„Du hast aber zugenommen – Heute ganz schön viel gegessen, huh?“ oder „Puh, deine Haut ist aber gerade schlecht.“ Solche und weitere Aussagen hören sich viele Menschen tagtäglich an – mich eingeschlossen. Auch wenn die meisten es dabei wahrscheinlich nicht einmal böse meinen, habe ich noch nie verstanden, wieso man das Offensichtliche dem Gegenüber so unbedingt unter die Nase reiben muss.
Welche Intention verfolgt man dabei? Dass es dem- oder derjenigen besser geht, kann ja wohl kaum die Absicht sein, denn in den meisten Fällen wird nicht gerade das Positive, bei dem man dem/der anderen vielleicht sogar überlegen sein könnte, verbalisiert. Nein – vielmehr wird etwas Negatives oder negativ Assoziiertes unnötig verdeutlicht. Doch warum drängt sich dieses Bedürfnis immer wieder in Konversationen mit Fremden, Arbeitskolleg:innen, Freund:innen, der Familie oder sogar dem/der Partner:in auf?
Kritik als Zeichen der Überlegenheit
Manchmal frage ich mich, ob es von eigener Unzufriedenheit rührt und dazu führen soll, dass man sich in dem Bereich, den man gerade (unterbewusst) kritisiert, überlegen fühlt. So spricht die Freundin, die vielleicht gerade Beziehungsprobleme hat und allgemein sehr unzufrieden ist, deine vermeintliche „Problemfigur“ an, weil sie sich selbst wohl in ihrem eigenen Körper fühlt und dadurch gedanklich von ihren eigenen Problemen ablenken und sich besser fühlen will?
Auch wenn sich vielleicht der eine oder die andere jetzt denken wird, dass solch eine Aussage doch absolut nicht böse gemeint ist und schlagartig in einen Art Verteidigungsmodus verfällt, so lenkt das nur davon ab, dass meine Vermutung bei den meisten Fällen voll ins Schwarze trifft. Kritik wird nie in den Bereichen getätigt, in denen man sich selbst unterlegen fühlt.
Kritik wird nie in den Bereichen getätigt, in denen man sich selbst unterlegen fühlt.
Ich lasse mich gern eines Besseren belehren, aber auch ich ertappe mich dabei, dass ich anderen gern ihre vermeintlichen Fehler vor die Nase halte. Ich habe dabei nicht aktiv vor, jemanden runterzuziehen oder mich auf irgendeine Art und Weise auf eine höhere Stufe zu stellen und trotzdem erreiche ich durch meine unüberlegten Aussagen genau das – Überlegenheit, eine Art Dominanz. Ich würde dabei höchst wahrscheinlich nie auf die Idee kommen, jemanden in einem Bereich zu kritisieren, in dem mein eigener Optimierungsbedarf hoch ist.
Ist das Säen von Selbstzweifeln notwendig?
Das heißt, auch wenn wir solche „gut gemeinten“ Ratschläge oder Hinweise nicht böse meinen, so sollten wir vielleicht mehr darüber nachdenken, wie wir uns selbst in der gleichen Situation fühlen würden und ob es manchmal nicht die bessere Möglichkeit wäre, den Mund zu halten. Denn was würden wir empfinden, wenn uns jemand vom letzten Stück Kuchen, dem etwas freizügigen Oberteil oder dem knallroten Lippenstift – den wir selbst so lieben – abraten will?
Ich möchte nicht daran schuld sein, dass jemand noch mehr mit sich selbst hadert, als er oder sie das eh schon tut.
Wäre die Reaktion immer ein vor Selbstbewusstsein nur so strotzender Konter oder würde sich der eine oder andere Selbstzweifel nicht automatisch von Zeit zu Zeit einschleichen? Egal, wie ihr selbst das seht, ich kann mit Sicherheit behaupten, dass jeder Mensch, der nach außen hin selbstbewusst wirkt und dem scheinbar kein noch so fieser Kommentar etwas anhaben kann, auch ab und an Selbstzweifel hegt. Und ich für meinen Teil möchte nicht daran schuld sein, dass jemand noch mehr mit sich selbst hadert, als er oder sie das eh schon tut.
„Leben und leben lassen“ ist das neu/alte Motto
Ist das Schöne am autonomen individuellen Menschen nicht, dass wir eben nicht gleich denken, fühlen und dieselben Dinge bevorzugen und schön finden? Ich finde schon. Also lasst uns darüber nachdenken, ob der jeweilige Wortbeitrag gerade wirklich hilft, dass unser Gegenüber sich besser fühlt. Nein? Dann schlucken wir es doch einfach herunter und kümmern uns um unsere eigenen Probleme.
Ich werde jetzt versuchen, meinen inneren Griesgram, der sich selbst und andere immer wieder in Konkurrenz setzt, zu Hause zu lassen. Denn meistens tut der nicht nur anderen weh, sondern auch mir selbst.
Ich bin dann mal weg – mich selbst und andere wieder versuchen, wertfrei zu feiern.
Headerbild: Philip Martin (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!