Um Dinge klarer zu sehen, hilft es oft, die Perspektive zu ändern. Als Anfang des Jahres die PEGIDA durch Dresdens Straßen zog, wurde mein Freund Mirko, ein Musikproduzent, der sich beruflich oft im Ausland aufhält, von einem Londoner Kollegen gefragt, was denn da gerade in Deutschland los ist. Die Frage traf ihn mit voller Wucht. Dabei war es gar nicht die Frage selbst, die meinen Freund so traf, es war die Art, in der sie gestellt wurde. In einem Tonfall, als würde sein Kollege sich kaum trauen, sie überhaupt zu stellen. Als würde er sich vor der Antwort fürchten. Als würde er erwarten, Mirko wäre so wie die Leute auf den Bildschirmen. Mein Freund war praktisch von einem dunklen Schatten umgeben. Genauso wie das Land, in dem er lebt.
„Es war schon beängstigend“, sagte Mirko.
Ein Gefühl, das der in Dresden aufgewachsene und inzwischen in New York lebende Journalist Peter Richter teilt, der kürzlich in einem Interview gesagt hat, dass es „ein Horror ganz spezieller Art ist, wenn einem so vertraute Ortsnamen plötzlich in der New York Times begegnen, und zwar in dem Rahmen, in dem sonst vom Irak oder Syrien berichtet wird, als Krisengebiet.“
So sieht die Welt heutzutage dieses Land. Als ein von Neonazis besetztes Krisengebiet. So traurig das auch ist. Die Welt sieht ja nicht irgendwelche Vororte von Dresden, sie assoziiert das ganze Land mit ihnen.
Wir wissen natürlich alle, dass die Rechtsextremen eine Minderheit sind, eine Randgruppe und die meisten, die damals bei den PEGIDA-Umzügen mitzogen, hat auch nicht wirklich interessiert, was die Redner da von sich gegeben haben. Sie waren aus eigenen Gründen dort, wegen ihrer Ängste vor dem Versagen der Politik in einer zunehmend ungerechter werdenden Gesellschaft. Sie sahen es als eine Chance, wahrgenommen zu werden. Allerdings frage ich mich ernsthaft, wie weit es jemand mit seinem Gewissen vereinbaren kann, an offensichtlich von Rechten organisierten Umzügen teilzunehmen, um seiner Empörung Luft zu machen. Es gibt Dinge, die man nicht macht, weil etwas tief in einem sagt, dass es einfach falsch ist.
Aber vielleicht ist es wirklich ein intellektuelles Problem. Ich kenne Menschen, die den Tränen nah sind, wenn sie die Horror-Bilder aus Syrien sehen, und sich praktisch im gleichen Atemzug über die Geflüchteten beklagen, die herkommen. Als wären sie nicht in der Lage, beides in einen Zusammenhang zu setzen. Es gibt Leute, die sich beschweren, dass Geflüchtete Handys haben, weil sie nicht kapieren, dass da auch Menschen kommen, die vielleicht vor einigen Wochen noch eine eigene Zahnarztpraxis hatten, bevor der Krieg sie aus dem Land trieb. Sie denken, die Leute kommen direkt aus dem Urwald.
Natürlich gibt es Rassismus in diesem Land, da gibt es viele Beispiele, auch wenn wir uns das nur ungern eingestehen wollen. Unser aufgeschlossenes und weltoffenes Selbstbild sieht schließlich ganz anders aus. Wir schließen von uns auf andere. Das ist ein Fehler, den auch ich häufig mache. Aber ein Blick in die sozialen Netzwerke bricht dieses Selbstbild ganz schnell auf. Seit Jahren gibt es vor allem auf Facebook Seiten wie „Ich bin Patriot, aber kein Nazi“. Diese Seite hat mit 83.000 Fans mehr Fans als CDU oder SPD. Und die Facebook-Seite der NPD hat mit 127.000 Fans die der etablierten weit abgeschlagen. Auf der Facebook-Seite der NPD hat es mich schon vergangenes Jahr irritiert, dass sich dort Leute so öffentlich mit ihren Profilen, Fotos und Klarnamen äußern. Da ahnte man schon, hier passiert gerade etwas sehr Beunruhigendes.
Ich habe einmal in einer Kolumne geschrieben, dass wir heutzutage ein Doppelleben führen, ein virtuelles und ein reales, und dass beide nicht allzu viel miteinander zu tun haben müssen. Das ist in diesem Fall gekippt. Die Menschen trauen sich inzwischen, unter vollem Namen Dinge zu sagen, die sie sich früher nicht getraut haben. Es gibt ein neues rassistisches – also menschenfeindliches – „Das wird man doch mal sagen dürfen“-Selbstbewusstsein. Und dieses Selbstbewusstsein ist nahtlos in die reale Welt übertragen worden. Inzwischen werden Sätze, die man hinter verschlossenen Türen oder in der Kneipe gesagt hat, ganz offen in Fernsehkameras gerotzt. Mit Sätzen, die in mir eine Fremdscham auslösen, die einem fast schon physischen Schmerz zufügt.
