Die Luft ist rein, fast wie frisch gewaschen, und die Reste des Sturmes kann man noch auf den Bürgersteigen begutachten. Die ersten trauen sich schon wieder ins Freie, wie kleine Maulwürfe blinzeln sie ins Licht und fangen langsam an, die Spuren des Unwetters zu beseitigen. Wir saßen wie früher am Wohnzimmertisch.
Meine Mama hatte Nudeln und Tomatensoße gemacht, einen Salat dazu und einen Rotwein geöffnet. Die Katze streicht uns um die Beine. Draußen ist es immer noch dunkel und nass, wir stoßen an und für einen Moment fühle ich mich, als wenn alles beim Alten geblieben ist.
Zelebrieren wollte ich das letzte Wochenende im Haus meiner Kindheit. Die Wände sanft entlang streichen, dem Rauschen der Leitungen zuflüstern und noch einmal im hohen Gras des Hinterhofs liegen, in den Himmel schauen und den vertrauten Geräuschen lauschen, die aus unserer Nachbarschaft ertönen.
Meine Mutter wedelt energisch mit einem Paar Schlittschuhen vor meinem Gesicht herum. „Ob du die noch willst! Die sind noch so gut wie neu“, sagt sie entnervt und ich muss in einem Bruchteil von Sekunden entscheiden, ob ich denn in naher Zukunft jemals wieder mit den fast neuen Schuhen Schlittschuhlaufen gehe. „Oder das!“ Meine Mutter zerrt eine Ritterburg aus einer großen Plastiktüte: „Die hast du doch so geliebt! Willst du die haben, vielleicht mal für deine Kinder?“ „Und hier, die Kissen, die waren doch so teuer!“ Ich stehe etwas hilflos daneben. Na klar, ich möchte das alles aufbewahren! Nur, wo lagern? In meinem WG-Zimmer?
Was soll man fühlen, wenn das Elternhaus Stück für Stück abgebaut wird?
Was soll man fühlen, wenn das Elternhaus Stück für Stück abgebaut wird? Ein Zersetzungsprozess, der sich schon über Jahre hinweg zieht und nun langsam das Skelett angreift. Das Skelett meiner Kindheit. Denn das Haus war immer da, trotz aller Turbulenzen. Mit seinen blassen Fassaden und dem rechteckigen Schnitt. Dem wildwachsenden Garten, dem zerkratzten Parkett und der stetigen Melancholie, die wie immer in einem feinen Dunstnebel in den Zimmern hängt.
Vertraut das Geräusch der Treppen, wenn jemand hinunter donnert. Oder hinauf steigt. Langsam, nachdenklich die Schritte meines Vater, schnell und rhythmisch die meiner Mutter, die meiner Schwestern laut und bestimmt. „Die Geräusche der Böden. Man weiß doch immer, wo sich die Familie gerade aufhält, nur durch das Holz, das den Bewegungen nachgibt“, sagtest du noch vor zwei Wochen zu mir.
Und es stimmt. Egal wo meine Familie ist, ich konnte sie stets lokalisieren. Horchte als Teenager nachts, ob Schritte sich auf meine Tür zubewegen, weg den Laptop, aus das Licht oder leiser die Musik.
Diese ganzen Sachen. Wie David gegen Goliath kämpfen meine Mutter und ich gegen sie an. Denn, 25 Jahre Leben zu fünft müssen nun in eine Wohnung für eine Person und diverse WG-Zimmer passen. Ich merke, ich bin wohl in eine Familie von Materialist*innen der schlimmsten Sorte geboren worden: Allein die Anzahl unserer Küchengeräte übersteigt sicherlich noch die Anzahl der Tchibo-Schätze, die meine Eltern so über die Zeit angeschafft haben: einen Luftentfeuchter, eine Rotlichtlampe, einen Bügelbrettschutzbezug, diverse Blumenhängeampeln, Wasserfilterkannen, eine Teebox, ein Glätteisen und so weiter. Noch schlimmer die Gegenstände, die emotional aufgeladen sind: Spielsachen, alter Schmuck, selbst unser Waffeleisen lässt mir momentan sentimentale Seufzer entfahren. Wehmutstropfen auch bei dem Gedanken an das Geld, das dabei flöten geht, und wie auch die Umwelt mit so viel zusätzlichem Schrott belastet wird. Memo an mich selbst: Einfach nichts mehr kaufen, was man nicht mindestens wöchentlich braucht und vor allem nicht emotional zu anhänglich werden!
Ich bin wie gefangen in der Gewissheit, dass eh alles Veränderung bedeutet, das Leben mehr Fluss als Stein ist.
Ich habe so viel gefühlt zwischen den starken Mauern meines kleinen Jugendzimmers. Sie haben mich aufwachsen sehen. Teilgenommen an Leid und Freud. Wie intensiv und süß die Momente doch gewesen sein mussten, ich alleine auf meinem Bett, mit einem Buch, meinem Kopf voller wilder Gedanken, die sich damals noch hoffnungsvoll mit meinen Gefühlen verknüpften. Was wohl da draußen wartet in dieser Welt?
Nun weiß ich es ein Stückchen mehr. Und bin doch wie gefangen in der Gewissheit, dass eh alles Veränderung bedeutet, das Leben mehr Fluss als Stein ist. Kein Elternverbund mehr, nur zwei Individuen, kein Haus mehr, nur noch Kisten, keine Heimat mehr, nur noch leere Hüllen eines Gefühls. Braucht man Heimat, um glücklich zu sein? Wahrscheinlich nicht.
