Hatte ich das gerade wirklich gesagt? „Sex ist doch nichts Besonderes.“ Ich weiß nicht mehr, wie genau wir auf das Thema gekommen waren an diesem Nachmittag in der Unibibliothek, aber ich erinnere mich, dass es Sommer war, und die Lernaufmerksamkeitsspannen so kurz wie die Miniröcke einiger Kommilitoninnen.
Ja, ich hatte das wohl wirklich gesagt: „Sex ist doch nichts Besonderes.“ Noch dazu mit solcher Autorität in der Stimme. Ich musste innerlich lachen, weil ich mir überlegte, welche Gedanken wohl Steve Carell als „40-jährige Jungfrau“ durch den Kopf gegangen waren, als er merkte, dass er seinen Poker-Buddies gerade erklärt hatte, dass sich weibliche Brüste wie Sandsäcke anfühlten. Mein Ratschlag war etwas besser, so dass mein fragender Freund die Kompetenzdarbietung fraglos hinnahm, und sich wieder in Richtung Kaffeeautomat aufmachte, wo neue Abenteuer auf ihn warteten.
Aber ich hatte gelogen. Zumindest was mich betrifft, war – ist – Sex etwas sehr Besonderes. Und Erfahrung hatte ich damals keine. Ich war zwar noch lange nicht vierzig, aber definitiv Jungfrau. Nur merken durfte das niemand. Und so schmückte ich über Jahre meine wenigen Erfahrungen aus, bis nicht nur andere, sondern auch ich selbst fast glaubte, ich sei eine Art Charles Bukowski.
Ich war oversexed but underfucked.
In Ermangelung tatsächlicher sexueller Erfahrungen war ich irgendwie „metasexuell“ geworden. Für die ersten 15 Jahre meines potenziell sexuellen Lebens war Sex für mich vor allem ein Forschungsgegenstand. Ich sublimierte, was das Zeug hielt. Ich war, wie manche politischen Kommentatoren westliche Gesellschaften beschreiben: oversexed, but underfucked.
Ich war die Verkörperung des BWLer-Witzes über Unternehmensberater: einer, der zwar alle Stellungen kennt, aber noch nie Sex hatte. Der Creep aus dem Radiohead-Song, der an der Wand der Disko lehnt, die schöne Unerreichbare auf der Tanzfläche aus der Ferne bewundert und darüber sinniert, dass er doch eigentlich gar nicht auf diese Party gehöre: What the hell am I doing here? I don’t belong here.
Die meisten Menschen kennen dieses Gefühl. Selbstzweifel, Zurückweisung und Selbstzurückweisung gehören zum Erwachsenwerden wie die erste Verliebtheit. It’s an uncharted sea, a not opened door, so besang Robin Beck vor zwei Jahrzehnten diese Herausforderungen. Unendlich banal. Nur öffnet sich die Tür zumeist irgendwann, dauert die Pubertät keine Jahrzehnte.
Irgendwann kommt irgendwer vorbei, der uns special fühlen lässt. Ein Sexualtherapeut, dessen Name mir leider genauso entfallen ist wie die Quelle des Zitats, formulierte das einmal so oder ähnlich: „Beim Sex geht es den meisten Menschen darum, angenommen zu werden. Wenn beide das spüren, ist es ziemlich egal, wer was wem wo reinsteckt.“
Klar, das Kamasutra wird so nicht überflüssig, und es gibt bekanntlich 237 gute Gründe für Sex, von denen bei weitem nicht alle mit Anerkennung zu tun haben. Aber mir ging es doch vor allem darum.
Viele Jahre war mir meine Situation so peinlich, dass ich nur mit wenigen Freunden darüber sprach.
Dieses Gefühl der Entfremdung hat wohl auch den Filmemacher Wolfram Huke vor einigen Jahren bewogen, seine autobiographische Dokumentation über Sex- und Beziehungslosigkeit Love Alien zu nennen. Ich war beeindruckt von seinem Mut, sich filmisch seiner Entfremdung zu stellen, und sie in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Auch wenn es mir zunehmend leichter fiel, über meine Situation zu sprechen, in die Öffentlichkeit wäre ich nie gegangen. Viele Jahre war mir meine Situation so peinlich, dass ich nur mit wenigen Freunden darüber sprach.
Aber so groß der mentale Spagat zwischen fehlendem sexuellen Selbstbewusstsein und meiner Bukowski-Performance für mich auch sein mochte, die meisten Menschen interessieren sich viel mehr dafür, was andere über sie denken, solange sie eine Schublade haben, in die sie eine Person stecken können. Hochstapelei ist wirklich keine Kunst, zumindest auf diesem Niveau. Spätestens wenn der Türsteher des Lieblingsclubs zum Dreier gratuliert, wird das zum Selbstläufer.
