Triggerwarnung: Sexualisierte Gewalt
Ich habe diesen Sommer bei meinem Vater in der Firma ausgeholfen, hatte einen gewöhnlichen 450€ Job und habe mal hier, mal da unterstützt. Nicht nur mein Vater arbeitet in dieser Firma, sondern meine halbe Familie: meine Oma, Tante, Cousine mein Onkel und meine beiden älteren Cousins. Im Endeffekt sogar mehr als die Hälfte meiner Familie.
Wir haben auf dem Firmengelände gespielt, gebaut und sind dort aufgewachsen.
Wir sind alle mehr oder weniger auf dem Firmengelände groß geworden. Meine Oma, meine Tante und viele andere leben alle direkt auf dem Gelände, wir haben zwei Häuser weiter gewohnt. Im Sommer und in allen Ferien haben wir immer ausgeholfen, haben Kartons klein gemacht oder bei der Inventur unterstützt. Wir haben auf dem Gelände gespielt, gebaut und sind dort aufgewachsen. Es gibt viele Mitarbeiter:innen, die ich seit Beginn meines Lebens kenne – und die mich seit Beginn meines Lebens kennen.
Mein Spitzname ist „Lauri“. Dieser Name beinhaltet ein gewisses Maß an Vertrauen, zumindest bedeutete er das für mich.
Mein Spitzname ist „Lauri“, ich werde nur von meinen engsten Freund:innen und meiner Familie so genannt. Dieser Name beinhaltet ein gewisses Maß an Vertrauen, zumindest bedeutete er das für mich. Es gibt auch einige Mitarbeiter:innen, die mich so nennen und ich fand es immer toll. Ich hatte einfach so viele wertvolle Erinnerungen auf diesem Grundstück, in diesen Gebäuden und vor allem mit den Menschen geschaffen. Das Ganze war ein Teil von mir und meiner Kindheit.
Der Tag, an dem sich alles änderte
Ich ging an dem Tag, an dem sich all das ändern sollte, besonders gerne zu Arbeit. Ich wusste, dass ich dort meinen Bruder, meinen Cousin und deren Partnerinnen treffen würde. Ich wusste, dass wir alle zusammen frühstücken würden, um den Tag gut zu starten. Also saßen wir letztendlich zu neunt am Tisch und haben gequatscht, gegessen und Kaffee getrunken. Als sich die Runde dann nach und nach auflöste, besprach meine Tante mit mir den Ablauf des Tages, wir machten aus, dass wir uns in 10 Minuten in einem Lagerraum treffen würden. Also ging ich schon mal los und erledigte ein bisschen etwas, ich musste altes Material aus dem Keller in den abgesprochenen Raum bringen. Es dauerte keine fünf Minuten und ich war damit fertig. Ich musste also einfach nur noch warten.
Er umarmte mich, so, dass er an meine linke Brust fassen konnte.
In dem Moment; als ich fertig war, kam einer dieser Mitarbeiter herein, den ich schon mein ganzes Leben lang kannte und der mich „Lauri“ nannte. Er freute sich sehr darüber, dass ich diese Ecke im Keller aufräumte, er freute sich so sehr; dass er mich umarmte. Er umarmte mich, aber nicht irgendwie, sondern so, dass er an meine linke Brust fassen konnte. Es war nur kurz und sofort schossen mir Gedanken in den Kopf wie „das war bestimmt ein Versehen“, „sowas würde er nicht mit Absicht machen“, „das kann nicht passiert sein“.
Gelähmt vor Angst
Aber meine Gedanken täuschten mich. Wenige Sekunden danach umarmte er mich erneut, und wieder hatte er meine linke Brust in der Hand, diesmal aber länger, so lange, bis ich einen Schritt zurück machte. Ich schaute ihm direkt ins Gesicht, aber ich sah einfach nichts – er tat so, als wäre nichts passiert. Ich hatte Angst, ich konnte nichts sagen, ich hoffte einfach nur, dass meine Tante bald kommen würde. Kurz darauf kam sie dann auch und er war währenddessen die ganze Zeit mit im Raum. Ich war wie versteinert, doch zuckte immer wieder zusammen, sobald er sich bewegte.