Ich klappe den ersten Karton auf, den ich damals bei meinem Auszug hastig zusammengepackt und dann in den Keller verbannt hatte. Der erste Gegenstand, der mich erblickt, ist ein Foto von meinem Exfreund und mir, wir strahlen mit dem Plastikgold des Rahmens um die Wette. Ups, schnell wieder zu. Damit möchte ich mich jetzt nicht auseinander setzen. Der nächste Karton ist ein Sammelsurium an kleinen Dingen, die mir mal die Welt bedeutet haben: meine erste Zigarettenpackung, ein Armband aus Holzperlen aus meiner Kindheit, Konzerttickets, Postkarten, Briefe. Mist. Soll ich das alles wegschmeißen? Oder werde ich doch in regelmäßigen Abständen beschwipst vom Rotwein die Kisten durchgehen und in Erinnerung schwelgen? Bisher war mein erster Gedanke bei solchen Zeremonien eher: „Zum Glück bin ich nicht mehr in dieser Lebensphase.“ Klar, alles wird irgendwie schwieriger im Leben, aber so ganz zurück möchte ich dann auch nicht.
Ein Zuhause ist da, wo das Herz ist.
Ein Zuhause ist da, wo das Herz ist. Freund*innen sind präsenter als Kernfamilie und die Gefühle, die werden schon lange alleine verhandelt. Hier Mama, mein neuer Freund, hier Mama, wir haben Schluss gemacht, hier mein neuer Job, hier meine neue Wohnung. Glücksgefühle oder Trauer sind auf meinen eigenen Kosmos komprimiert, längst nicht mehr Teil des familiären Zyklus aus Erwartungen und Enttäuschungen.
Kommt man dann zu den Feiertagen nachhause, gar zu den Ferien, dann freuen sich alle. Freuen sich über Vertrautheit, über Liebe, die vielleicht doch dicker als Wasser ist. Nach einiger Zeit folgt dann das böse Erwachen, denn längst sind nicht alle Konflikte aus der Welt geschafft. Im Gegenteil: ein neues Leben, andere Werte, ein anderes Selbstbewusstsein, das auf das der anderen trifft.
Meine Mutter knirscht ein bisschen mit den Zähnen und schaut mich schuldbewusst an. „Was ist?“, möchte ich wissen. Ich trete näher und erkenne ausgedruckte Flyer in ihren Händen. Darauf einige Bilder der Katze, auf denen sie besonders niedlich guckt, und ein Text: „Katzendame sucht neues Zuhause.“ Zum ersten und einzigen Mal in dieser ganzen Zeit steigen mir die Tränen in die Augen. Keine*r von uns kann unser sechstes Familienmitglied mitnehmen, denn gemeinschaftswohnungstauglich ist so eine betagte Katze auch nicht mehr. Ab jetzt ein Altersheim. Hoffentlich mit vielen Streicheleinheiten.
Ist es in Ordnung, als Erwachsene traurig über die Aufgabe des Elternhauses zu sein?
Dieses Wochenende sind nun die letzten Takte unseres geteilten Lebens erklungen. Leiser war es als gedacht. Ist es in Ordnung, als Erwachsene traurig über die Aufgabe des Elternhauses zu sein? Ein Haus, das man schon seit Jahren nicht mehr als dieselbe betreten hat? Bei dem man sich nie vorstellen könnte, noch einmal darin zu leben? Habe ich mich nicht schon lange von meinen Eltern unabhängig gemacht?
Einmal lag ich noch im Garten, im Gras. Habe in das helle Blau des Himmels geblickt und die Fassaden der Nachbarhäuser betrachtet. Gerade als ich ein Lied anmachen wollte, um diesen scheinbar sentimentalen Abschied zu feiern, spüren ich ein Stechen am rechten Ellbogen, reiße ihn herum und puste zwei Ameisen weg. Ich springe fluchend auf und gehe wieder ins Haus.
Dieser Abschiedsversuch war wohl nichts. Mein Versuch, von jedem Zimmer ein Erinnerungsfoto zu schießen, misslingt. Ein Sturm zieht herauf und wir müssen das gelbliche Deckenlicht anmachen und die Rollos herunter ziehen, um die Fenster vor dem Hagel zu schützen.
Warum ist mir ein Abschiedsritual so wichtig? Kann ich denn nicht auch so abschließen mit dem, was war? Mit dem, was werden wird? Wahrscheinlich. Das Leben, ein Fluss, es fließt einfach weiter. Es ist besser, sich treiben zu lassen, als verzweifelt an den Grashalmen des Ufers festzuhalten.
Mittlerweile ist fast alles verschenkt oder verkauft. Macht nichts, ich habe meine Erinnerungen im Kopf und seit diesem Wochenende die befreiende Erkenntnis: Mein Leben ist nicht mein Besitz. Ich habe auch mit nur wenigen Erinnerungsstücken eine Vergangenheit. Und ab jetzt mehr Raum für Neues. Der Sandwichmaker bei Tchibo ist, glaube ich, gerade im Angebot, just saying.
Headerfoto: Nima Sarabi via Unsplash. („Wahrheit-oder-Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!