Ich bin auf einem der vielen Social-Media-Portale und scrolle und scrolle und scrolle. Präsentiert werden mir die immer gleichen Themen, (Selbst-)Darstellungen und Eindrücke: Bilder von Ereignissen im Leben von Menschen, mit denen ich wohl ohne diese Portale keinen Kontakt mehr hätte. Wie wohl bei den meisten anderen auch, denke ich mir und scrolle weiter.
Werbung für Dinge, über die ich vor einiger Zeit gesprochen habe, ein semilustiges Meme, ein Mädchen spielt Geige in einer Fußgängerzone, Weltnachrichten, ein neuer Film, mit diesem einen ach wie hieß der noch, kommt bald, ein Zusammenschnitt von Sportler*innen, die über Dinge springen.
Ich drücke den Home-Button und meine Symbole fliegen aus dem Off in Position. Ich schaue einen Moment aufs Display, überfliege die abgerundeten Vierecke verschiedenster Plattformen und dann deinstalliere ich, bevor mich erneut der Automatismus überfällt, Tinder. Nicht noch einmal will ich diesen Knopf drücken, um jemanden hin und her zu wischen.
Will niemanden nach seinem Aussehen und/oder Profil(-neurosen)-aussagen be- und verurteilen, obwohl ich es mit Leichtigkeit könnte. Ich will keine Supersterne geben und keine Zeit damit verbringen, mir auf dem Fleischmarkt der Einsamen einzugestehen, dass ich schon beim Installieren Teil dieser Gruppe wurde.
Try and error im Datingdschungel
Das mag von mir jetzt sehr negativ gegenüber diesen Datingportalen rüberkommen, aber man kann mir nicht vorwerfen, ich hätte es nicht probiert.
Ich habe sogar im Vorfeld einige Informationen akkumuliert, um das gleich richtig anzugehen. Habe mir Seiten der zehn besten Onlinedatingprofiltipps durchgelesen, nach deren Meinung Haustiere wie Hunde und Katzen immer gut ankommen, oder ein freundliches Outdoorbild beim Klettern, irgendsowas in der Art, habe mir einen Klappentext für mich und mein Buch einfallen lassen und dann auf Start gedrückt.
Und dann saß ich da und habe gewischt. Links und rechts und rechts und links. Eine Frau lacht, mit einem breiten Hut auf dem Kopf, den sie scheinbar auf beiden Seiten festhalten muss, in die Kamera. Wisch. Die nächsten beiden aufeinanderfolgenden Frauen halten die tiefstehende Sonne – die eine auf einer, die andere auf beiden Händen. Wisch, wisch.
Eine Frau springt breit grinsend am Strand. Wisch. Eine Frau liegt unnatürlich drapiert auf einem Felsen, der über einem ausladenden Bergpanorama ragt. Wisch. Eine Frau macht vor ihrem Auto mit ausgestreckter Zunge die Teufelsfaust. Wisch. Eine Frau in einem weißen Kleid bei einem Dinner in einem teuren Restaurant. Ihr Ellenbogen stützt auf dem Tisch ihre Handoberfläche hält ihr Kinn. Sie lächelt mild, ihr Haar fällt ihr über die Schulter, vor ihr ein Glas Rotwein und eine Blume in einer dünnen Vase und ich frage mich, wer dieses Bild gemacht hat. Wisch.
Was mit frech genau gemeint sei, wurde verschwiegen, was aber mit frech nicht gemeint sei, wären Bilder von Genitalien als Eröffnung.
Als nächstes der Rücken einer Frau, die in einem Kornfeld steht. Neben ihr neigt sich die mit Instafiltern belegte Abendsonne. Ihre Hand streicht über die Ähren. Wisch. Dann eine ganze Reihe Frauen mit Hunden und/oder vor dem Spiegel stehend mit Handycam von schräg. Wiisch. Im nächsten Bild gibt es gleich drei Frauen. Erst eins ihrer anderen Bilder verrät, um wen es gehen soll. Wisch.
Ich habe ein paar Matches.
Die Seiten, die ich mir im Vorfeld angeschaut hatte, suggerierten ebenfalls den Tenor, sich durch eine gute Eröffnung von der breiten Masse abzuspalten. Etwas Witziges sollte es sein. Vielleicht etwas Charmantes übers Profil oder einfach mal frech sein. Was mit frech genau gemeint sei, wurde verschwiegen, was aber mit frech nicht gemeint sei, wären Bilder von Genitalien als Eröffnung. Nein, eher ausgefallen und trotzdem höflich. Bestimmt aber nicht zu nassforsch. Und vor allem nicht langweilig.
