Nach der Esssucht: Wie ich den Mut fand, mit meinem Körper okay zu sein

An verschiedenen Stellen in meinem Leben kam ich an den Punkt, mich zu fragen, wann das alles anfing: Das Problem mit dem Dicksein. Jedes Lebenssiebtel hatte ich eine andere Erklärung dafür. Ich schob es auf die Hänseleien meiner Mitschüler in der fünften Klasse, die mich in einem Kreislauf aus Frustfressen und Trotz immer dicker werden ließen.

Später dachte ich, die Pille sei schuld, sie hätte mich aufrunden lassen wie ein Walross. Dann waren es die Umstände, meine Eltern, meine Partner oder die Medien- und Lebensmittelindustrie.

Schon lange gab es das Problem mit dem Dicksein

Schön war es nicht, so zu leben. Mit 16 bereits Kleidergröße 44, damit konnte ich bei H&M schon mal keine Hose kriegen. Wenn ich in der Omabekleidungsecke der großen Kaufhäuser nichts fand, zwängte ich mich in immer leicht zu kleine XL’s, die immer irgendwo kniffen.

Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, erinnere ich mich hauptsächlich an die Ausflüchte, die ständig gefunden werden mussten: Wie schaffe ich es, nicht in den Sportunterricht zu müssen, wie kriege ich es hin, dass die Leute nicht merken, dass mich ihre Hänseleien verletzen und was für eine Ausrede kriegt Patricia von mir zu hören, dass ich nicht auf die nächste Party mitkomme (weil ich mich schäme, neben ihrem Astralkörper mit ihr zu tanzen).

Jahrelang habe ich mich nicht selbst lieben können, im Glauben daran, dass das Problem mein mangelndes Äußeres war.

Kurzum, eine Kleinigkeit wie das Dicksein, hat meine Freiheit und Freude übermäßig beschränkt. Viel zu viel, viel zu lang.

Jahrelang habe ich mich nicht selbst lieben können, im Glauben daran, dass das Problem mein mangelndes Äußeres war. Ich versuchte, mich damit abzufinden, immer und überall die Hässlichste zu sein und rettete mich zeitweilig mit dem Mantra „Wahre Schönheit kommt von Innen“. Versuchte, einfach lieb und cool zu sein.

Niemals glaubte ich meinem Vater, Partnern oder Freundinnen, wenn sie mir Komplimente darüber machten, wie schön ich bin und immer war ich einfach nur dankbar darüber, dass sie überhaupt mit mir zu tun haben wollten. Das Schönsein war für mich eine Eigenschaft, die in meinem Kopf nie auf mich hätte zutreffen können.

Nicht die mangelnde Schönheit war das Problem, sondern eine Sucht

Was immer ich mit Diäten versuchte, die Resultate machten mich immer unglücklicher und griffen stark meine mentale Gesundheit an. Ich habe einfach nicht sehen wollen, dass der Ursprung meiner düsteren Gefühle, Ängste und Sorgen nicht meine mangelnde Schönheit, sondern einfach die tückischen Mechanismen einer Esssucht waren.

Wie in den meisten Schlüsselmomenten meines Lebens war es wieder eine starke Frau, die es schaffte, mich in ein besseres Leben zu empowern.

Jane, eine Freundin von mir, die ich in einer finanziellen Krise mal ein paar Wochen bei mir hatte wohnen lassen, krallte sich im Green Park in London an ihrem kaltgewordenen Espresso fest und nahm ihre Sonnenbrille ab. Mit nervöser Stimme und glasigen Augen erzählte sie mir, dass sie unter einer schlimmen Sucht litt, sich dessen endlich bewusst geworden war und in einem 12 Schritte Programm arbeitete, um sich endlich selbst zu heilen.

Dazu gehöre unter Anderem, dass sie aufschrieb, wie sie andere Menschen mit ihrer Sucht zu Unrecht behandelt hatte. Sie wollte sich für Vieles bei mir entschuldigen, um ihre innere Inventur abzuschließen und zum nächsten Schritt gehen zu können.

Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie unfassbar stark sie mir vorkam, obwohl sie wie ein kleines Häufchen Elend mit mir auf einer Picknickdecke saß und herzzerreißend in meine Arme schluchzte.

Ich weinte über ihre Offenheit und Liebe und war gleichzeitig gerührt davon, dass ich auf einmal meine eigene Sucht erkannte – dass da jemand dieses Etwas in Worte fasste, das sich für meine eigenen Unzulänglichkeiten so plausibel und echt anfühlte.

