Die meisten meiner Freund*innen haben Angst vor dem Tod. Davor, nicht genug zu sein, nicht genug zu erreichen oder nicht genug zu leben. Ich habe Angst vor der Zukunft, der Einsamkeit, dem Leben ohne Hoffnung, der Ziel- und Sinnlosigkeit. Als ich an einem Sonntag mit meinem Hund im Wald spazieren gehe, wird mir klar, dass die Angst manchmal ganz real wird, ihr Abstraktes, ihr „irgendwann“ verliert und ganz direkt vor mir steht. Wie ein wildes Tier.
Es dämmert schon, als ich mir eingestehe, mich verlaufen zu haben. Die Regentropfen fallen durch die Nebelschicht. Ich gehe trotzig weiter, jetzt nicht rumheulen. Ab und zu sinke ich in den Matsch ein und stolpere, finde mein Gleichgewicht aber, bevor ich hinfalle. Jetzt nicht hinfallen. Es ist schon kalt genug.
Mein Handy zeigt mir den richtigen Weg an und dann auch, dass es gerne Strom hätte. Jedes Geräusch lässt mich zusammenschrecken, jede Bewegung ist für mich Zeichen eines struppigen, grunzenden Wildschweins, das jeden Moment auf mich zulaufen würde. Die Vorstellung ist lustig, die Angst ist es nicht. Keine Angst ist lustig. Ich habe Angst vor Wildschweinen. Ich fürchte mich vor dem Gefühl, gefressen zu werden. Ich habe Angst vor der Angst, dem Zittern, dem Erschrecken, dem Laufen, der Hilflosigkeit. Den leuchtenden Augen, der Wut, dem Instinkt.
Keine Angst ist lustig. Ich habe Angst vor Wildschweinen. Ich fürchte mich vor dem Gefühl, gefressen zu werden.
Links und rechts Bäume, ich gehe mittendurch auf einem schmalen Weg. Ich trete ab und zu in kleine Pfützen oder Dinge, die ich nicht mehr erkenne. Die Taschenlampe meines Handys wäre eine gute Idee, wenn mein Akku nicht immer schwächer würde. Außerdem überlege ich, dass ich mit einem Licht gesehen werden würde. Wäre ich ein Tier, würde ich mich hier sehr, sehr wohlfühlen, denke ich. Ich klammere meine Hand um mein Handy und bilde mir ein, es warmhalten zu können und dem Akku Mut zu machen. Wann wurde es eigentlich so kalt?
Egal, wo meine Hündin hinschaut, ich vermute hinter jedem ihrer aufmerksamen Blicke ein wildes Tier. Etwas Dunkles, Schweres, Großes mit funkelnden Augen, direkt vor mir. Dann stelle ich mir dieses Wildschwein vor und überlege, wie es sich anfühlen würde, was ich denken würde und ob man mich noch finden und zuordnen würde. Jetzt habe ich gar nicht so große Angst vor dem Tod an sich, sondern vor den Momenten davor.
Rasender Puls, steigende Angst, ein Reh springt vorbei … wie kann man nur so ein Angsthase sein?
Dann sehe ich wirklich was. Es läuft unmittelbar vor mir über den Weg, es ist groß und meine Hündin will hinterher. Ich schrecke zurück, erkenne weißes Fell und bin gleichermaßen erleichtert wie geschockt, dass es ein Reh ist. Gut, dass es nur ein Reh ist. Schlecht, dass die Tiere anfangen, herumzulaufen und mit die „Tiere“ meine ich auch Wildschweine. Ich gehe schneller, versuche meiner hoffentlich einzigen Begleitung leise aber streng klar zu machen, dass sie gefälligst bei mir bleiben soll. Mein Puls rast. Ich versuche so unauffällig und gleichzeitig so schnell wie es geht, weiter zu kommen. Immer geradeaus.
Ich sehe zwei helle Punkte. Scheiße, sind das Augen? Okay, nein, es bewegt sich zu schnell, es sind Scheinwerfer ziemlich weit weg. Wie kann man so ein Angsthase sein? Und auf einmal so irrational und naiv, dass ich Scheinwerfer nicht mehr von Augen unterscheiden kann? Da hinten ist also „schon“ die Straße. Dann kommen Kurven, die Straße ist wieder weg. Ich habe zu viel Angst, um weinen zu können. Ich gehe weiter und es raschelt irgendwo. Ich sehe in der Ferne endlich mein Auto und erkenne, von wo ich losgegangen bin. Na, immerhin ein Rundweg.
Ich rede mir ein, jetzt sei es Zeit, sich endlich zu beruhigen. Dann höre ich ein Grunzen.
Ich gehe ans Auto, will meiner Hündin ihr Halsband für das Autofahren anziehen und höre etwas. Ich rede mir ein, jetzt sei es Zeit, sich endlich zu beruhigen. Dann höre ich ein Grunzen. Ich lasse das Halsband fallen, lehne die Tür an, springe auf den Beifahrersitz und fordere meinen Hund auf, ins Auto zu springen – auch ohne Halsband. Sie ist sichtlich verwirrt von mir und bückt sich eingeschüchtert. Ich werde strenger. Sie springt rein, ich mache die Tür zu. Ich atme laut und schnell und höre mir selbst dabei zu und kann es nicht fassen, wie die Angst meinen Körper beherrscht.
Ich traue mich nicht, die Scheinwerfer an zu machen, weil ich mir vorstelle, direkt vor dem Auto einem Wildschwein in die Augen zu leuchten und vor Schreck zu schreien. Ein Teil von mir erwartet genau das, der andere Teil lässt sich auf den Fahrersitz fallen und überlegt zittrig, ob das Grunzen echt war. Ich habe bis jetzt keine Ahnung, ob es das Geräusch überhaupt gab.
Kennst du die Angst aus Kindertagen noch und was würdest du ihr heute sagen?
Auf dem Rückweg denke ich daran, welche Ängste ich als Kind hatte. Kennst du die Angst überhaupt noch? Die Geräusche, die auf jeden Fall genau das sind, vor dem man sich fürchtet? Die Monster unter dem Bett oder die Einbrecher, die am Türschloss experimentieren und kurz darauf mit der Taschenlampe durch dein Zimmer leuchten und es dann doch nur die Laterne von draußen ist?
Kennst du sie noch, die Angst, die so greifbar ist, dass du glaubst, sie an jeder Ecke begründet zu wissen? Die Angst, die unter dem Bett, hinter dem Schrank oder draußen in der Nacht lauert. Kennst du sie noch? Und wenn du ihr dann nochmal begegnest, was sagst du ihr dann?
Headerbild: Anton Malanin via Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Diese Angst im Wald kenne ich auch. Allerdings fürchte ich mich da eher vor irgendwelchen Triebtätern, die Frauen auflauern. Wenn ich Tieren im Wald begegne, egal welchen, freue ich mich immer! 🙂 Aber schlimm ist diese Angst immer, egal vor was. Wie sie langsam in dir empor kriecht und sich eng um deine Schultern legt….. 🙁 Ich weiß jetzt nicht, wie groß deine Hündin ist, aber mir würde es helfen, wenn ich nicht „völlig alleine“ unterwegs im Wald wäre. Zumal Wildschweine Hunde riechen können und dann abhauen. 😉