Ein paar von ihnen schreibe ich an. Ich überlege kurz und schreibe dann: „Hey wie geht’s?“ Keine Antwort. Dialog gelöscht. Ich erinnere mich, wieder gelesen zu haben, dass „Hey, wie geht’s?“ als eine der langweiligsten Anmachen überhaupt gilt. Unkreativ und dröge. Aber dazu später mehr.
Also lasse ich mir bei den Nächsten was Besseres einfallen. Man schreibt sich, man profiliert sich, man trifft sich, man bleibt (im Idealfall mehrfach) über Nacht und geht dann wieder seiner Wege. Und dann wischt man weiter. Seltsames Konstrukt, diese Onlinedatinggeschichte, ist es doch (im Sinne des Erfinders) sehr oberflächlich und kurzweilig gehalten. Wie soll man so jemanden kennenlernen?
Ich finde aber auch Beziehungen langweilig. Es ist mir einfach nicht genug, mit jemandem zusammen zu sein. Und um ehrlich zu sein, sehe ich das Modell Beziehung, wie es im allgemeinen Sprachgebrauch propagiert wird, auch als ein großes Problem von Einsamkeit.
Und da rede ich noch nicht mal nur von diesen Tinderdates oder von den vielen noch anhaltenden Beziehungen, die angestrengt vor sich hin köcheln und denen, die noch nichts über das baldige Ende wissen.
Über die unzähligen Männer vor den Kaufhäusern und Toiletten mit der Handtasche der Freundin am Arm. Oder über die endlos rotierenden Augen der Frauen, wenn er wieder mal typisch er selbst gewesen ist. Nein, das sind ja alles schon Ergebnisse. Es ist der Ansatz, der schon verschoben ist.
Es ist mir einfach nicht genug, mit jemandem zusammen zu sein. Und um ehrlich zu sein, sehe ich das Model Beziehung, wie es im allgemeinen Sprachgebrauch propagiert wird, auch als ein großes Problem von Einsamkeit.
Ich kann immer nur von mir und meinen Erfahrungen und Interpretationen dieses globalen Breis aus Allgegenwärtigem sprechen, doch wenn ich mich da draußen so umschaue, zeichnet sich ein seltsames Bild der Allgemeinheitshaltung gegenüber den Erwartungen ab, die beide Seiten an die Zweisamkeit mitbringen (sollten).
Er muss witzig sein und sie muss über seine Witze lachen können. Dann ein wenig eloquent profilieren, mit Talenten, Charme und/oder Körpermerkmalen glänzen und schon sind die Weichen gestellt. Im Kopf immer die Faustregel: Was heiß brennt, vergeht schnell. Dann vielleicht noch ein, zwei Treffen, aber nichts Ernstes. Oder aber es geht länger, wohlwissend, dass es nur ein Modell von Beziehung gibt, das bis zum Ende geht. Alles andere fällt links und rechts der Vergänglichkeit anheim. Eine Art russisch Roulette.
Aber wie sollte man denn sonst zusammen sein, wenn nicht in einer Beziehung?
Immerhin hat jede*r das Bedürfnis, geliebt zu werden, Lust und Lendenleidenschaften, das individuelle Haus am See im Kopf. Das ist auch völlig berechtigt, aber dabei geht es eben (nur) um einen selbst. Und natürlich spielt jede*r seine oder ihre Rolle so gut er oder sie kann, um auf dem freien Markt zu bestehen. Man bekommt das Gefühl, dass einiges unternommen werden muss, um (auch in Zukunft) im oberen Drittel des Glockenkurvendiagrams eine Rolle zu spielen.
Eine Sieben sein statt einer Fünf. Denn eine Sieben zupft sich die Augenbrauen und geht viermal die Woche zum Yoga. Hat noch was vor im Leben. Hat Karriere. Und um so eine Sieben oder sogar Acht zu bekommen, Junge, da muss du schon Statusobjekt x und/oder y vorweisen und mindestens dies und jenes getan haben, um auch nur in die Nähe deines erhofften Ziels zu kommen.
Und wenn er dir schon so kommt, dann, Mädchen, heißt es gleich „Gute Nacht“. Denn solche Proleten braucht keiner. Es sei denn, er hat dass gewisse Etwas, das dich das ignorieren lässt. Und sei es auch nur für heute Nacht. Und wenn nicht, scheiß drauf. Denn niemand braucht irgendwen zum Glücklichsein. Nach mir die Sintflut.
Und wenn diese Welle, dieser Tsunami, der danach kommt, dann über dich (oder du über jemanden) hinweggefegt (b)ist, gibt es ein Erwachen in den Trümmern der Realität, die er hinterlassen hat. Denn er oder sie hat wieder jemanden kennengelernt. Aber besser noch wäre man selbst. Denn niemand will alleine sein. Bedeutungslos werden. Gleichgültigkeit erfahren. Besonders nicht nach einer Beziehung. Dann braucht man meist schnell etwas Neues.
