Laura Gehlhaar | Mit dem Rollstuhl durch Berlin

Laura Gehlhaar ist eine bemerkenswerte junge Frau. Dass sie etwas Besonderes ausmacht, sei erst im dritten Satz erwähnt. Sie sitzt im Rollstuhl. Zwar hängt beides unmittelbar miteinander zusammen, ist jedoch nicht nur der Grund dafür, warum Laura Aufmerksamkeit verdient.

In der Schule hatte ihre Deutschlehrerin sie unfairer behandelt als andere. Irgendwann erhob Laura Einspruch dagegen, bis sie herausfand, dass ihre Lehrerin sie auf das Leben vorbereiten wollte. Sie erklärte Laura, dass es ohnehin schon hart ist, da draußen als Frau zurechtzukommen, viel härter jedoch wird es für sie als behinderte Frau sein. Dass sich die Prophezeiung von der Lehrerin von damals für sie bewahrheitet hat, kann Laura nicht abstreiten. „Wenn ich wegen des Rollstuhls so mit meinen 1,40 m durch die Welt fahre, dann werde ich oft nur als die süße Kleine wahrgenommen.“ Aber selbst das scheint, wenn man ihr so zuhört, noch das Beste, was ihr passieren kann. Denn Diskriminierung, auch von der übelsten Sorte, erfährt Laura beinahe täglich.

Sie schildert eine Situation vor einem Club. Da stand einer, der aufgrund seiner Hautfarbe nicht reingelassen werden sollte. Der Aufstand aller umstehenden Partybesucher gegen den Türsteher war ziemlich groß. „Scheiß rassistischer Türsteher“, tönte es laut im Chor. Wenn aber Laura der Zutritt in einem Club verweigert wird, mit der Begründung, da ist eine Stufe, dann sei sie die Einzige, die gesenkten Hauptes von dannen zieht. Da schauen Leute dann gerne weg. Es macht sie sauer, wenn sie „als Mensch zweiter Klasse“ behandelt wird, „wenn ihr Wert aufgrund dieses Merkmals gesenkt wird“. Aber, und das spürt man mit jedem Satz, den Laura von sich gibt, es lässt sie nicht verzweifeln.

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Laura ist Jahrgang 1983. Im Alter von elf Jahren wurde bei ihr eine Muskelerkrankung diagnostiziert. Schon früh eröffnete man ihr, dass sie mit dreißig im Rollstuhl sitzen wird. Ein Irrtum, sie bekam ihn mit Anfang zwanzig. Der heißt übrigens Manfred, und anders als man denken könnte, bedeutete er für sie nicht Nachteil, sondern Befreiung. „Ich fühlte mich dadurch sicherer und gefestigter. Ich musste nicht mehr Angst davor haben, dass, wenn ich mich durch Menschenmengen quäle, mich irgendeiner anrempelt und ich umfalle. Scheiße, wann kommt die nächste Sitzgelegenheit? Wie lange halte ich mit dem Laufen noch durch? Das war ab da vorbei.“

Sich mit seinem Schicksal abzufinden, ist ohne Zweifel ein andauernder Prozess, doch musste Laura schneller lernen als andere, dass selbst die größte Schwäche eine unglaubliche Stärke sein kann. An das Gefühl, sich mit ihrer Behinderung anzufreunden, erinnert sie sich genau. Anstelle der geratenen Ausbildung zur Bankkauffrau und statt mit den Eltern alt zu werden, zog sie in die Niederlande. Zum Studieren! Eine wahnwitzige Idee. Das kann man im Buch nachlesen. Ein Buch, das hat sie nämlich geschrieben. Kann man da noch was machen? handelt von Lauras Biographie und ihrem Alltag und wechselt geschickt die Perspektive für Menschen ohne Behinderung.

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Nach dem abgeschlossenen Studium der Psychologie und Sozialpädagogik ging sie nach Berli… Verdammt, das Wort gehen kann ich nicht benutzen. Aber rollen klingt bescheuert. Ja, wie kann ich mich eigentlich ausdrücken, ohne ihr weh zu tun? Wie verliert man seine Hemmungen gegenüber Menschen mit Behinderungen? Es sind schwere Fragen, sie haben aber eigentlich eine leichte Antwort. Sie beginnt damit, dass wir uns in einer Gesellschaft bewegen, die Menschen mit Behinderung gern ausschließt. Es gibt Sonderschulen oder Behindertenwerkstätten. Die meisten Arbeitsplätze sind ohne Fahrstuhl nicht zu erreichen oder die Toiletten sind nicht behindertengerecht ausgestattet. Überhaupt können Menschen mit und ohne Behinderung nicht zusammen arbeiten, weil es vieles erschweren würde. Laura hat dazu eine ganz eigene Meinung: „Ich glaube nicht mal, dass das Arbeitslevel angepasst werden muss. Man unterschätzt Menschen mit Behinderungen vermutlich sehr stark. Sie wollen ganz genauso hart arbeiten wie alle anderen auch, wollen genauso Leistungen bringen, nur bekommen sie eben in den meisten Fällen nicht die Chance dazu. Und das muss sich ändern. Ich denke da echt, haltet doch mal alle die Fresse und lasst die Leute es eben selber ausprobieren!“ An dieser Stelle spucke ich fast meinen Tee vor Lachen aus. Denn schlagfertig ist sie, im Buch wie im Gespräch. Es gibt aber noch einen Weg, den sie als Annäherung mit den verdammten Normalos für sich auserwählt hat: Humor.

