Haltet mich jetzt nicht für eine dieser typischen VICE-Hipsteretten, aber ich habe Tinder deinstalliert. Schockierend, ich weiß. Denn welche Großstadt-Singlefrau könnte sich ohne diese App auch nur ansatzweise im Dschungel der verfügbaren Sexualpartner zurechtfinden? Ich wage es mal, meine Hand zu heben. Seit ich Tinder gelöscht habe, habe ich nicht unbedingt weniger Sex als davor und ja, das wundert mich auch etwas. Wovon ich allerdings weniger habe, sind langatmige, ins Nichts führende Konversationen und sich endlos hinziehende Reihen von austauschbaren „Dates“, bei denen beide wissen, dass sie in der Kiste enden werden.
Meine Mutter freute sich sehr (und ich meine „Was, wirklich? Oh super, endlich!“-ausrufend sehr), als ich ihr die gute Nachricht unterbreitete. Ja, meine Mutter weiß, dass ich Tinder hatte. Manchmal schickte ich ihr auch Matches und sie bewertete sie nach Sympathie. Aber das Konzept behagte ihr trotzdem nie wirklich. Als ich diesen Artikel schrieb, fragte sie mich am Telefon entsetzt, ob ich denn jetzt auch bei „dieser Bums-App“ sei. Ihrer Meinung nach konnte man doch einfach jemanden beim Feiern abschleppen und dann nie wieder sehen, wenn man dringend unverbindlichen Sex wollte. (Und ja, sie leitete diesen Gedankengang mit „Also, als ich jung war…“ ein.)
Ich muss wieder einmal einsehen: Mutti hatte recht. Eine Sache, die mich zu 180°ich inspiriert hat, waren die seltsamen „Zwischendrin-Beziehungen“, die sich fast immer aus Tinder-Matches ergaben. #overit. Nicht aufgrund einer Früher-war-alles-besser-
Ich habe ja schon im letzten 180°ich-Post von meiner neuen „Brutale Ehrlichkeit“-Herangehensweise erzählt und ja, sie funktioniert sehr gut. Auch, weil ich mittlerweile viel ehrlicher mit mir selbst bin, auch wenn das fast noch schwerer ist, als ehrlich zu anderen zu sein. Finde ich jemanden gerade nur gut, weil ich ein Konzept, in das diese Person passen könnte, gut finde? Finde ich jemanden körperlich anziehend, bin aber von seiner sonstigen Art nicht unfassbar angetan? Weiß ich, dass viele Dinge an einer Person mich absolut in den Wahnsinn treiben, sie ist aber gerade verfügbar? Alles kein Problem, solange ich mir dessen bewusst bin. Bewahrt mich davor, mich in irgendwelchen halbgaren Dinge zu verrennen und mich und meine Gefühle am Ende selbst nicht mehr zu verstehen.
Ich dachte mal, man müsste Emotionen abschalten können. Pustekuchen, kann man nicht, man kann aber sehr wohl versuchen, sie zu verstehen und entsprechend zu handeln. Und weil mein Mitbewohner fantastisch ist, hatte er natürlich den perfekten Plan in der Hinterhand, um sich noch ein bisschen mehr mit Emotionen auseinanderzusetzen. Er schlug vor, ins Kino zu gehen. Nicht in einen schnulzigen Liebesfilm oder großes philosophisches Kunstkino, nein, in „Alles steht Kopf“, den neuen Pixar-Film. Unsere WG ist auch sonst sehr erwachsen.
Wir kauften uns also jeder eine Karte für die Spätvorstellung (Jetzt mal wirklich, warum läuft ein Kinderfilm um zehn Uhr abends? Das ist schon etwas seltsam.) und schauten zwei Stunden lang dabei zu, wie kleine bunte Figürchen in einer bunten Welt bunte Kügelchen schubsten. Nur dass die Figürchen Gefühle, die Welt ein Gehirn und die Kügelchen Erinnerungen waren. Und ob ihr es glaubt oder nicht: Der Film war fantastisch und die Message genau das Richtige für den #overitoctober. Schaut ihn euch an und lasst uns damit zu weiteren Dingen, die meinen Oktober begleitet haben, kommen:
Ich werde das jetzt nicht beschönigen, aber als ich den folgenden Instagram-Post in meinem Feed entdeckte, war mein erster Gedanke: „Geil, das kann man per Widget in den #overitoctober-Post einfügen!“ Manchmal hasse ich mich auch ein bisschen für meine Passion zu Online-Dingen. Nichtsdestotrotz: Ich liebe Rupi Kaurs Lyrik und dieses spezielle Gedicht drückt so viel aus, was ich mir im Verlauf dieser Serie immer wieder selbst sage. Es gibt einige solcher Perlen auf ihrem Instagram-Account, und wenn es nicht aufgrund eines Lieferfehlers bei Amazon gerade knapp 1300 Euro kosten würde, würde ich euch auch ihr Buch „milk and honey“ hier verlinken. (Ja, ich weiß, Amazon ist der Teufel, aber auch meine lokale Buchhandlung konnte es nicht bestellen. Die Welt ist hart und ungerecht.) Zwei Bücher, die ich euch tatsächlich empfehlen und verlinken kann, sind aber die folgenden: Morgen ist es vorbei von Kathrin Weßling und High Fidelity von Nick Hornby.