Beziehungen können dieselben Effekte wie Drogen haben
Im Endeffekt haben (viele) Beziehungen sämtliche Charakteristika jeder anderen handelsüblichen Droge. Manche Beziehungen sind (wie) die Zigarette danach oder der Kaffee (oder Alkkater) am Morgen, andere nehmen dich mit auf ein gechilltes High. Wieder andere lassen dich in Tanz und Taumel drei Tage lang nicht schlafen, bis sie dich danach im Cold Turkey mit diesem ekligen Gefühl von Selbsthass zurücklassen.
Manche machen dich voll offen und lassen dich einfach so auf Menschen zugehen und die Farben und die Schönheit viel intensiver sehen. Manche sind wie Heroin.
Es ist, wie fast alles, ein intensives Bedürfnis nach etwas. Nach etwas, das eine Befriedigung erschafft. Und obwohl dieses Wort Befriedigung doch eine relativ starke, einseitige Vorprägung mit sich bringt, möchte ich mich dennoch durch diese nicht begrenzen lassen, wenn ich dieses Wort in diesem Kontext benutze.
Ich will mich beim Verwenden dieses Begriffs nicht (oder eben nicht nur) auf die körperliche Vereinigung beziehen, auf die es kognitiv hinausläuft. Zum Verständnis ist er damit also nicht allumfassend genug. Denn in unserem Bedürfnis nach Befriedigung liegt vielmehr als nur Sex verborgen.
Was meiner Meinung nach alle, oder wenigstens die meisten, viel mehr befriedigt, was uns verbindet, ist die Suche nach Vertrauen. Nach einem fragilen Einblick in die eigene und die einer fremden Wahrheit hinter den Kulissen. Nach etwas Ehrlichem.
Ich glaube aber nicht, dass dieses Vertrauen und diese Ehrlichkeit (nur) durch eine*n Partner*in gefunden oder erst dort kreiert und respektive zerstört werden. Eine (gute) Beziehung braucht (guten) Sex, verständlich. Aber Sex braucht nicht immer Vertrauen und Vertrauen braucht nicht immer Sex. Aber eine Beziehung braucht Vertrauen. Und Vertrauen braucht die Beziehung.
Es gibt jedoch mannigfaltige Formen der Intimität. Und das bringt uns wieder zurück zu einer, wenn nicht der wichtigsten Frage, die meiner Meinung nach in unserer mittlerweile medial viel zu intensiv verstrahlten Welt so radikal diskreditiert wird. Obwohl, oder gerade weil, sie so banal erscheint.
Diese fundamentale Frage, die in der Erkenntnistheorie viel mehr als nur landläufig angenommen eine Interessenbekundung über die Umstände des Gegenübers ist, gilt als der wichtigste Nährboden für Empathie und (als eventuelles Folgeprodukt für) Liebe zu sich und anderen.
„Wie geht’s dir?“ Eine Frage der Empathie, Wertschätzung und Achtung
Aber diese Frage ist sogar noch mehr als das. Sie ist eine Offerte. Ein Angebot, ehrlich zu sein. Vertrauen zu schenken. Wertschätzung. Achtung.
Denn viel schöner – als angeblich nur darauf aus zu sein, dich zu nehmen, nehmen zu müssen, weil es so geschrieben steht, dich erobern zu wollen, zu müssen, wie es von mir auch als Mann erwartet wird, dir Zeug zu erzählen, damit es losgehen kann, die Initiative ergreifen zu müssen – ist es doch, wenn du dich gibst, dich frei entscheidest, Mensch zu sein, dich öffnest und fallen lassen kannst, weil du merkst, dass die Frage wirklich ehrlich gemeint ist und dich fühlen lässt. Dich berührt, wo sonst niemand ist. Und so eine viel seltenere Sinnlichkeit entsteht. Etwas Echtes. Etwas Authentisches.
Überholte Rollenklischees. Denn das tust du nicht. Dich öffnen mein ich. Nicht wirklich. Nicht für mich. Denn sollte es wirklich dazu kommen, dass du mir, warum auch immer, etwas erzählst oder zeigst, etwas Wahres, eine echte Geschichte von dir, etwas Authentisches, etwas Menschliches, Verletzliches, Kostbares, Seltenes offenbarst, lebst du auch immer in der Gefahr und der Angst vor der damit einhergehenden Traurigkeit und Schwermut. Der Düsternis und der Einsamkeit. Der Verletzlichkeit und der Schwäche. Der Fehlbarkeit und des Versagens.
In der Ehrlichkeit zu mir bist du ehrlich zu dir selbst und dieses Vertrauen ist pure Liebe
Dinge, die du sonst lieber für dich behältst. Die niemand wissen darf. Soll. Nicht mal du selbst. Deine sichtbare Verletzlichkeit in einer solchen Wahrheit dient dadurch jedoch als Verpackung für das Geschenk deiner Ehrlichkeit. In einem Moment wirklicher Offenheit und Ehrlichkeit, Vertrauen, Stille und Demut.