Sie offenbarte mir, wie die Sucht ihr Denken und ihre Aktionen im Leben bestimmten. Wie sie damit Leute manipulierte, sich heimlich versteckte und konsumierte und sich später selbst einredete, es wäre nie passiert. Und ich hörte wahnsinnig gebannt zu, bis ich weinte. Ich weinte über ihre Offenheit und Liebe und war gleichzeitig gerührt davon, dass ich auf einmal meine eigene Sucht erkannte – dass da jemand dieses Etwas in Worte fasste, das sich für meine eigenen Unzulänglichkeiten so plausibel und echt anfühlte.

An diesem Tag schenkte sie mir damit eine Erkenntnis, die mir für mein zukünftiges Leben nachhaltig Souveränität und Kontrolle verleihen würde. Jetzt, wo mein Problem einen Namen hatte, gab es etwas, das ich dagegen tun konnte.

Ich fand online eine anonyme Selbsthilfegruppe, die offen war für Menschen mit Essstörungen aller Art: sowohl Magersüchtige als auch Überesser oder Menschen, die aus Zwangsstörungen heraus nur bestimmte Dinge essen konnten. Ich erinnere mich noch gut, wie ich nach der zweiten Sitzung zwei ganze Tage lang in meiner kleinen Einzimmerwohnung in Berlin Kreuzberg hockte und eine Revolution in meinem Kopf beweinte.

Weinte darüber, wie viele meine düsteren Depressionen und Angstzustände der letzten Jahre auf einmal in dasselbe Körbchen zu fassen und nachvollziehbar waren – die Erfahrung, andere Menschen über diese Sache reden zu sehen, machte das Problem für mich sicht- und fühlbar.

Es war wie als würde ich in einem Raum mit Spiegeln sitzen, um zum ersten Mal jeden Winkel von mir betrachten zu können, wertefrei, verständnisvoll, mit liebevollem Blick.

Bewusstwerdung der eigenen tückischen Mechanismen der Esssucht

Mir wurde bewusst, dass ich öfters Einladungen zum Dinner ausschlug, weil ich Angst hatte, im Restaurant nicht satt zu werden. Ich vermied, mit Dates gemeinsam zu essen, weil ich immer vermutete, mein Gegenüber würde mich beobachten. Würde ich einen Salat bestellen, würden alle am Tisch denken, dass ich armes Ding den kläglichen Versuch, abzunehmen eh nicht schaffen würde und würde ich mich für die Pizza mit Büffelmozzarella entscheiden, würde jeder denken, dass ich es lieber lassen sollte, alles aufzuessen, weil ich es mir bei meiner Figur wirklich nicht hätte leisten könne.

Bevor ich mit Freunden verabredet war, kochte ich mir große Portionen Nudeln und stopfte mich damit voll, damit mein Magen nicht anfangen würde, zu brummen und jeder denken würde „Die Dicke hat schon wieder Hunger“. Wenn ich morgens aufstand, dominierten Gedanken über meinen Speiseplan den halben Vormittag: Was würde ich heute essen, wo müsste ich dafür einkaufen?

Mir über meine Essensproblematik bewusst zu werden und sie zu akzeptieren war einfacher als alle Diäten dieser Welt.

Damals hätte ich mir nie träumen lassen, die Frau zu werden, die ich heute bin. Ich bin jetzt Anfang 30, habe immer noch Übergewicht, aber egal wie viel es ist, ich bin damit immer schön.

Mir über meine Essensproblematik bewusst zu werden und sie zu akzeptieren war einfacher als alle Diäten dieser Welt. Die giftgrüne Brille hatte nun einen plausiblen, prominenten Namen, und ich konnte lernen, sie einfach abzusetzen und zu sehen, wieviel Freude, Mut und Leben dahinter ist.

Wir sind nun während der Corona Krise in einer Bubble gefangen, die wir fast nur mit uns selbst ausfüllen – und das ist eine große Chance. Nutz die Home Yoga Stunden und Online Bildungsangebote und Kulturstreamings – aber es ist auch vollkommen in Ordnung, wenn du dich in deiner Freizeit zuhause den dunklen Seiten und Gefühlen in dir widmest – die Unsicherheiten bemerkst, der Wut Raum gibst, die Selbstzweifel benennst – wenn du nur darüber sprichst.