Beide im Oktober gelesen, beides fantastische Bücher. Ersteres dürfte insbesondere etwas für alle sein, die gerade an akutem Broken-Heart-Syndrome leiden und ein bisschen emotionalen Beistand brauchen. Letzteres ist nüchtern und schwarzhumorig und manchmal absurd, aber dadurch sehr, sehr glaubwürdig. Es geht in beiden um verlorene Liebe, um verspielte Möglichkeiten und darum, wie man damit umgeht. Na, bemerken wir einen roten Faden?
Ich habe diesen Monat versucht, einen idiotensicheren Weg zu finden, mit kaputten oder ungesunden zwischenmenschlichen Beziehungen umzugehen. Ich habe Bücher gelesen, Artikel, Videos und Filme gesehen und mit meinem Mitbewohner bei Tee beraten. Habe ich nun also die ultimative #overit-Formel? Habe ich nicht. Ich kann niemandem sagen, was genau er oder sie tun sollte, und ein hundertprozentiges Ergebnis versprechen. Ich kann nur aufzählen, welche Strategien ich für mich selbst entwickelt habe.
1. Ehrlich sein. Zu anderen und zu sich selbst. Wissen, was man will und das auch zu sagen, kann so wunderbar hilfreich sein. Und wenn man das nicht weiß, hilft offen und ehrlich damit umgehen und mal ganz in Ruhe in sich hineinhorchen. Mal Distanz nehmen und einfach, ihr habt es erraten, ehrlich sein mit sich.
2. Chancen geben. Von Grund auf verteufeln ist auch bescheuert. Nur, weil jemand nicht mehr eure Lingerie begutachtet oder ihr euch den Netflix-Account teilt, ist diese Person nicht zwangsläufig ein schlechter Mensch. Manche Menschen funktionieren zum Beispiel auf beruflicher Basis ganz fantastisch zusammen, aber nicht als romantisches Paar. Und das ist okay. Das ist nützlich und kann neue Dimensionen bieten. Wenn mein Exfreund mich also fragt, ob ich ihm bei der Formulierung eines Textes helfen oder einen Kontakt verschaffen kann – why the hell not?
3. Loslassen. An manchen Freund-/Liebschaften ist im Nachhinein einfach kein gutes Haar zu finden. Und wenn es mit einem geistigen Abschluss nicht getan ist, gibt es ja zum Glück bei den allermeisten Wegen digitaler Kommunikation die „Blockieren“-Funktion. Klingt zuerst einmal nach ziemlich kindischer Problemlösung, aber wenn jemand den Kontakt zu euch nur sucht, um euch mit seiner oder ihrer Negativität zu bewerfen, statt einen konstruktiven Austausch zu suchen – warum sich das antun? Manchmal ist es klüger, zu sagen: „Leb‘ dein Leben so, wie du es möchtest, aber halt‘ das bitte aus meinem Leben raus.“ Und das geht – um kurz in Werbe-Sprech auszubrechen – jetzt ganz einfach und mit nur einem Klick!
Ob ich jetzt über alles, was in meinen persönlichen Beziehungen und Freundschaften je schief lief, zu hundert Prozent hinweg bin und nie wieder daran denken werde? Haha, nein. Ich glaube auch nicht, dass dieser Punkt jemals gekommen sein wird, denn solche Erfahrungen sind ein elementarer Bestandteil von Sozialisation. Im Klartext: Sie machen uns zu dem, was wir sind. Und das zu akzeptieren, nicht mehr mit Wut, sondern mit Nachsicht und dem Wissen um den Wert einer Erfahrung darauf zurückzublicken, ist glaube ich ein ganz guter Weg. Und den versuche ich nun zu gehen.
In diesem Sinne: Mehr Konfetti, mehr Ehrlichkeit, mehr Liebe.
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Headerfoto: Mert Ekinci!