Berlin, die Stadt der fahrenden Bücher

Am Wittenbergplatz steht eine junge Frau am Bahnsteig und liest. Sie ist mit dem Blick so tief in der Geschichte des Romans versunken, dass ihr kaum auffällt, dass sie soeben die Bahn verpasst hat, die sie eigentlich irgendwo hinbringen sollte. Ein kurzer Blick auf die Anzeigetafel genügt und sie widmet sich wieder entspannt ihrer Lektüre.

Wer in Berlin täglich mit der Bahn unterwegs ist, dem werden solche Beschreibungen bekannt vorkommen. Nirgendwo anders schlagen die Leute noch so viele Bücher auf wie im öffentlichen Verkehrsbereich. Dabei wissen wir oft gar nicht, wer uns da eigentlich gegenüber sitzt, wo die Person gerade herkommt oder hin möchte. Wer also ist zum Beispiel die Frau, die in Tom Rachmanns Aufstieg und Fall großer Mächte hineinlächelt ohne zu bemerken, dass wir gerade ein Foto von ihr gemacht haben?

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Seit Wochen streifen wir von Wagon zu Wagon auf der Suche nach Büchern und ihren Lesern. Die Frau am Bahnsteig heißt Julia, ist 20 Jahre alt und Psychologie-Studentin aus Heidelberg. Das Buch hat sie von ihrer Mutter zwar schon zu Ostern geschenkt bekommen, allerdings hat sie jetzt erst die Zeit gefunden, es anzufangen. Die ganzen Klausuren, der Umzug nach Berlin. Wir hören gespannt zu, weil wir wissen, dass jeder Mensch etwas zu erzählen hat. Julia verabschiedet sich, als die nächste Bahn einfährt. Sie ist auf dem Weg nach Hause. Ein anstrengender Tag in der Uni ist für sie nun vorbei.

Ein paar Minuten später treffen wir auf einen jungen Mann. Er sitzt in der U3 Richtung Nollendorfplatz. Gegenüber von ihm hat eine Frau ihren Kopf zu Seite gelegt und schlummert sanft vor sich hin. Auch wenn ich gerne wüsste, von was die Frau träumt, richtet sich mein Blick zielgerade auf das Buch. Von Weitem erkenne ich G.R.R. Martins Das Lied von Feuer und Eis. Sein Besitzer, ebenfalls Student, allerdings mit ganz anderer Fachrichtung. Tom, 24 Jahre alt und aus Brandenburg, möchte später mal Physik-Lehrer werden.

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Was wäre, wenn wir auch ihn gefragt hätten, wie er denn an das Buch gekommen sei? Eine tatsächlich spannende Frage, die wirklich immer eine spannende Antwort zur Folge hat. Unser Fantasy-Leser Tom ist gerade dabei ein bisschen Geld zu sparen und kann sich im Moment kein neues Buch leisten. Deshalb hat er die Lektüre kurzentschlossen einfach noch mal aus dem heimischen Regal gezogen. Die Reihe gefällt ihm ohnehin so gut, dass es ihn nicht stört, wenn er schon weiß, was als Nächstes passieren wird. Als wir die nächste Station erreichen, muss sich Tom dann sputen. Er dreht sich noch mal zu uns um und sagt mit einem Lächeln: „Ich bin gerade auf dem Weg zu meinem Nebenjob. Irgendwie muss ja wieder Geld reinkommen.“

Und so treffen wir nun auf lesende Menschen in Berlin, die von überall her kommen. Ob die beiden Studenten, der 40-jährige Archäologe, mit Interesse an der Brief History of Humankind oder die 44 Jahre alte Putzfrau aus Polen, die gerne Krimis liest, weil ihr Ehemann Polizist ist – die Stadt ist eine fahrende Bibliothek, die Geschichten ihrer Leser es wert, erzählt zu werden. Behind Berlin’s Books: Alle einsteigen!

Ab sofort ziehen Jacob und Judith durch Berlin und spotten für euch die besten Bücher und die besten Geschichten ihrer Leser. Folge ihnen auf Facebook und Instagram, um nichts zu verpassen!

JACOB, diese “ex-corporate drone”, ist ein gebürtiger New Yorker, der in den letzten zehn Jahren in Montréal, Peking und Berlin gelebt hat. Er liebt Menschen in der Realität und auf Fotos und hat immer einen Finger auf dem Auslöser, manchmal merkt man's nur nicht. Wenn er nicht hinter der Kamera ist, steht er am Herd oder hat sein Gesicht in einem Teller.
JUDITH malt gerne Mandalas, will sich demnächst einen Plattenspieler kaufen und ist eine waschechte Buchhändlerin. Sie studierte in Berlin Literaturwissenschaften und Publizistik und ist als Autorin und Texterin tätig. Den Kleinen Prinzen findet sie scheiße und auf ihrem Grabstein möchte sie mal „Books were her Mission“ zu stehen haben. Hier werkelt sie unter anderem an Bock auf Lesen und Wenn du mich fragst.

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