Natürlich war es ein schönes Gefühl, als ich im Netz auf Foren sogenannter Absoluter Beginner, englisch Involuntary Celibates (InCel), stieß – Menschen ohne oder mit nur geringer Beziehungs- und Sexualerfahrung, deren Probleme ähnliche Symptome hatten, und deren Symptome zu ähnlichen Problemen wurden. Ich war nicht mehr der einzige Fremde. Aber wirklich zugehörig fühlte ich mich auch dort nicht. Zu vielfältig waren die Biographien.
Die Betroffenen haben an irgendeiner Stelle im Leben eine Kurve nicht genommen haben, die die allermeisten anderen nehmen konnten.
Ich glaube daher auch nicht, dass es möglich ist, eine allgemeine Theorie darüber aufzustellen, was ungewollte Sexlosigkeit für diejenigen bedeutet, die lange ungewollt sexlos bleiben – vielleicht mit Ausnahme der Feststellung, dass sie meist sehr schmerzhaft ist und der Umgang damit kompliziert. Und der Erkenntnis, dass die Betroffenen zufällig oder aus sehr individuellen Gründen an irgendeiner Stelle im Leben eine Kurve nicht genommen haben, die die allermeisten anderen nehmen konnten.
Der Rest bleibt diffus: Dass Elliot Rodger 2014 zum Amokläufer wurde, hat vermutlich auch mit den Gründen zu tun, aus denen er ein InCel war. Dagegen wäre es absurd zu behaupten, dass ungewollte Sexlosigkeit allein Amokläufer erzeugt.
Die Kurve, aus der ich geflogen bin, lag im Schlafzimmer meiner ersten Freundin. Sie war achtzehn, zwei Jahre älter als ich. Mein Schulhoftraum. Die Frau, die meine Synapsen schon mit einer Stunde Händchenhalten und einem schüchternen Kuss vor der Eisdiele zum Durchglühen gebracht hatte. So viel Glück lag in ihrer Berührung, das war kaum auszuhalten.
Ich hatte mein Grundmuster gefunden: Ich war der Typ, der weglief, wenn es ernst wurde.
Aber als sie vor mir auf ihrem Bett lag und darauf wartete, dass ich mich zu ihr lege, bekam ich Panik und verabschiedete mich. Nicht nur von ihr – unsere Beziehung erholte sich davon nicht mehr – sondern für die nächsten sechzehn Jahre auch von Sexualität an sich. Ich hatte mein Grundmuster gefunden: Ich war der Typ, der weglief, wenn es ernst wurde.
Die Gründe, aus denen ich mich nicht einfach schütteln und zurück zum Kaffeeautomaten gehen konnte, wie mein Freund in der Unibibliothek, sind kompliziert und haben zu tun mit meiner Erziehung und meiner leicht zwanghaften Psyche. Solche Gründe zu haben ist allerdings ein zweischneidiges Schwert: gerade weil sie erklären, werfen sie auch die mit der Zeit bedeutender werdende Frage auf, ob es auch hätte anders laufen können. Ob ich zufällig aus der Kurve geflogen war, oder ob ich aus der Kurve fliegen musste.
Hätte, hätte, Fahrradkette. Eine Antwort darauf konnte es nicht geben. Aber abstellen konnte ich die Frage nie. Denn schon als noch mindestens die Hälfte meines Jahrgangs an einem katholischen Gymnasium noch keinen Sex gehabt hatte, erklärte ich einem Freund, dass ich in meiner Sexlosigkeit eine gewisse Zwangsläufigkeit sah.
Mit der Zeit wurden so aus Symptomen Ursachen und Glaubenssätze über das Selbst. Das war das Perfide an der ungewollten Abstinenz. Sie hatte sich in meine Identität eingeschmuggelt. Ich verabscheute mein Stockholm-Selbst, aber es war doch ein Teil von mir, einer der mir vorgaukelte, dass ich so auch etwas Besonderes sei.
Sex wurde zu einem mystischen, immer größeren Ding in meinem Kopf, das ich mit enormen Erwartungen auflud.
Gleichzeitig wurde Sex zu einem mystischen, immer größeren Ding in meinem Kopf, das ich mit enormen Erwartungen auflud; von dem ich mir Befreiung erhoffte, obwohl ich natürlich wusste, dass er diese Erwartungen nie würde erfüllen können. Und dass das Aufladen einen emotionalen Kater verursachen musste. Das machte es mir sehr schwer, Lösungen ins Auge zu fassen, die keine überromantisierte Vorstellung von „Liebe auf den ersten Blick“ beinhalteten – die mich aber vermutlich genauso überfordert hätten wie mit sechzehn. Und aufgrund meines Grundmusters auch selten zum zweiten Blick.
