Wenn die große Liebe sich dazu entschließt, freiwillig in der Ukraine das Militär zu unterstützen

Vor fünf Wochen, zwei Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine, ist mein Freund nach einer kurzen Überlegungszeit in ein Flugzeug nach Polen gestiegen. Er ist mit dem Zug zur ukrainischen Grenze gefahren und dann weiter mit dem Bus nach Lwiw in der Westukraine gereist.

Er hat zwei Tage in einem überfüllten Hostel übernachtet, von Tütensuppen und Schokoladenriegeln gelebt, die ich ihm noch eingepackt habe, und zwischen Bombenalarmen im Bunker geschlafen.

Er ist mitten in einem Geschehen, das viele nur aus den Nachrichten kennen.

Dann hat er den Registrierungspunkt gefunden an dem sich ausländische Freiwillige für das Militär als Unterstützung melden konnten, er hat einen Vertrag unterschrieben und sein Leben ist seitdem geprägt von militärischen Trainings zur Verteidigung, stündlichen Bombenanschlägen, geheimen Aufklärungskampagnen und massenweise Verletzte und Tote aus Trümmern bergen.

Er ist mitten in einem Geschehen, das viele nur aus den Nachrichten kennen.

Wir sind beide Menschen, die sich für das interessieren, was um uns herum passiert. Wir haben uns vor einem Jahr auf einem Schiff einer Meeresschutzorganisation kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Zwei Leben – auf einen Schlag verändert

Er, 22 Jahre alt, aus Kanada, lustig, laut und aktivistisch und immer kritisch auf der Suche, Dinge zu verändern. Ich, 33 Jahre alt, in einer schwierigen Lebensphase, ängstlich, gerade frisch verheiratet und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, dabei auf dem Schiff zum ersten Mal richtig frei und glücklich. Quasi über Nacht habe ich mich für ihn und für ein anderes Leben entschieden. Wir haben Tag und Nacht zusammen verbracht, uns unendlich geliebt, gelacht, gestritten und vertragen, Gesellschaft, Politik und die Welt kritisch hinterfragt. Dabei unsere eigenen Pläne für die Zukunft geschmiedet, die gemeinsame und die jeweils eigene Zukunft.

Unser Lebensplan sieht vor, uns vor allem um die Dinge in der Welt zu kümmern, für die andere keine Zeit oder keinen Sinn haben.

Unser Lebensplan sieht nicht nur vor, alles anders zu machen als andere, keine Kinder zu kriegen, in keine klassische Form zu passen und uns vor allem daneben um die Dinge in der Welt zu kümmern, für die andere keine Zeit oder keinen Sinn haben.

Und genau das macht er gerade. Ohne mich. In einem Kriegsgebiet. Als er losging, erklärte er mir, dass er das jetzt tun müsse. Er könne nicht einer von vielen sein, die vor dem Bildschirm sitzen und die Situation furchtbar finden, er müsse dorthin und zwar direkt und vor Ort helfen und unterstützen, so lange es geht, denn er hielte die Ungerechtigkeit und Brutalität nicht aus, mit der ein alter weißer Mann dort seine wahnsinnigen Pläne vollzieht.

 Ich verstehe, dass, so wie er ist, dies seine Art ist und er mit seinen Überzeugungen, mit seiner mentalen Stärke, mit seiner Jugendlichkeit und seiner aktivistischen Ader kämpfen muss.

Es gibt sicher viele Dinge, die jede:r in der aktuellen Situation machen kann, um zu helfen und ich verstehe, dass, so wie er ist, dies seine Art ist und er mit seinen Überzeugungen, mit seiner mentalen Stärke, mit seiner Jugendlichkeit und seiner aktivistischen Ader kämpfen muss.

Ich verstehe und unterstütze es mit ganzem Herzen und trotzdem möchte ich irgendwie doch nicht, dass er dort ist. Ich möchte, dass er sicher ist, dass er nicht jeden Tag mit diesen schrecklichen Ereignissen konfrontiert ist, dass es ihm gut geht, dass er ein schönes Zuhause hat, immer genug zu essen hat, und ganz egoistisch möchte ich, dass er bei mir ist. Diese Ambivalenz besteht jeden Tag.

