraten in Zeiten von Flucht und Diaspora. Vorsichtig gesagt: Vieles hat sich verändert in den letzten Jahren. Ein paar wenige Dinge sind gleichgeblieben, wie ihre Zuneigung zu einander.
Auf die Frage, was sie aneinander mögen, sagt Mary schnell „alles“ und betont, „besonders Alis Augen“. Ali protestiert, weil er das doch selbst sagen wollte – über Mary. Mary ist Ali schon vor der Hochzeitsfeier in einem Café aufgefallen, er ihr leider nicht. Sie lächelt entschuldigend.
Auf ihrem Facebookprofil teilen sie ein Bild ihres „deutschen“ Hochzeittages. Sie stehen auf der weißen Treppe des Berliner Doms, Ali hält einen Strauß roter Rosen in der Hand. Damals waren sie gerade ein paar Wochen in Deutschland. Zwei Jahre später sitzen sie in ihrer Wohnung in Spandau, trinken Mokka und reden über ihre Arbeit, ihren Alltag und die deutsche Pünktlichkeit.
Die Arbeit als Anker in der Fremde
Nach ihrer Ankunft in Berlin hat Mary als erstes einen Sprachkurs absolviert, danach ein Praktikum als Gesundheitslotsin bei KommRum e.V. gemacht. Sie spricht „Lotsin“ wie „Lutze“ aus, die beiden lachen. Deutsch hat so seine Tücken.
Seit zwei Monaten arbeitet Mary fest als Psychologin für geflüchtete Menschen aus dem arabischen Raum, die zwar individuelle Geschichten erleben, die Essenz aber ist kollektiv: Trauma, Depression, ein Gefühl der Verlorenheit zwischen alter und neuer Heimat. Für Mary ist die Arbeit mehr als nur ein Brotverdienst – vielmehr ein Anker: „Ich kann gleichzeitig Menschen helfen und arbeiten“, sie lächelt. Denn niemand kann Dinge besser verstehen, als derjenige, der sie selbst erlebt hat. Sie spielt mit einer Strähne ihrer Locken.
Die angebotene psychologische Beratung ist kostenlos und kommt zu den Patienten: Mit einem mobilen Team aus Pädagogen und Psychologen gehen sie in die Flüchtlingsheime des Bezirkes Tempelhof/Schöneberg. Marys unmittelbare Kollegen kommen aus Deutschland und Ungarn.
Wenn die Kollegen scherzen, würde sie gerne auf Arabisch kontern, denn auf Deutsch fehlen der sonst so schlagfertigen Mary noch die Worte. Noch. Man merkt, dass der Ehrgeiz, die deutsche Sprache zu lernen, auch eine Anstrengung ist um Teilhabe in der deutschen Gesellschaft. Die Sprache als Schlüssel für eine neues Leben, aber auch notgedrungen, da es kein Zurück mehr gibt.
Wenn die Hoffnung nicht wäre, dann würde das Leben aufhören
Ali lernt seit zehn Monaten jeden Tag fünf Stunden Deutsch, dazu noch einmal mehrere Stunden Hausaufgaben und Revision zuhause. Mittlerweile hat er das Sprachniveau C1. Sobald er das für ein Studium notwendige Sprachzertifikat erreicht hat, will er einen Master in deutschem Bauwesen machen. Sein erster Abschluss aus Syrien werde zwar anerkannt, zähle aber in Deutschland nicht viel, weil das Bauwesen ein so anderes sei als in Syrien.
Was beide hemmt und zurückwirft, bezeichnet Ali vorsichtig als „ein bisschen Angst vor der deutschen Sprache“. Mary verbessert ihn, „nicht ein bisschen, sehr!“. Wenn es Ali schlecht gehe, sage Mary häufig zu ihm: „Du kannst das schaffen – morgen sprichst du fließend Deutsch!“ Halb im Scherz, halb im Ernst. Wie sagt ein arabisches Sprichwort so schön: ما أضيق العيش لولا فسحة الأمل (Wenn die Hoffnung nicht wäre, dann würde das Leben aufhören).
Aufgeben komme einfach nicht in Frage, denn der größte Unterschied zwischen Syrien und Deutschland sei, „dass wir hier eine Zukunft haben“. Hier, das ist Deutschland, das ist Berlin – ihr neues Zuhause, Heimat? Manchmal hätten sie Sehnsucht nach Syrien, aber nicht nach dem „jetzigen Syrien“, sondern dem „alten Syrien“, also Syrien vor 2011, nach den vertrauten Straßen, der Familie und den Freunden. Den spontanen Treffen, der Herzlichkeit, den Neckereien, die in Syrien Teil des Lebens sind.
