Tinder, ein Abschiedsbrief

„Wenn ich dich nicht bei Tinder kennen gelernt hätte,

dann hätte ich schon längst mit dir geschlafen.“

Liebes Tinder,

harmlos fingst du an, dich in unser Leben zu schleichen. Nach rechts wischen, nach links wischen, nach rechts wischen, ein Match, sehr oft nach rechts wischen, ein „Hallo“, sehr oft nach links wischen, ein „Wie geht’s?“, eine Verabredung und ein Treffen. Es war so einfach mit dir. So unbeschwert. Die Hemmung war verflogen. Anonymität gab uns Schutz und wir waren unbesiegbar. Von Ablehnungen haben wir nichts mehr mitbekommen, unser Selbstbewusstsein stieg in ungeahnte Höhen auf und wir dachten endlich einen Weg gefunden zu haben, Frauen kennenzulernen. Einen einfachen Weg. Denn kompliziert, das sind doch unsere Eltern. Wir haben Technologie, wir sind smart, wir sind sexy. Und du hast uns komplementiert. Das perfekte Accessoire für eine Generation, die alles hat.

Du wurdest bekannter und bekannter. Unaufhaltsam auf dem Weg nach oben, ließt du dich von niemandem stoppen. Wir hatten erste Dates, zweite Dates, keine Dates. Alles im Zeichen der Liebe, dachten wir. Hier eine Umarmung, dort ein Kuss und auf einmal eine Beziehung. Die Aufregung war groß. Was sagen wir den anderen? Die Wahrheit?

Nein: Wir, wir haben uns beim Agavendicksaft im Supermarkt kennen gelernt. Ja, kein Scherz. Wir haben beide nach der letzten Flasche gegriffen und schwups, Liebe.

Vielleicht etwas dick aufgetragen, aber immer noch besser, als sich zur Perversion Internet-Bekanntschaft bekennen zu müssen. Denn seien wir mal ehrlich, peinlich bist du uns dann irgendwie doch immer gewesen. Jeder hat dich benutzt, manche wussten wofür, viele hatten keinen blassen Schimmer. Du warst wie das Rauchen. Eine schlechte Angewohnheit von der man nicht los kommt und immer gut, um 5 Minuten Wartezeit zu überbrücken.

Dann kamen diese Gerüchte über dich auf. Das war für uns alle keine leichte Zeit. Man hat dich als „Fick-App“ bezeichnet, als „Bums-Portal“ und „Stecher-Werkzeug“ diffamiert. Sicher, es gab Menschen, Männer und Frauen, die dich genau dafür benutzt haben, aber die gab es auch vor dir und die wird es auch nach dir geben. Wenn der Mensch ficken will, dann will der Mensch ficken. Ob es ihm leicht gemacht wird, oder nicht. Und es gehören doch auch immer zwei dazu. Obwohl das so vielleicht gar nicht stimmt. Wir wissen doch beide, dass die Frau die Kontrolle hat. Wenn sie „nein“ sagt, dann heißt das „nein“. Nicht zwangsläufig verbal, aber mit ihrer Mimik, ihrer Gestik, ihrem gesamtem Körper. Was auch immer irgendwelche Hobby-Psychologen sagen. Und „Vergewaltiger-Treffpunkt“ hat dich nie jemand genannt.

Aber dieses Image hast du leider nie richtig abschütteln können. Schlimmer noch. Irgendwie hat sich dein Image auf die Männerwelt übertragen. Nicht mehr Frau selbst war Schuld daran, dass Mann mit ihnen geschlafen hat und sie es jetzt bereuten, nein, wir waren Schuld. Weil wir alle nur das eine wollen. Alle. ALLE. Und wir auch alle gleich sind. Aber wer kann es ihnen verübeln. Es gab immer Männer, die alles dafür tun, um mit einer Frau zu schlafen und nach erfolgreichem Abschluss anscheinend in ein fremdes Land auswandern. Bachelor of I Fuck You mit anschließendem Master of I Don’t Fucking Care What You Think.

Das passiert. Auch uns Männern. In anderer Art und Weise versteht sich, aber auch wir wurden verlassen, auch wir wurden von heute auf morgen vor vollendete Tatsachen gestellt, auch wir konnten es nicht verstehen, waren am Boden und wollten nie wieder eine Frau kennenlernen. Und ja, du hast in diesen Momenten viel Gutes getan. Hast uns Trost gegeben und uns wieder ins Leben hinaus geschickt.