Aber in einem solchen heiligen Moment, da erzählst du nicht mir etwas. Du erzählst dir etwas. Ich bin nur Medium. Protagonist. Ein Objekt der Kanalisierung. Es ist brutal ehrlich. Ein gehaltenes Tribunal deines eigenen höchsten Gerichts. Du selbst. Das hat nichts mit mir zu tun. Aber dass du es in meiner Gegenwart aussprichst, schenkt uns, mir, ein höchst seltenes Gut. Einen Moment im Vertrauen. Ein Moment, in dem nichts als Ehrlichkeit herrscht. Nichts als Liebe.
Wir wollen, dass das ewig hält, aber das tut es nicht. Darf es nicht. Kann es nicht, gegeben seiner flüchtigen Natur. Wie man einen Schmetterling nicht mit einer Faust umschließt und einsteckt, so ist die bloße Existenz eines solchen Moments (zwischen uns) im Vertrauen mehr wert, nachhaltiger, kraftspendender, zeitloser, bedeutsamer als die unwahrscheinliche Hoffnung auf eine endlose Anreihung solcher Momente bis zum St. Nimmerleinstag im permanenten Uns.
Jede*r kann lieben.
Dieses Gefühl, diese Liebe kann bei näherer Betrachtung nicht exklusiv oder elitär sein. Nicht egozentrisch. Darf es nicht. Dafür gibt es einfach zu viele Menschen. Und ich meine nicht Partner*innen. Sondern Menschen. Das Spektrum muss einfach breiter gefächert werden. Verständnis. Denn es geht dabei nicht um dich oder mich. Dies muss für uns alle gelten. Sie gibt uns Verantwortung. Denn du bist ich und wir sind alle.
Jede*r kann lieben.
Dieses Gefühl, und es ist ein Gefühl, ein sehr intimes und damit eines der stärksten, kann aber nun mal nicht gefordert, genommen oder ergriffen werden. Es wird im Hier und Jetzt aus dem Nichts gemeinsam erschaffen. Und vor allem anderen muss es gegeben werden. Offeriert. Ob nun mit oder ohne Beziehung. Davor oder danach.
Wir müssen die Grenzen dieser menschlichen Terminologie überschreiten, um wieder mehr menschlich zu sein. Sein zu dürfen. Zu können. Denn wir sind alle menschlich. Verletzbar. Die Wahrheit hinter den Kulissen ist nicht immer schön. Bei niemandem. Sie ist schwer und einsam und voller Aufgaben. Frag nich nach Sonnenschein. Aber sie verbindet. Kann verbinden. Muss verbinden. Weit über alle weltlichen Grenzen hinaus.
Wir alle haben diesen einen (oder mehrere) Menschen in unserem Leben, den wir so schmerzlich vermissen und denken, wir sind damit allein, obwohl es doch ironischerweise genau das ist, was uns alle (!) an der Basis verbindet, denn wir alle kennen diese Gefühle.
Kein Ort konnte und könnte mir je diese Emotionen geben, welche ich mit den Menschen teile, die offen und ehrlich zu sich und mir sind, denn dieses Gefühl und die geteilten Momente sind Gefühle und Momente der Wertschätzung und damit frei von Raum und Zeit. Universelle Liebe. Größer als wir selbst. Selbstlos. Erhaben über jeden Zweifel. Verbundenheit. Vertrauen und Ehrlichkeit. Respekt und Wertschätzung. Und die kann man so gut wie jeder*m geben. Jederzeit.
Sei einfach, wie du bist
Aufmerksamkeit. Empathie. Verständnis. Nähe. Bedeutung. Alles authentisch, alles echt. Denn was du (dir und im Ganzen) bedeutest und was du mir bedeutest, das ist ja wohl nochmal ein himmelweiter Unterschied und wird am Ende wohl ein ganzes Stück missverstanden zurückbleiben. Und das ist auch nur menschlich und völlig okay.
Ich kann dir nur sagen, zeigen, dass und wie sehr ich dich mag. Dir sagen, wieviel du mir bedeutest und wie du mich glücklich machen kannst. Indem du einfach so bist, wie du bist. Egal, wie das aussieht. Hauptsache es ist nicht zusammen. Sondern gemeinsam.
Aber ich kann dir nicht mehr als mein Vertrauen schenken. Nein, offerieren. Denn wie tief deine Antwort reicht, mit der du (mich) dann glücklich machen kannst, bestimmst nur du, wenn ich dich frage: Wie geht’s dir?
Headerbild: Caique Silva on Unsplash („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt und gecroppt.) Danke dafür!