Seit zwei Tagen gebe es keine Internetverbindung nach Salamiyeh. Sorgen um Nahestehende bleiben Teil des neuen Lebens in Deutschland. Das „alte Leben“ lässt sich nicht so einfach abschütteln, das spürt man deutlich, wenn man in ihre Gesichter schaut.
Was sie nicht kennen, befeinden die Menschen
Ob sie sich in Deutschland willkommen fühlen? „So und so“, aber schon irgendwie. Dass es in Deutschland auch skeptische Stimmen gegenüber der großen Einwanderungswelle von 2015 gebe, das „müsste man verstehen“. Das liege sicher auch an einer verzerrenden Berichterstattung konservativer Medien, die „den Flüchtling“ als Gefahr zeichnen – und an persönlichen Erfahrungen mit einzelnen auffälligen Geflüchteten, die generalisiert würden.
Dazu fällt Ali gleich eine Anekdote ein. Einmal habe er sich nett mit einem Mann über dies und das in der U-Bahn unterhalten, doch irgendwann fing der Mann an zu fragen:
„Aber du bist nicht aus Syrien, oder?“ – „Doch ich bin aus Syrien.“
„Aber du bist nicht geflüchtet?“ – „Doch.“
„Aber du bist kein Moslem“?“ – „Doch, ich bin Moslem.“
Der Mann habe dann nur noch verwundert geschaut: „Vielleicht dachte er, ein Syrer kommt mit einem Zelt und einem Kamel“, Ali lacht.
Vielleicht dachte er auch, dass ein Akademiker wie Ali, nicht in das medial repräsentierte Bild eines Geflüchteten passt. Ein arabisches Sprichwort besagt: الإنسان عدو ما يجهل (Was sie nicht kennen, befeinden die Menschen). Das kommt nicht aus Alis Mund. Er verliert sich nicht in Spekulationen, lieber lacht er. Vielleicht ist es das resignierte Lachen, das viele Syrer diese Tage umspielt. Man sagt, dass Syrer ein Hang zu schwarzem Humor eint.
Manchmal ist die Liebe allein nicht genug
Auch wenn Mary und Ali sich immer wieder verliebt anschauen, äußerst vertraut wirken; dass Paare in so einer Krisensituation zusammenhalten, sei keine Selbstverständlichkeit. Einige syrische Pärchen, mit denen die beiden befreundet sind, hätten sich in Deutschland getrennt. Warum das so ist, können Mary und Ali nur vermuten. Vielleicht weil sie vieles aus der Heimat noch nicht verarbeitet hätten, weil das Leben in einem anderen Land alles auf den Kopf stelle: „Es stoßen plötzlich ganz andere Erwartungen aufeinander.“
In Deutschland blühten einige Frauen plötzlich auf, weil es hier für sie einfach ein „freieres Gefühl“ gebe, zudem spezielle Programme gezielt für geflüchtete Frauen angeboten werden. Mary schaut ernst, sucht nach den passenden Worten. In Deutschland verändern sich schlagartig die Erwartungen an eine Partnerschaft, gepaart mit den Herausforderung eines neuen Lebens und den Fremdheitsgefühlen. Mary erklärt es in ihren eigenen Worten, die noch etwas holprig, aber doch klar verständlich sind.
Ist ein Bruch mit Rollenerwartungen also gut oder schlecht? „Gut“, sagt Mary sofort. Und stellt klar, dass es hier nicht um alle Frauen gehe, sondern nur um einige, nicht um sie: „Ich habe überall die Freiheit gehabt, das zu tun, was ich möchte. Ich habe in Syrien gearbeitet und hier auch!“ Dabei bezieht sie sich auf das Leben in Syrien, dass sie vor 2015 und in Alis Abwesenheit geführt hat, aber auch auf Ali, mit dem sie klar auf Augenhöhe ist. Denn auf die Frage, woher sie ihre Kraft und Lebensfreude nehme, sagt sie, ohne zu zögern: „Von Ali. Ich könnte nicht ohne Ali in Deutschland sein.“
Dabei klingt ihr Rezept für die Liebe klassisch, wie ein Rat von weisen Großeltern und so anders als alles, was man in Deutschland über die Generation Y schreibt: „Es braucht Liebe und gegenseitiges Verständnis.“ Gerade in schwierigen Zeiten, wie diesen, brauche es vor allem Verständnis: „Manchmal ist Liebe allein nicht genug, um ein Problem zu lösen.“
Fotos: Jule Müller.
Übersetzung: Barbara Blaudzun.
Danke für diesen Beitrag! Ich wünsche den beiden alles Gute für ihr neues Leben hier in Deutschland und dass sie bald positive Nachrichten von ihren Familien in Syrien erhalten.