Doch es hatte sich etwas geändert. Auf einmal gab es da Frauen, die deine Dienste in Anspruch genommen haben, sich aber dafür schämten, an nichts und niemandem interessiert waren und trotzdem nicht aufhören konnten, dich zu benutzen. Sie hatten Dates, schmeichelten vielleicht sogar, ließen sich küssen, aber sie waren so verdammt weit entfernt. Denn das wahre Problem, das verflixte Haar in der Suppe, war das Vertrauen. Das fehlende Vertrauen. Du hast es uns so einfach gemacht Tinder, uns so viele Auswahlmöglichkeiten gegeben, dass uns nur noch wenig wirklich wichtig war. Hast uns vergessen lassen, dass wir es mit echten, fühlenden Menschen zu tun haben. Natürlich haben nur noch wenige Frauen Vertrauen in Männer, die sie durch dich kennen gelernt haben. Du hast es uns einfach zu leicht gemacht. Wir müssen der Gefahr ausgesetzt werden zu versagen, müssen abgelehnt werden und enttäuscht und alleine nach hause gehen. Schon Oma hat immer gesagt: „Junge, ohne das Salz ist der Zucker nichts wert.“

Tinder, versteh mich nicht falsch, wir hatten schöne Zeiten wir Zwei. Ich verdanke dir Liebe, gute Gespräche, intensive Blicke und vor allem Selbstwertgefühl in Momenten, in denen es genau daran mangelte. Aber es wird Zeit, sich zu verabschieden. Ich habe viel gelernt in der Zeit mit dir, an erster Stelle, dass dich niemand braucht.

Eine Frau hat zu mir gesagt: „Wenn ihr Männer euch trauen würdet, uns auf der Straße anzusprechen, dann müssten wir uns auch nicht bei Tinder anmelden.“ Zu dem zweiten Teil des Satzes sag ich mal nichts, aber sie hat vollkommen Recht mit dem ersten Teil. Ich muss mich nicht hinter dir und deiner Anonymität verstecken. Genauso viel wie ich mit deiner Hilfe zu verlieren habe, habe ich auch ohne dich zu verlieren. Nichts. Rein gar nichts.

Es gibt keinen Grund Angst zu haben, keinen Grund für Furcht oder Ablehnung. Alles was passieren kann, ist, dass man lernt, wie es eben nicht funktioniert.

Oder dass sie einen Freund hat.

C’est la vie.

In ergebener Dankbarkeit für deine Dienste und die Erfahrungen, die ich mit dir gemacht habe, wünsche ich dir für die Zukunft alles erdenklich Gute.

Dein Benutzer.

Seit Schulzeiten Clown, ist Thomas über die Jahre hinweg Meister des schlechten Witzes geworden. Mindestens einmal pro Tag muss er andere Menschen zum Lachen bringen, sonst fühlt er sich schlecht. Er kann nicht anders. Wie Chandler Bing. Es quillt aus ihm heraus ohne Filter und Zensur. Abgesehen davon macht er eine Ausbildung zum Mediengestalter Bild und Ton, hat sich früh in das Medium Film und Fernsehen verliebt, geht gerne longboarden, trinkt gerne ein, zwei, dreizehn Bier und ist großer Fan vom Leben.

Headerfoto: Elisa Paolini via Creative Commons Lizenz! (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür.

imgegenteil_thomas

13 Comments

  • „Wenn ihr Männer euch trauen würdet, uns auf der Straße anzusprechen, dann müssten wir uns auch nicht bei Tinder anmelden.“

    >> Liebe Frauen, (lieber Autor), es ist 2015. Spricht selber die Leute auf der Straße an, die ihr kennenlernen möchtet. Ver*** noch mal.

  • Liebe Jule,
    du solltest die Position der Mundwinkel nich von der Existenz eines Partners abhängig machen 🙂 Ich weiss natürlich was du meinst und Unrecht hast du damit natürlich nicht. Das „auf der Strasse ansprechen“ ist leider aus der Natur der Sache schon meisst zum Scheitern verurteilt. Warum bist du auf der Strasse? Um von A nach B zu kommen. Dabei meisst mit dem Gesicht über dem Handy. Und jetzt kommt auf einmal ein tiefes
    „Hey, entschuldige, dass ich dich anspreche…“
    Das löst mehr einen Fluchtgedanken aus, als das warme Gefühl des ersten Eroberungsversuches. 🙂

    Trotzdem: Hey Jule, hast du vielleicht Lust einen Kaffee trinken zu gehen?