Allerdings muss man dazu sagen, dass gerade Journalisten sehr dankbar für solche O-Töne sind. Es geht ja darum, eine Geschichte zu erzählen, die sich gut verkaufen lässt. Und 100 gewaltbereite Rechtsextreme verkaufen sich einfach besser als 5.000 Gegendemonstranten. Darum bestimmen diese 100 die Geschichten, die in die Welt getragen werden. Die dieses Land in der Außenwirkung in ein rechtsradikales Krisengebiet verwandeln. Dass Angela Merkel im Ausland gerade gefeiert wird, liegt ja nicht daran, dass sie nun endlich mal eine Flüchtlingsunterkunft besucht hat. Sie wird dafür gelobt, weil sie sich – vermeintlich – gegen ihre rassistische Bevölkerung gestellt hat. Das ist die Außenwirkung.
Aber all diese wirklich erschreckenden Entwicklungen haben auch etwas Gutes. Diese Zustände provozieren eine Gegenbewegung, die viel größer ist als die laute Minderheit. Menschen, die der Flüchtlingsstrom unter anderen Umständen gar nicht so tangiert hätte, beginnen sich zu engagieren. Sie stellen sich gegen den Hass. Und sie sehen die Geflüchtete als Menschen. Als Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Sie gehen ehrenamtlich dahin, wo der überforderte Staat gerade versagt. Sie übernehmen praktisch seine Aufgaben. Sie lernen die Leute als Menschen kennen, die da zu uns kommen. Sie spenden Kleidung und Essen. Und es werden immer mehr.
Jule Müller, eine der Betreiberinnen von im gegenteil (der Website, auf der dieser Text erscheint) ist da ein sehr gutes Beispiel. im gegenteil hat eine Sommerpause eingelegt, weil es für Jule eine Herzenssache war, sich gegen die unzumutbaren Zustände bei der Berliner Erstanlaufstelle für Geflüchtete zu engagieren. Sie organisierte Lebensmittel und Kleidung, sie ließ Geflüchtete bei sich wohnen. Menschen wie Jule ersetzen praktisch den Staat. Und sie zeigen deutlich, worum es jetzt eigentlich geht. Es geht nur um eins: es geht um Menschlichkeit.
Die meisten dieser Patrioten reden ja immer wieder gern darüber, wie stolz sie darauf sind, Deutscher zu sein. Ich muss gestehen, dass mir Patriotismus immer fremd war. Der Gedanke, darauf stolz zu sein, dass man zufällig an einem bestimmten Ort der Erde geboren wurde, auf etwas stolz zu sein, für das man nichts leisten musste, ist für mich einfach nicht nachvollziehbar. Aber man kann auf Menschen stolz sein, auf ihren Charakter oder ihre Taten. Auf ihre Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit.
Als unser Land 2006 Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft war, im Sommermärchen, änderte das das Bild der Deutschen in der Welt. Dieser Sommer schuf das Bild einer Willkommenskultur. Das ist jetzt versaut. Das Bild ist gebrochen, es wird vom hässlichen Deutschen geprägt. Von einer lauten Minderheit. Den menschlichen Deutschen nimmt man in der Welt kaum noch wahr. Wir brauchen viele Jule Müllers, um das zu ändern. Sehr viele. Wir brauchen Menschen, auf die man stolz sein kann. Mit anderen Worten: dieses Land braucht uns – genauso wie die Geflüchteten, die gerade zu uns kommen. Sie brauchen uns als Menschen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Denn wir sind die Mehrheit. Hoffentlich.
Wer sich in Berlin engagieren möchte, informiert sich bitte auf den Seiten von Moabit hilft oder Berlin hilft, wo alle Standorte und Bedarfslisten zu finden sind. Jeder kann helfen und Geflüchtete gibt es in allen Städten. Informiert euch und andere und setzt mit eurem Engagement ein Zeichen für die Menschlichkeit. Vielen Dank dafür.
Headerfoto: Sven Engel – aufgenommen beim Kinderfest am 28.9.15 am LaGeSo Berlin. („Heal the World“-Button hinzugefügt.) Danke dafür.
Hallo Herr Nast,
ich stimme Ihnen vollkommen zu: das Bild Deutschlands hat sich durch solche Berichterstattungen völlig ins Negative verkehrt. Sorgen machen mir ebenfalls die vielen rassistischen Kommentare in meinem näheren Umfeld, vor allen Dingen von vielen Älteren. Anfangs bin ich zusammengezuckt und war sprachlos, wenn so Sprüche kamen „wir bräuchten mal wieder so einen kleinen Hitler“. Dann habe ich mich nach dem ersten Schock losgerissen und gehe mit aller mir zur Verfügung stehender Kraft gegen solche Äußerungen an. Ich verstehe die Älteren nicht im Geringsten, da sie die Zeiten des Nationalsozialismus und die Folgen des Krieges doch hautnah miterlebt haben.
