„Setzen Sie sich doch kurz noch mal hin, bevor wir Sie aufrufen“, sagt eine junge Krankenschwester zu mir und meiner Mitbewohnerin. Es ist Donnerstag. Eigentlich ein Tag wie jeder andere auch, nur dass wir gerade in einer gynäkologischen Tagesklinik sind, die sich auf Abtreibungen spezialisiert hat.
Das Wartezimmer unterscheidet sich kaum von jedem anderen. Holzstühle, Frauenzeitschriften und eingerahmte Poster von modernen Künstlern, die keiner kennt. Wir setzen uns gegenüber einer Tür, auf der ein Zettel klebt: „Zugang nur mit Erlaubnis.“ Immer mal öffnet sich diese und ich ahne, da hinter befindet sich der Aufwachsaal.
Mit uns warten ein bärtiger Mann und eine ältere Frau. Beide schauen ein wenig bedrückt. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein. Als eine Schwester aus der Tür tritt, richtet sich ihr Blick zu den beiden und sie sagt: „Sie ist jetzt wach und möchte gerne ihre Mutter sehen.“ Der bärtige Mann steht auf und fragt mit kleinlauter Stimme: „Und was ist mit mir?“
„Tut mir leid“, antwortet die Schwester in einer ähnlichen Stimmlage, aber sanfter, fast flüsternd, „sie möchte nur ihre Mutter sehen.“
Kurz darauf verschwinden die Schwester und die Mutter hinter der Tür. Als sie durchgehen, erspähe ich eine hohe Decke mit braunem Stuck und blumigen Mustern. Wie schön, denke ich, schaue wieder nach unten und blättere weiter nervös in meiner Zeitschrift. Offensichtlich verträgt sich Brangelina nicht mehr, dafür läuft’s bei Kate und William scheinbar aalglatt in der Liebe.
Auch wenn ich mich lieber damit beschäftigen würde, male ich mir stattdessen in meiner Vorstellung aus, wie die Mutter nun die Hand ihrer in Tränen aufgelösten Tochter hält. Und erinnere mich daran zurück, wie ich mit siebzehn meine Freundin tröstete, die gerade von ihrer Abtreibung erwacht war. Und daran, wie die Schwester mich schon auf dem Weg zu ihrem Bett darauf vorbereitete, dass sie ganz schrecklich weine.
Obwohl das nun schon sehr lange zurückliegt, kommen immer mehr Erinnerungsfetzen in mein Bewusstsein zurück. Der Eingriff damals dauerte nicht lang, die Entscheidung es zu tun eigentlich auch nicht, nur die Gedanken an meine Freundin, hallten eine ganze Weile nach. Ich weiß noch, wie ich während des Eingriffs mit ihrem Freund spazieren ging. Wir tranken irgendwo eine Limo, erzählten von unserem stressigen Schulalltag und was wir nach dem Abitur mal gerne machen würden.
An diesem Tag schwänzten wir alle drei den Unterricht. Als wir meine Freundin nach Hause brachten, saßen wir noch ein paar Stunden zu dritt zusammen. Wir redeten über den Fötus, den es nun nicht mehr gab, das Baby, das es hätte werden können. Darüber, welches Geschlecht es wohl gewesen wäre und wie keiner von beiden auch nur jemals für das Kind hätte sorgen können. Ich glaube nicht, dass unsere Überlegungen besonders hilfreich für meine Freundin waren. Aber was soll man als Teenager schon anderes reden als das, was wir im Fernsehen mal darüber gesehen hatten.
Wir sprachen also viel über das, was noch Stunden zuvor passiert war. Danach nie wieder. Bei der Verabschiedung wünschte ich ihr eine gute Besserung, so als hätte sie nur eine kleine Grippe zu bewältigen. Meine beste Freundin und ihr Freund trennten sich. Und irgendwann verloren auch wir uns aus den Augen.
„Sie sind jetzt dran“, reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Es ist wieder die sanfte Stimme der jungen Schwester. Bestimmt ist das hier Einstellungskriterium. Meine Mitbewohnerin richtete sich auf und läuft der Schwester nach, die mir erklärt: „Sie können gleich mit rein, nur muss sie da jetzt erst mal alleine durch.“ Wahnsinn, wie tiefenentspannt die auch lächeln kann.