Natürlich wurde auch der physische Leidensdruck immer größer. Nicht so sehr der rein physiologische Druck, den zu beseitigen ich gelernt hatte, sondern der Mangel an Körperkontakt. Wie wichtig Berührungen für Körper und Seele sind wird klar, wenn sie ausbleiben. Sexuelle Berührungen, natürlich, aber nicht nur sexuelle Berührungen: im Extremfall half auch mal ein High-Five unter Jungs beim Sport.
Aber für mich waren vor allem Berührungen von Frauen bedeutsam. Vielleicht mitunter lebenswichtig. Es gab durchaus Zeiten, in denen mich schon eine Umarmung am Ende eines Abends unter Freunden eine Woche lang aufatmen ließ.
Gerade weil ich keinen Sex hatte, wurde es mir besonders wichtig, als männlich wahrgenommen zu werden.
Auch wenn die Vermutung naheliegt, dass intensive abstrakte Beschäftigung mit Sexualität zu einem entspannten Verhältnis zu Geschlechterrollen geführt hat, das mir beim Umgang mit meiner Situation hilft – ich war nur im Verhältnis zur Sexualität anderer entspannt. In Bezug auf mich selbst war das Gegenteil der Fall.
Gerade weil ich keinen Sex hatte, wurde es mir besonders wichtig, als männlich wahrgenommen zu werden. Was natürlich auf der anderen Seite die Suche nach potenziellen Partnerinnen erschwerte, die keine besonderen Erwartungen an Männlichkeit und männliche Skripte hatten, die ich gut spielte, ohne aber liefern zu können, wenn es darauf ankam.
Besonders verwirrend für den virtuellen Bukowski und auch mich selbst waren immer wieder Momente, in denen gute Freundinnen Dinge sagten wie „ich brauche endlich mal wieder einen Kerl“ und ich mich sofort angegriffen und unsichtbar fühlte, selbst dann, wenn ich eigentlich ja gar keinen Sex mit dieser guten Freundin wollte. Es war furchtbar albern, in solchen Situationen diese Frage zu stellen, aber ich stellte sie trotzdem: War ich denn kein Kerl?
Vermutlich ist das eben doch die Frage, um die sich in meinem Kopf fast alles drehte. Und dreht. Denn auch nachdem ich mit 32 endlich wieder sexuell aktiv wurde, und auch nachdem ich schließlich mit fast vierzig tatsächlich Sex hatte, das Gefühl ist geblieben: I don’t belong here.
Theresa Lachner ist Autorin, Speakerin und Gründerin des größten deutschsprachigen Sexblogs www.lvstprinzip.de. In ihrem ersten Ebook Kommen mit Stil erforscht sie das Paarungsverhalten unter Pornografieeinfluss und weiß natürlich auch, wie´s besser geht. Theresa steht auf Pragmatismus, Crémant und Mittagsschläfchen und selbstironische Männer mit Bart.
Headerfoto: 火火 馬 via Creative-Commons-Lizenz 2.0! (Sexy-Times-Button hinzugefügt.) Danke dafür.
Verdammt, mir ging es lange genauso… und ich fühle mich bis heute noch wie ein Liebes-Außerirdischer und muss mir den Weg in ein „normales“ Liebesleben geradezu erkämpfen. Whatever, danke für den Artikel, der zeigt, dass es Menschen wie uns gibt! Super wenn darüber geschrieben und das Problem dadurch etwas enttabuisiert wird.
sehr begehren
sehr unsicher
sehr selbstbeherrscht
so viele reizende Frauen
nur Enttäuschungen
mein Teufelskreis
von Unsicherheit und Enttäuschung
ich drehe mich um
meine Sehnsucht nach erster Partnerschaft
und bekomme sie dadurch nicht
mich packen auch Sozialarbeit oder Gott
doch Frauen sind die stärksten Magnete für mich
Partnerschaft:
sich in die Augen strahlen
sich wegen den vergessenen Tomaten fetzen
streicheln, ficken, küssen
wer bügelt?
Reihenhaus, Neubau oder Campingwagen?
Ist doch ok, wenn de nicht kannst oder willst oder die Umstände doof waren. Ist doch deine Sache.
Mach dein Ding Monk, allein oder mit den Ladies oder sonst wem. Who gives a fuck,
… außer dir selbst?
Das is‘ aber genau das Problem: es is‘ NICHT sein Ding. Das ist ja nicht ausgesucht!
Liebe Redaktion, finde es toll, dass ihr dieser Herausforderung, mit der ich mich auch trage, einen Raum gebt! Danke!