Wie die Calls mit deinen fernsten Freunden die Quarantäne zum Mental Health Bootcamp machen können

Ruf eine alte Freundin an und erzähl ihr, wie schlecht deine Karriere läuft – wie unfair du mit deinem Partner umgehst oder wie unbefriedigend der Sex ist, den du hast. Mit Ehrlichkeit damit umzugehen und es laut auszusprechen kann wahnsinnig empowering für beide Seiten eines Gesprächs sein, denn so unterschiedlich sind wir eigentlich alle gar nicht – und je nachdem, auf wen du triffst, wirst du vielleicht eine*n Held*in, Supporter*in, Lehrer*in oder Kompliz*e*in finden, die du vorher so noch nicht kanntest.

Und egal, was dich bedrückt, du wirst überrascht sein, wie viele Selbsthilfegruppen es in deiner Stadt gibt, wie viele Leute ähnliche Probleme haben, wie viele Möglichkeiten du hast, das in die Hand zunehmen und wie sehr sich Leute freuen, wenn sie dir helfen können.

Ehrlichkeit kann empowering pur sein

Gerade auch in dieser Zeit muss man nicht OK sein, sondern kann sich die Zeit und den Raum nehmen sein eigenes kleines ‚Monster‘ kennenzulernen und zu akzeptieren. Meine vierjährige Tochter verschickt gerade Sprachnachrichten an ihren besten Freund, in denen sie ihm erzählt, was sie alles für „böse“ Sachen macht, wenn sie wütend ist.

Was sie kann, können wir doch auch, oder?

Anm. d. Red.: Wir finden es wichtig, einzelne Perspektiven von Betroffenen und die damit verbundenen Belastungen in der Corona-Pandemie zu zeigen. Wir sind alle auf unsere ganz persönliche Weise betroffen. Die meisten Maßnahmen sind aus unserer Sicht berechtigt und notwenig, um die Pandemie einzudämmen – auch wenn das Einhalten schwerfällt. Alle Artikel zum Thema Corona findest du hier.

Headerfoto: Tania Mourinho via Unsplash.  („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

FRIDA SCHWALBE hat nichts gelernt, aber viel erlebt. Was sie antreibt, sind ein wütender Feminismus, die Gier nach finanzieller Unabhängigkeit und der Kampf um die Liebe. Ihre Texte drehen sich rund um Toleranz und zwischenmenschliche Eskapaden. Ihr Herz gehört Berlin Kreuzberg, das sie am liebsten mit ihrer Vespa vollröhrt.

4 Comments

  • Ich habe gerade den geschriebenen Artikel sehr aufmerksam gelesen.
    Und habe mich sehr angesprochen gefühlt.
    Ich habe seit meiner Teenagerzeit Essanfälle und Depressionen.
    Nie verstanden was mit mir los ist. Konnte es nie in
    Worte fassen.

    Jetzt bin ich mittlerweile Mitte 30 und habe erst jetzt die erste Therapie hinter mir. Und durch die Corona Pandemie gerade das Gefühl nie wieder Sex zu bekommen. Geschweige den einen liebevollen Partner zu finden.

    Vielen Dank für deinen Mut und Offenheit.
    Und für aufmunternde Worte

    Julia

    • Liebe Julia,

      ich kann total gut nachempfinden, wie es dir geht. Corona zwingt und sehr in unsere intimsten Seelenräume. Wenn du dich austauschen magst, kannst du dich gern bei mir melden unter frida.schwalbe@gmail.com.

      du bist nicht allein und es ist absolut normal, wenn man mal eine längere periode hat, in der man sich scheisse fühlt. es ist schon super toll, dass du darüber sprechen kannst!

      Ganz lieb
      Frida

  • Ein echt toller und offener Beitrag. Vieles aus deiner Erzählung kenn ich auch bei mir (Magersucht) und bin sehr inspiriert von deinem Mut und deiner gefundenen Ja-Zum-Leben Mentalität.
    Liebe Grüße Micha

    • Lieber Micha,
      danke für deine lieben Worte. Ich finde es toll, dass immer mehr Leute offen damit umgehen, was sie bedrückt. Ich wünsche dir einen tollen Sommer <3
      Falls du dich austauschen willst, bin ich jederzeit unter fridaschwalbe@gmail.com erreichbar!
      Liebst, Frida

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