An dieser Stelle: Meine Mitbewohnerin war nicht wegen einer Abtreibung dort, sondern um sich ihr Verhütungsimplantat entfernen zu lassen. Dass der Freund, der mit starrem Blick auf den Boden gerichtet auch nur auf seine Freundin wartet, weil sie vielleicht eine Bauchspiegelung hat vornehmen lassen, ist genauso wahrscheinlich wie eine Abtreibung. Trotzdem lässt mich die Vermutung, dass es doch eine sein könnte, nicht in Ruhe.
Nach fünfzehn Minuten ruft die Schwester auch mich auf. Ich betrete den Aufwachsaal und betrachte als Erstes die schöne Decke etwas genauer, die aus diesem Blickwinkel noch viel prachtvoller wirkt als von meinem Stuhl aus. Die Betten sind nacheinander aufgestellt und durch cremefarbene Vorhänge voneinander getrennt. Ich möchte nirgendwo hineinsehen, aber meine Augen wandern ungeniert überall umher, sodass ich einen Mann am Bett einer Frau sitzen sehe, der ihre Hand hält, während sie an ihm vorbei ins Leere starrt.
Auf der anderen Seite hat jemand die Tür zum Operationsraum einen Spalt offen gelassen. Breit genug, dass ich die weißen Kacheln sehe, den gewischten Boden. Alles blitzeblank. Ich sehe einen Stuhl in der Mitte mit zwei Beinhaltern, wie ich ihn auch aus dem Untersuchungszimmer meiner Frauenärztin kenne. Ich spüre auf einmal Beklemmung.
Angeblich dauert eine Abtreibung nur zehn Minuten. Man kann sich aussuchen, ob geschabt oder gesaugt wird. Pro Jahr entscheiden sich etwa 100.000 Frauen in Deutschland für eine der beiden Varianten oder eine dritte. Die Abtreibungspille. Die kann allerdings nur in einem frühen Stadium der Schwangerschaft geschluckt werden. Sind es bei der normalen Abtreibungsmethode maximal zwölf Wochen, wird die Pille nur bis zur siebten Schwangerschaftswoche angewendet. Wehen setzen zwei Tage später ein und schließlich kommt es zu einer Fehlgeburt.
Ein paar Schritte weiter und ich stehe vor dem Bett meiner Mitbewohnerin. Die hat mittlerweile einen Verband um den Arm, in der einen Hand eine Tasse Tee und in der anderen einen Butterkeks. Ich erkundige mich zaghaft, wie sie sich fühlt. Wieder sehe ich meine Freundin von damals, wie sie zittert, weint und kaum einen klaren Satz sprechen kann. Damals war ich nicht imstande, die richtigen Worte zu finden. Für etwas, das von so vielen Leuten absolut bejaht oder vehement verneint wird.
Und dabei pendelt man bei keinem anderen Thema so zuverlässig zwischen Zustimmung und Ablehnung wie bei diesem. Das Warum gibt den Schwung: Kann eine Behinderung bei dem Fötus nachgewiesen werden? Hat die Mutter einen Job, der ihr wichtiger ist? Wurde die Mutter vergewaltigt? Ist die Mutter noch minderjährig? Hat die Mutter bereits drei Kinder und kann sich ein viertes nicht leisten?
Als wir die Tagesklinik verlassen, fühlt auch meine Mitbewohnerin die Beklemmung. Über einen Ort, über den man nicht sprechen darf. Oder zumindest wartet, bis man zu Hause ist. Trotzdem lassen wir uns in der Bahn dazu hinreißen, können nicht mehr zurückhalten. Wir werden hypothetisch, wie man es eben wird, wenn es um heikle Themen geht. Vorsichtig drückt sich jede von uns aus, denn morgen könnten wir ja schon selbst vor der Entscheidung stehen. Dass wir dabei ganz unterschiedlicher Ansicht sind, stört uns aber keineswegs. Denn das darf man bei der Debatte um die Abtreibung nicht vergessen: Was der einen falsch erscheint, kann für die andere genau das Richtige sein.
Headerfoto: Leanne Surfleet via Creative Commons Lizenz. Danke dafür. („Körperliches“-Button hinzugefügt.)
Gut dass das Thema immer mehr in die Öffentlichkeit drängt. Die Frauen fühlen sich damit allein gelassen, daher kann sich wenig Verständnis für ihre oft verzweifelte Situation ergeben. Oft wird nur pauschalisiert und verurteilt.
Ich stand auch vor dieser Entscheidung und sagte in allerletzter Sekunde doch noch nein. Niemand der sich je in dieser Situation befand sollte urteilen. Guter Artikel <3
Uff… musste mal leer schlucken… ich kenne den Ort…war dort auch zur Abtreibung.Krass wie die detaillierte Beschreibung es genau trifft.