In den heftigen Diskussionen habe ich allerdings eines festgestellt: da kommt viel unterdrückte Wut hoch! Das hat eigentlich nichts mit den Flüchtlingen zu tun. Sie sind nur der Auslöser. In den weiterreichenden Diskussionen kamen dann viele Argumente wie: man würde die Demokratie nicht mehr leben, man würde mit seinen Sorgen nicht mehr gehört werden von der Politik, die Wirtschaft bestimmt unser Gesellschaft, die Politik lässt der Wirtschaft zuviel freie Hand, der Mittelstand wird wirtschaftlich durch schlechtere Arbeitsverträge ausgeblutet, Verlust unserer erschaffenen Werte, Angst vor zukünftiger Armut vor allen Dingen im Alter usw.
Das hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Irgendwie ist daran viel Wahres. Bereits Stuttgart 21 hat mich aufmerksam werden lassen, dass die Meinung der Bevölkerung bei der Politik keine Berücksichtigung mehr findet. Das findet sich in anderen Situationen wieder. Auch in den Betrieben wird man einer Kopfwäsche unterzogen. Alles wird positiv geredet. Keiner darf mehr etwas sagen. In der Politik findet sich kaum eine charismatische Person oder eine Partei, in der man sich gut vertreten fühlt.
Frau Merkel hat mit der Aufnahme der vielen Flüchtlinge
einen Fehler gemacht. Sie hat keine Einwanderungsdebatte mit ihrem Volk geführt. Die Bürger fühlen sich daher erneut betrogen. Sicherlich hätte es die gleichen erschreckenden Sprüche gegeben. Sicherlich wären ebenfalls Anschläge auf Asylheime passiert. Aber was ist eine Demokratie ohne Diskussionen mit ihren Einwohnern?
Nach meiner Meinung hat nicht nur die Politik Schuld. Wie bereits von Ihnen kritisiert, sind es auch die umsatzgeilen Medien, die Kapital aus der Situation schlagen. Und ich muss sagen, dass mir vor allen Dingen die differenzierte Berichterstattung von den großen renommierten Fernsehsendern fehlt. Die Dinge im Leben sind nicht nur schwarz oder weiß. Ich bin für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Ich bin für den Schutz der vielen elternlosen verwaisten Flüchtlingskindern. Wir sind tatsächlich in der Lage, diese Last zu tragen. Das gebietet schon allein unsere christliche Einstellung und Erziehung. Aber ich bin auch für eine Begrenzung, damit wir den aufgenommenen Flüchtlingen gut helfen können. Die Völker haben immer von Zuwanderung und ausländischen Einflüssen profitiert.
Trotzdem kann ich die Forderung nach einem Verbot der Burkas verstehen. Ich würde auch gegen aggressive verhaltensauffällige Flüchtlinge vorgehen, die unsere Werte und unser Wohlwollen arg strapazieren. Die Flüchtlinge, die in den Unterkünften den vielen Helfern Probleme bereiten, nur weil sie zum Ramadan nicht das Essen bekommen, was sie gerne hätten. Und das obwohl sich alle Helfer bemühen, es ihnen so gut wie möglich zu machen. Extra Schichten schieben, um noch mitten in der Nacht noch eine Mahlzeit zur Verfügung zu stellen. Ich fühle mich auch gerade als Frau unwohl, wenn ich in der Stadt oder im Bus nicht nur angestarrt, sondern auch noch am Arm festgehalten werde.
Bin ich nun rassistisch, wenn ich das sage? Das mag jeder für sich beurteilen.
Tatsache ist: die Politik ist zu weit entfernt vom Alltag und versteht anscheinend nicht die Angst der Bevölkerung. Ich glaube, dass den seriösen Medien eine wichtige Rolle zufällt, da es die Politik ja anscheinend nicht kann. Sie sind genauso wie wir im täglichen Leben gefordert, den tiefen Spalt nicht noch durch einseitig positive und negative Darstellungen zu verschlimmern. Ich wünsche mir Schutz, Hilfe und Mitgefühl für die Flüchtlinge, Respekt den Helfern gegenüber, Förderung und Erhalt unser demokratischen Werte und damit eine starke Demokratie, die radikale Kräfte im Zaum hält.
Lieber Herr Nast,
vielen Dank für diese klaren Worte!
Negative Schlagzeilen sind immer prägender, so werden sich viele vor allem an die Pegidabilder erinnern, aber jetzt ist unsere Zeit gekommen, um diesen Eindruck zu ändern. Die Flüchtlingskrise, die es momentan gibt (man möchte kaum an den Winter denken, der auf hunderte von Flüchtlingen zukommen wird), ist definitiv lösbar. Und mit viel Menschlichkeit packen wir das gemeinsam 😉
wahre Worte.
Und doch bleibt die Frage ob man den offensichtlichen Mob, und den klammheimlichen, irgendwie wird belehren können. Gedankengut ist immer etwas eigenes, eine Projektion, da können Worte und Taten vllt. auch nichts mehr bewirken. Besonders nicht wenn die Vegiftung eigenem Ursprungs ist. Aber, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.