Zwischen Angst und Lebenslust

Mein Leben hat sich seitdem sehr verändert. Keiner weiß, wann dieser Krieg vorbei ist, wie und ob sich die Lage verbessert oder verschlechtert und natürlich besteht die allgegenwärtige Gefahr für uns, dass mein Freund einem Angriff verletzt wird oder schlimmeres passiert.

Manchmal haben wir viel Kontakt und ich weiß, wo er ist und was er macht, manchmal haben wir tagelang oder wochenlang keinen Kontakt oder er darf mir nichts von dem erzählen, was gerade passiert.

Manchmal haben wir viel Kontakt und ich weiß, wo er ist und was er macht, manchmal haben wir tagelang oder in Zukunft wahrscheinlich auch wochenlang keinen Kontakt oder er darf mir nichts von dem erzählen, was gerade passiert.All das beeinflusst mich mehr, als ich es mir in der kurzen Vorbereitungszeit, die uns geblieben war, vorstellen konnte. Seit fünf Wochen habe ich kaum eine Nacht gut geschlafen, in den ersten zwei Wochen habe ich ihn so sehr vermisst, dass ich jeden Tag geweint habe, kaum gegessen und keinen anderen Gedanken fassen konnte, außer dass mein Herzensmensch mitten in einem Kriegsgebiet ist.

Mittlerweile schwanke ich jeden Tag zwischen dem Zurückgewinnen meines eigenen glücklichen Lebens den weiterhin erschreckenden Tagesnachrichten und konkreten Ängsten um sein Leben.

Mittlerweile schwanke ich jeden Tag zwischen dem Zurückgewinnen meines eigenen glücklichen Lebens mit Hilfe meiner tollen Freunden und Familie, den weiterhin erschreckenden Tagesnachrichten, konkreten Ängsten um sein Leben während der Angriffe und einem Aufrechterhalten unserer Beziehung über Videocalls und Nachrichten.

Courage hat viele Gesichter

Es geht ihm gut, er ist zeitweise sicher, es ist das, was er gerade hundertprozentig machen möchte und muss, er kann vor Ort konkret helfen und unterstützen.

Vor kurzem hat er eine ukrainische Frau kennen gelernt, die zu alt und zu arm ist, um selbst aus ihrem Zuhause, was über Nacht zum Kriegsgebiet wurde, zu fliehen. Diese hatte ihm weinend Geld anbieten wollen, aus Dankbarkeit, dass er noch dort ist und mithilft.

Wenn alle nun gehen, müsse er erst recht bleiben, antwortete er.

Nach einem schweren Bombenanschlag auf seine Militärbasis haben einige Freiwillige die Ukraine verlassen. Es war das erste Mal, dass ich ihn gefragt habe, ob er auch nach Hause, zu mir, kommen könne. Die Antwort wusste ich bereits vorher: Wenn alle nun gehen, müsse er erst recht bleiben, antwortete er.

Ich bin unglaublich stolz und froh, dass er dort ist und helfen kann, und gleichzeitig wünschte ich mir ein kleines bisschen, dass er nicht so selbstlos, so mutig wäre und sich nicht so viel kümmern würde.

Shanti liebt das Leben und kann hoffnungslos optimistisch in allen Dingen etwas Gutes finden. Als malaysisches Baby von deutschen Eltern adoptiert, lebt sie heute wieder in dem kleinen Dorf ihrer glücklichen Kindheit in Süddeutschland, wo man sie immer auf ein großes Glas Wein antreffen kann.
Auch wenn ihr Leben immer wieder durcheinander gewirbelt wird, findet sie Ruhe in langen Spaziergängen mit Freunden, Spaß in lauten Familientreffen, Entspannung beim Yoga und Kraft am Meer. Fragen nach Liebe, Sex, Feminismus und dem Sinn des Lebens begegnen ihr immer wieder und warten auf neue Antworten.

Headerfoto: Alex Green (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!

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