Wenn du mich küsst, kleiner Bruder

Als ich dich zum ersten Mal getroffen habe, kleiner Bruder, hattest du gerade angefangen, in Yale Mathematik zu studieren. Mein erstes Thanksgiving, eure Familie hatte mich fürs Wochenende adoptiert. Deine Paisley-Seidenfliege war selbstgenäht. Ich mochte damals schon, dass dein Geniegehirn nicht weiß, wie charmant du bist. Pumpkin Pie und ofengerösteter Rosenkohl. Ich schwamm im Stimmengewirr von vier verschiedenen Fremdsprachen ohne unterzugehen, weil Herzlichkeit nicht so viele Worte braucht. Herbst in Neuengland. Spaziergänge, Brettspiele, Facebook Friends.

Sechs Jahre später auf einem anderen Kontinent ziehst du deinen Mundwinkel verlegen zur Seite und weichst meinem Blick aus, als ich dich anlache, weil uns, mazal tov, bei der Hochzeit meiner Freundin, deiner Schwester, ein Tanz ganz nah aneinander schwemmt. Und nochmal und nochmal. Du holst mir einen Drink. I really like your dress. Danke.

 

Unschuldig, kleiner Bruder, denke ich, dass du bist.

Tags darauf am Strand frische ich meine hebräische Handschrift im Sand auf und lerne neue Worte von dir, während du mit Muscheln spielst und dich mühelos an deutsche Redensarten erinnerst, die ich dir gestern Abend nebenbei vorgesagt habe. Es muss nicht immer Kaviar sein. Lass uns lieber ans Eingemachte gehen. Ich habe einen Jieper. Guten Appetit.

Dein bester Freund: ein sechzigjähriger Lebenskünstler aus Budapest. Als du mir erzählst, wie er im Moment lebt und nie jemanden verurteilt, denke ich, dass er vor allem ein Yogi ist. Ich würde ihn gern treffen. Eine kleine Hare-Krishna-Gruppe tanzt hinter uns auf der Promenade vorbei. Ich singe ganz leise ein bisschen mit und wackle mit den Schultern.

 

Hast du deiner Schwester erzählt, mit wem du dich gerade triffst?

Eure Eltern können das sowieso riechen. Wenn du dich tätowieren lassen würdest, wärst du enterbt. Und ich vielleicht, wenn ich aus der Kirche austrete? Ich weiß nicht, wie viele ich mir noch stechen lasse.

I have a hard time wrapping my head around the fact that you can’t wrap your head around everything. Geht mir genauso. Als ich dir von Ödön von Horvaths kuriosen Todesumständen erzähle, springt der Funke aber spürbar vom Hirn ins Herz. Killed by a falling branch during a thunderstorm on the Champs Elysées? Ich hab meinen Kopf schon ausgemacht.

Wir sprechen zufällig auch darüber, wann wir geboren sind, lange bevor du mich küsst. Damit auch wirklich allen Anwesenden klar ist, wie viel älter ich bin. Okay, einverstanden. Zwei Nachmittage im Sand, wie Teenager. Du fasst nicht mal meine Brüste an. Darum geht es uns nicht. Und trotzdem kein Schlaf, weil mein Herz so klopft. Du streichelst meinen Bauch und ich mag ihn auf einmal ganz gern.

 

Im Flieger wische ich die letzten Sandkörner von meiner Sonnenbrille.

Andere Leute haben Souvenirs dabei, ich eine Piñata voller Augenblicke, Worte, Gefühle, mit denen ich mich selbst überrasche. Ein bisschen Tratsch, eine gute Geschichte, die mich, noch so frisch, ganz flattrig macht. Eine schöne Erinnerung; irgendwann werden wir darüber bestimmt lachen, wenn wir uns wiedersehen, vielleicht in sechs Jahren. Oder was denkst du? Landeanflug auf Berlin. Zeit, den Gurt anzulegen und die Piñata sicher vor mir unter dem Sitz zu verstauen.

In ein paar Tagen geht es auch für dich zurück nach Neuengland. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, kleiner Bruder. Komm gut nach Hause.+

Der Bruder von Ulrikes Mutter ist mit der Schwester ihres Vaters verheiratet. Wahrscheinlich glaubt sie deshalb nicht an Zufälle, liebt es aber umso mehr, wenn das Universum mal wieder mit dem Zaunpfahl winkt. Darüber schreibt sie gerne Geschichten, meistens auf daysofyoga.de. Sie arbeitet als freie Texterin und Yogalehrerin in Berlin.

Headerfoto: Toa Heftiba via Unsplash. (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

imgegenteil_Ulrike

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