Ich war wie versteinert, doch zuckte immer wieder zusammen, sobald er sich bewegte.
Ein paar Minuten später verließ meine Tante wieder den Raum und ich war erneut alleine mit ihm. Ich nahm sofort das Material, das im Müll landen sollte, und ging los. Doch er folgte mir in die Lagerhalle, er lief mir überallhin hinterher und ich hatte einfach nur Angst. Angst davor, dass es nochmal passierte. Solch eine reale Angst hatte ich zuvor noch nie gespürt. Zufälligerweise wurde er dann angesprochen und konnte mir nicht mehr weiter folgen.
Die Reaktion meiner Familie
Ich rannte sofort zu meinem Bruder und erzählte ihm davon. Ich fing an zu weinen, er versuchte, mir Sicherheit zu geben und riet mir dazu, meinen Vater anzurufen. Das tat ich, ich erzählte ihm alles. Doch alles, was ich von ihm bekam, war ein Schweigen. Ich fühlte mich ekelhaft, ich hasste die Klamotten, die ich trug. Ich fühlte mich einfach widerlich. Mein Bruder und ich waren zum Glück bei meiner Oma zum Essen eingeladen, sodass ich früher Feierabend machen konnte. Ich schluckte alles herunter, was ich gerade erlebt hatte und war der glückliche Mensch, der ich immer bin.
Ich fühlte mich ekelhaft, ich hasste die Klamotten, die ich trug. Ich fühlte mich einfach widerlich.
Abends war ich bei meinem Freund, als mich mein Vater anrief, und mir erzählte, dass er mit dem Mitarbeiter telefoniert hatte: Er gab es zu. Das war für mich eine große Erleichterung, immerhin mussten sie mir jetzt so oder so glauben, es bestand kein Zweifel an meiner Geschichte.
Die Wochen danach
Ich ging nicht mehr arbeiten, ich wollte mich verständlicherweise nicht mehr an dem Ort aufhalten, ich wollte diesen Mann nicht mehr sehen. Eine Entscheidung, die von meiner Tante nur verachtend hingenommen wurde. Es folgten mehrere Gespräche mit meinem Vater, der hilflos war, weil er nicht wusste, welche Konsequenzen er ziehen sollte. Ich bat ihn darum, den Mann zu entlassen, ich wollte keine Angst verspüren, wenn ich meine Familie besuche. Ich wollte mich frei auf dem Gelände bewegen können ohne Angst haben zu müssen, ihm zu begegnen. Mein Vater hörte mir zu, aber es reichte nicht aus, er sprach immer wieder davon, dass man all die Jahre gute Zusammenarbeit nicht mit diesem einen Moment aufwiegen könne.
Meine Familie wollte mich nicht vor ihm schützen, sie wollte all die anderen Frauen, die dort beschäftigt sind, nicht schützen.
Meine Enttäuschung war riesengroß, ich hatte das Gefühl, von meiner Familie im Stich gelassen zu werden. Sie wollten mich nicht vor ihm schützen, sie wollten all die anderen Frauen, die dort beschäftigt sind, nicht schützen. Ich bin bis heute wütend. Ist das dieses beschissene patriarchale System, das wir stürzen müssen? Denn jedes verdammte Mal, wenn ich jetzt bei meiner Oma bin, habe ich Angst. Ich habe Angst, ihm wieder zu begegnen.
Headerfoto: Anna Shvets (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Du bist selbst von sexualisierter Gewalt betroffen? Auch, wenn es sich vielleicht so anfühlt: du bist nicht allein! Vertraue dich deiner Familie oder Freund:innen an. Das Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen bietet eine (anonyme) Beratung per Telefon oder Chat. Außerdem ist die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine wichtige Anlaufstelle, auch bei sexualisierten Übergriffen am Arbeitsplatz. Dort erfährt man, wie man sich wehren kann und wie die Rechtslage aussieht.
Unsere Chefredakteurin Amelie hat anlässlich des letzten Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt an Frauen einen Artikel zum Thema Sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz geschrieben. Den findest du hier.