Was die Fülle-App (Erinnerst du dich? Falls nicht: Hier entlang.) bewirkt hat? Ich habe mir eine Dating-App heruntergeladen. Tatsächlich. Zum ersten Mal in meinem Leben. Ja, ich gestehe es. Mir. Und allen, die das lesen mögen.
Es brauchte ziemliche Überwindung, weil – ich bin ja so stolz. Hat man mir gesagt. Die bisherige Argumentation auf die Frage, warum ich denn um Himmels Willen nicht schon längst online sei, lautete immer: Ich bin keine Ware. Und nichts zum Konsumieren. Und schon gar kein Kiosk. Oder so.
Mir kommt Herzblatt in den Sinn. Die legendäre Show mit Rudi Carrell, als es noch kein Internet, geschweige denn Dating-Apps gab. Schon damals wirkten die Kandidat*innen gekünstelt, die Sätze aufgesagt, es hatte so gar nichts Spontanes an sich, nur Carrells Witze, die waren klasse! Und ich habe es geliebt, als Susi hauchte: „Also, lieber Holger, wer soll nun dein Herzblatt sein?“
Die ganze Sendung hatte etwas Fesselndes, obwohl die Antworten so offensichtlich vorbereitet waren. Sind wir nicht im Grunde immer voyeuristisch und laben uns am Balzspiel der anderen? Jedenfalls war es für diese Zeiten in den 1980ern revolutionär, so etwas im Fernsehen zu zeigen. Ich wette, sie standen Schlange, um an der Sendung teilzunehmen. Sogar meine Eltern schauten mit uns.
Mir kommt Herzblatt in den Sinn. Die legendäre Show mit Rudi Carrell, als es noch kein Internet, geschweige denn Dating-Apps gab.
Was mich zum Umdenken gebracht hat? Eine Laune. Es passierte so zufällig an einem Dienstagabend, nach dem Einkaufen und vor dem Abendessen. So in etwa: „Ach, schauen wir doch mal, was es für Apps gibt, ohne Fotos.“ Sind nicht so viele. Kurz die Nutzungsbedingungen gecheckt, die Reviews und App-Test-Vergleiche. Und los ging’s.
Nun, der Anfang ist einfach: Profilfarbe wählen – von Mausgrau bis Pink gibt es alle Schattierungen. Ich wähle ein warmes Sonnengelb.
Namen eingeben … hm. Den richtigen oder einen falschen? Will ich das wirklich? Dann Standards wie Alter, Geschlecht, Größe, Haare, Hobbies, Sport, Ausbildung/Beruf, Rauchen.
Suche: Männlein, Weiblein, alle … ?
Körperbau, aha, jetzt wird’s spannend. Zur Auswahl stehen muskulös, sportlich, schlank, durchschnittlich, mollig, korpulent, kurvig – oh yeah baby. Oder keine Angabe.
Beschreibung. Hier darf’s dann etwas länger sein. Ich habe keine Ahnung, was da die anderen so schreiben. Ist ja meine Premiere …
Innerhalb von 10 Minuten habe ich mein Profil ausgefüllt. Abwarten. Ich bin gespannt. Die Push-Nachrichten habe ich abgestellt. Der Effekt ist, dass ich geschätzt alle 2 Minuten nachschaue, ob was reingekommen ist. Dann die ersten Matches – ich komme mir vor wie im Tennis. Wer hat Aufschlag? Interessant, was der Algorithmus ausspuckt.
Männer in allen Farben. Jedes Profil eine andere. Manche haben Nicknames, andere ganz normale. Und jetzt? Fange ich an zu schreiben? Oder sie? Wie lauten die Spielregeln? Keine Ahnung. Ich warte also mal ab. Pro Tag kann ich eine begrenzte Anzahl nach links, also X tippen, oder nach rechts, Herz anklicken, anschauen und abwarten. Komme mir vor wie bei Herzblatt. Wer das beste Verslein aufsagt, kriegt die Wand. Und dahinter das große Los. Vielleicht. Oder wie bei der Bachelorette eine Rose.
Nach etwa 30 Minuten gibt’s erste Nachrichten von Bewerbern. Wow, so einfach geht das. Kurz ein Profil eintippen und schon hast du männliche Aufmerksamkeit. Hätte ich das gewusst, ich hätte es früher getan.
Die Männer müssen sich beweisen – Frauen können abwarten
Die ersten Fragen: Welche Sprachen sprichst du? Im Profiltext habe ich meine Leidenschaft für Sprachen erwähnt. Immerhin ein Versuch, auf meine Interessen einzugehen. Wir Frauen haben es ja hier leichter. Immer schön in der abwartenden Haltung bleiben, dann entblößt man sich nicht. Die Männer müssen zuerst mal beweisen, dass sie was drauf haben.