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Sie hält sich auch nicht zurück, wenn sich Ungerechtigkeit vor ihren Augen abspielt. Dennoch nervt es Laura auch, immer wieder die Aufklärerin zu spielen. „Als Mensch mit Behinderung hast du sicherlich diesen Bildungsauftrag, Leuten ihre Unsicherheiten zu nehmen.“ Hinzu kommt, dass mit ihrem Körper gleich das Verständnis für die ganze Welt auf ihrem Rollstuhl sitzt. „Sicherlich begegnen mir die Menschen ehrlicher, sind bereit, ihre Schwächen vor mir zu zeigen“, sagt sie, gibt aber auch zu bedenken: „Ich habe nicht immer Lust, mir das Leid anderer anzuhören und die Erwartungen zu erfüllen, alles und jeden verstehen zu müssen.“

Lange Zeit arbeitete sie in einer Psychiatrie und später als Werbetexterin in Düsseldorf, bis es sie 2008 in die Hauptstadt verschlug. Der Liebe wegen, wie sie selbst gerne sagt. Denn auch das ist ein Thema, über das Laura im Zusammenhang mit ihrer Behinderung schreibt. Sex, Liebe und Herzschmerz. Ihr Blog Frau Gehlhaar hilft ihr dabei, über das Leben mit Rollstuhl in einer Großstadt wie Berlin zu sinnieren. Dabei schreibt sie so witzig, klug und selbstironisch, dass viele mitlesen.

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Vor einem Jahr hat sie sich neu verliebt. Ihr Freund hat keine Behinderung, den hat sie sich ganz gewöhnlich auf Tinder geangelt. Vielleicht war es auch umgekehrt, aber dass der Rollstuhl für sie beide kein Hindernis darstellt, muss man erst mal kapieren. Wie jedes andere Paar auch haben sie sich aneinander gewöhnt. Er kann supergut kochen, sie isst gerne. Viel von anderen unterscheiden sie sich nicht. „Man muss sich, wie in jeder Beziehung auch, einfach ein bisschen einspielen. Ich mache mich aber tatsächlich nicht so sehr von ihm abhängig, wie man es annehmen könnte. Wenn er mal eine Woche alleine irgendwo unterwegs ist, muss ich natürlich auch in der Lage sein, alleine klarzukommen.“

Der Freund sitzt während unseres Interviews übrigens am Küchentisch und arbeitet am Computer. Wir machen draußen im Garten noch ein paar Fotos, bis er sich zu uns gesellt. Und tatsächlich verhalten sie sich so, wie zwei Verliebte eben sind. Sie berühren sich zärtlich, lächeln einander viel an. Als er sich vor sie setzt, schlingt sie liebevoll ihre Arme um ihn. Er nimmt dabei sachte ihre vom Wind kalt gewordenen Hände und pustet sie ihr warm. Es ist das Bild, mit dem ich die Wohnung wieder verlasse. Nach einem Gespräch, das mich sehr nachdenklich gemacht hat und einem Buch in der Tasche, von dem ich hoffe, dass es viele lesen werden.

Bemitleiden muss man Laura sicherlich nicht. Bewundern für ihren Mut ganz bestimmt, aber viel mehr noch darf man sie als die Frau sehen, die sie ist. Eben durch und durch bemerkenswert.

Laura Gehlhaar „Kann man da noch was machen? Geschichten aus dem Alltag einer Rollstuhlfahrerin“, erschienen bei Heyne für 9,99 Euro (auch erhältlich als E-Book für 8,99 Euro).

Vielen Dank an Andi Weiland für die großartigen Bilder. Mehr von ihm findest du hier!

JUDITH malt gerne Mandalas, will sich demnächst einen Plattenspieler kaufen und ist eine waschechte Buchhändlerin. Sie studierte in Berlin Literaturwissenschaften und Publizistik und ist als Autorin und Texterin tätig. Den Kleinen Prinzen findet sie scheiße und auf ihrem Grabstein möchte sie mal „Books were her Mission“ zu stehen haben. Hier werkelt sie unter anderem an Bock auf Lesen und Wenn du mich fragst.

4 Comments

  • Ich arbeite als Persönliche Assistenz für eine Junge Frau, die ebenfalls im Rollstuhl sitzt. Ich habe vorher sowas noch nie gemacht. Durch Zufall bin ich auf Ihre Stellenanzeige gestoßen und habe gedacht – das klingt so nett warum nicht. Schwups haben wir geskypt um uns etwas kennen zu lernen. Einen Tag später war der Job sicher und ich kündigte meinen alter Job, in dem ich Ausgebildet bin. Eine Woche später war es dann soweit, ich hatte meinen Ersten Dienst. Ich war am Anfang sehr aufgeregt, tollpatschig und bin in so einige Fettnäpfchen getreten. Das mache ich sicher immer noch. Aber, ich bewundere Sie, sie strahlt so viel Energie und Lebensfreude auf, in den noch so blödesten Situationen. Vieles bleibt für mich immer noch neu, aber ich bin froh ein Teil ihres Lebens sein zu können und die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu sehen!

  • … sorry ich war noch nicht fertig. Ich dachte mir jedenfalls, wie jemand im Rollstuhl sich an diesen Orten fortbewegen soll… Ich weiß nicht warum ich darüber nachgedacht habe. Aber ja es ist leider wahr. Menschen mit Behinderung werden immer noch ausgegrenzt und das wohl, weil diese von Menschen ohne abgegrenzt werden.

  • Danke für das Interview.
    Ich war gestern erst in Berlin zu einer Kinopremiere und im Anschluss noch bei MC doof um mir die Wartezeit auf den nächsten Zug zu vertreiben. An beiden Orten (Kino & MC) ging mir durch den Kopf, wie soll ein Mensch, der im Rolls

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