    • Hey Steve,

      es gibt viele Gründe, um mal schlecht gelaunt durch die Straßen zu laufen, alle hier aufzuzählen, würde Jahre dauern 🙂 Natürlich heißt Ansprechen und angesprochen werden nicht direkt, dass geheiratet wird, aber es ist ein Versuch! Es ist etwas, was im Gedächtnis bleibt. Es traut sich nämlich keiner mehr. Letztens wurde ich mal in aller Öffentlichkeit angelächelt, da bekam ich Angst. Angst, dass ich vielleicht vergessen habe, etwas anzuziehen. Vielleicht hatte ich auch mein Mittagessen auf mit verteilt, weiß man ja nicht so genau 😉
      Zwecks Kaffee: Du kannst mich gerne Kontaktieren: jule.blogt@web.de

  • Es gibt so viele Momente in denen man sich wünscht, dass genau dieser Kerl in der Straßenbahn oder im Supermarkt, denn man etwas schüchtern, aber doch direkt anlächelt etwas sagt. Einen einfach anspricht, weil man sich selbst nicht traut. Es sind so viele verpasste Gelegenheiten einen neuen Menschen kennenzulernen, es muss nicht mal der Mann fürs Leben sein. Es geht einfach um die Begegnung mit einem anderen Individuum, das im Bestfall genauso tickt, wie man selbst. Durch diverse Apps wie Tinder sind wir zu abgestumpft. Jemanden anzusprechen fühlt sich oft wie ein Überfall an, für einen selbst und für die Person gegenüber. Ich sehe es immer in den Augen meines vermeindlichen Opfers, selbst wenn ich jemanden nur nach dem Weg frage. Doch ist das erste Eis gebrochen, entwickelt sich in den meisten Fällen ein interessantes und durchaus nettes Gespräch. Wieso überwindet man(n) sich nicht und fragt nach der Nummer oder geht spontan Kaffee trinken. Seit wann ist es so schwer geworden Menschen außerhalb von Clubs kennenzulernen? Wer noch glaubt, die Liebe seines Lebens während einer Partynacht zu treffen, wird ziemlich schnell feststellen, dass das nicht funktioniert. Ist in diesem Fall, dank unzähligen Gin Tonics das Eis gebrochen, landet man in der Kiste, um am nächsten Morgen ernüchtert festzustellen, dass man total verkatert in einem fremden Bett liegt. Wenn es gut läuft, tauscht man Nummern aus und hofft darauf, dass man sich im nüchternen Zustand immernoch “geil” findet und einer von beiden den Mut hat sich zu melden. Das Worst-Case-Szenario sieht anders aus, man wacht auf und vom anderen keine Spur oder kein Lebenszeichen und man fühlt sich ziemlich dreckig und verlassen. So enden die meisten One Night Stands, dann heißt es auf Nimmerwiedersehen und danke für Nichts. Wo ist unser Mut, was haben wir den zu verlieren? Spricht man jemanden an, kann man höchstens eine Abfuhr bekommen, aber das ist nicht schlimmer, als mal wieder eine Chance zu verpassen. Es ist leicht darüber zu schreiben, aber wenn es darauf ankommt, bin ich die, die nur schüchtern lächelt, um sich keine fünf Minuten später mal wieder darüber zu ärgern nicht den ersten Schritt gemacht zu haben. Naja vielleicht trau ich mich morgen in der Straßenbahn.

  • Oh ja, wieder auf der Straße ansprechen. Da wo die Frauen schwer unter Zeitdruck sind mit den Mundwinkel nach unten gezogen ihr Smartphone bedienen.

    Ich habe Tinder schon lange nicht mehr, aber die andere Variante ist genauso unbrauchbar.

    • Hallo Stephan, was meinst du wieso wir Frauen mit miesgelaunten Gesichtern rumlaufen? Weil wir vielleicht niemanden haben, der uns zuhört wenn wir Probleme haben? Weil wir vielleicht das Gefühl haben, nicht gut genug zu sein? Weil es uns vielleicht nicht immer super gut geht. Wie sehr würde ich es mir wünschen, dass mich mal jemand von meinem Handybildschirm ablenkt und so mutig ist, einfach „Hi“ zu sagen!

  • Ich muss mich nun mal outen. Habe meine Liebe auf tinder gefunden. Wir beide hätten nie gedacht, dass der andere einen gut finden würde. Und obwohl wir nur 3 km voneinander entfernt wohnen, sind wir uns nie über den weg gelaufen. Wie im supermarkt kennen lernen, wenn man ihn verschiedenen märkten einkauft :-\ also von mir an dieser stelle: Danke tinder, du hast mir erst über eine schwere zeit geholfen und letztendlich meinen Schatz gebracht. Es gibt auch nicht nur schwarz und weiß. Sondern auch noch bunt. Lg Nicole

  • Ich finde es toll, dass du weg von Tinder bist! Bitte wieder im Supermarkt ansprechen, das wäre ein Traum 🙂 dann geht es endlich wieder aufwärts mit der Liebe

    • ja bitte, lasst uns uns wieder auf der straße ansprechen!
      so wie ich es mir in alten zeiten denke.. lasst uns wieder den mut haben und lasst uns das gefühl vergessen es sei peinlich einem menschen mitzuteilen man fände ihn gut…

      • Richtig 🙂 wie oft erlebt man Folgendes: „Ich fand dich damals schon toll, habe mich aber nicht getraut es dir zu sagen“ – meist geht es dem Gegenüber genauso, aber oftmals ist es dann zu spät.

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