Oder ein anderer, sehr origineller Einstieg: «Guete Morge». Und dann auf mein «ciao» kam «alles gsund?» Mhm. Nach zweimal hin und her war dann die heiße Luft aus dem Ballon entwichen.
Es gibt viele Varianten, die mir begegnen. Manche schreiben gar nichts im Textteil. Die wische ich gleich weg. Wer sich keine Mühe gibt, zumindest ein klein wenig Aufwand betreibt, um sich zu bewerben, ist die Mühe nicht wert. Dann gibt es ganz klare Ansagen: „Ich bin verheiratet.“ Schön für dich. Oder: „Ich suche keine ONS.“ Es dämmert mir: Aha, One Night Stands. Oder „bin offen für alles.“ Ja, was meinst du mit alles?
Bei mir aber taucht plötzlich beim Wischen eine andere Frage auf: Nach welchen Kriterien sage ich ja oder nein? Und: Was will ich eigentlich? Das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Eine Beziehung? Einen Flirt? Affäre? Wahrscheinlich finde ich das währenddessen raus, wie so oft im Leben. Dass ich ohne konkrete Erwartung an etwas herangehe, einfach aus Lust an der Freud, und erst im Laufe der Zeit merke, was mir eigentlich vorschwebt. Interessante Beobachtung.
Ich merke schnell, welche Art Gespräch mir liegt, und wo ich einfach zu faul bin, um mehr Zeit zu investieren. Geistlose, dumpfe Sprüche liegen mir nicht. Sprachwitz und Aufgewecktheit verbunden mit Humor, das passt schon eher. Bald kommen mal die ersten Fragen nach einem Foto. Nee, du zuerst, bitte.
Und dann irgendwann, wenn es immer noch passt, Austausch der Telefonnummer, um auf eine andere Art der Kommunikation zu kommen.
Auch per App ist das Daten nicht einfacher
Bisher hatte ich ein paar Begegnungen. Sie waren alle nett. Interessante Männer. Nur – ich habe nichts gespürt. Keinen Funken, keine Lust, keine Chemie. Einfach nur freundliches und unpersönliches Interesse. Schade. Und das meine ich voll ernst. Ich habe keine Ahnung, wie ich bei ihnen angekommen bin. Habe nur von meiner Seite gemerkt, dass ich da keine weitere Energie reinstecken möchte.
Das ist wohl die Krux an diesen Apps und Portalen: Man erwartet viel und kriegt – die Realität. Nämlich, dass es viel braucht, bis es stimmt. Da reichen ein paar Worte beim Beschreiben deiner Interessen nicht. Mir fehlt das spielerische Element des Zufalls. Der unverhoffte Moment einer spontanen Begegnung, aus der vielleicht mehr wird. Wahrscheinlich bin ich zu romantisch, versaut von all den Hollywood-Schinken.
Bei einer Dating-App ist von Anfang an klar, worum es geht. Alles schon vorgespurt. Männlein sucht Weiblein, Männlein sucht Männlein, Weiblein sucht Männlein und so weiter. Wie langweilig. Es macht mich nachdenklich, dass es heutzutage als Single (oder auch Nicht-Single) normal zu sein scheint, sich per App oder Dating-Portal nach neuen Partner*innen umzusehen.
Zwei meiner Freundinnen haben so ihren Ehemann gefunden und haben nun eine Familie. Das gibt es also auch. Es ist wie immer: Komplex. Und nun? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Vielleicht spielt der Zufall mit und es taucht ganz unverhofft jemand auf. Wer weiß. Bis dahin – let’s app.
P.S.: Zwei Wochen später: Mittlerweile gibt es keine geeigneten Matches mehr. Sagt die App. Wie wahr.
P.P.S.: Beim Weiterstöbern im Netz bin ich auf eine sehr spannende Seite gestoßen: imgegenteil.de. Nur schade, sind da sehr wenige Schweizer zu finden. Echt gut gemacht, mit ganz persönlichen Portraits. So was wünsche ich mir … wenn schon online und via Portal, dann so was.
P.P.P.S.: Etwas ist im Tun. Mehr dazu demnächst.
Headerfoto: Sincerely Media via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
I feel you. Aber sowas von. Haargenau. From the bottom of my heart und so.
Ich glaube fest daran: wer mit offenen Augen und offenem Herzen durchs Leben geht wird das perfect match offline finden. Aber manchmal ist gerade das vielleicht nicht so einfach wie gedacht.